Vom Verschwinden der Bilder oder die Entdeckung der Hinterhöfe

Seite 2: Die Entdeckung der Hinterhöfe

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Im Flugzeug sieht man bekanntlich nichts, außer den Sitz des Vordermannes - und gelegentlich die grünbraune Fläche, die man durch das Fenster als Erdboden identifiziert. Wer mit dem Auto fährt, ist seinerseits an eine bestimmte Topografie gebunden: dem endlosen Band der Straße, das rechts und links von den Reklameflächen der notwendigen Reise-Infrastruktur, von "Gas, Food, Lodging" begleitet wird. Und auch bei der Fahrt durch Städte und Dörfer "erfährt" man vor allem die Vorderseite, die Fassaden des urbanen oder ländlichen Lebens.

Anders bei der Bahn. Ihr Charakter als vergessene und randständig existierende arme Stiefschwester der anderen Transportmittel bringt auch eine speziellen Charakter der Beziehung zur Topografie mit sich und damit auch eine andere Wahrnehmung und andere Bilder. Das meint, dass sich entlang der Bahntrassen vor allem der Blick auf die Hinterhöfe, auf das rückseitige Amerika, öffnet.

Und dann kommen die Alltagsbilder des amerikanischen Lebensstils in das Blickfeld. Die am Zaun entlang der Bahngeleise aufreihten Müllautos oder die Schulbusse. Die Hintereingänge von kleinen Metallbetrieben und der Trainingshof einer Hundeschule. Die fast kristallen anmutende Struktur der Autobahnverzweigungen und das darunter liegende Brachland. Kläranlagen! Unzählige Autowracks, die von Gras überwuchert werden. Auf der grünen Wiese flächendeckend ausgebreitete Metallteile, Platz ist ja genug da. Die Ansammlungen von Wohncontainern für die Arbeiter des "Fracking" in North Dakota. Die flackernde Ölflamme weit hinten in der Ebene. Die Arbeiter selbst.

Es sind all diese Dinge, von denen sie in den Filmen und den TV-Serien nichts erzählen. Es ist, als habe sich hier entlang der Bahngleise jene Melancholie angesiedelt, die ansonsten keinen Platz im nordamerikanischen Leben findet. Wo man sich in einem unbeobachteten Augenblick erholen kann von jenem strahlenden Optimismus, den jeder scheinbar auf den Lippen trägt.

Ich frage Taira, warum sie mit dem Zug fährt und nicht das Flugzeug nimmt. Die 27-Jährige hat in Ohio ihr Studium der Medienkunst abgeschlossen und hat ihren Freund als Ex-Freund zurückgelassen. Jetzt ist sie die paar Tausend Kilometer von Chicago nach Seattle unterwegs, in ein neues Leben, sie hofft auf einen Job. Die Fahrt dauert ein paar Tage. Die meiste Zeit sitzt sie im Panoramawagen und blickt still nach draußen. "Ich will mir die Zeit nehmen und nachdenken", sagt sie. "Und ich will mir dieses Land ansehen."