Vom Videospiel zum Schießsimulator

Videospiel-Produzenten werden zunehmend in der Rüstungsbranche tätig

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"Crytek" ist eines der erfolgreichsten Software-Unternehmen in Deutschland. 1999 von den drei türkischstämmigen Brüdern Faruk, Avni und Cevat Yerli in Coburg gegründet, beschäftigt das Unternehmen mit heutigem Sitz in Frankfurt am Main mittlerweile 600 Mitarbeiter rund um den Globus. Mit First-Person-Shootern wie "Far Cry" und "Crysis" erlangte Crytek weltweite Bekanntheit.

Vom Anfang 2011 erschienenen "Crysis 2" wurden über 3 Millionen Exemplare verkauft. Vor allem die von der Softwarefirma entwickelte Spiel-Engine - die visuelle, akustische sowie physikalische Darstellung im virtuellen Raum - wird sowohl bei Spielern als auch in der Fachwelt viel gelobt. Im vergangenen Dezember wurde Crytek der Deutsche Entwicklerpreis 2011 in der Kategorie "Gamestechnologie" verliehen. Der Preis wird vom NRW-Medienministerium und der Filmstiftung-Nordrhein Westfalen vergeben. Das ausgezeichnete CryEngine genannte Videospiel-Grundgerüst reicht nah an die Realität heran. Die Software ist so gut, dass sich nicht nur andere Videospiel-Hersteller dafür interessieren - auch das Militär gehört heute zum festen Crytek-Kundenstamm.

CryEngine 3

Viele Rüstungsunternehmen verwenden in ihren Trainingssimulatoren die Software aus Frankfurt: Dazu gehören etwa die US-Militärkonzerne Lockheed Martin und Intelligent Decisions, welcher zurzeit die US-Armee mit 102 mobilen Infanterie-Simulatoren ausstatten. Die Schlachtfelder im "Dismounted Soldier" genannten Trainingssimulator werden mithilfe der CryEngine entworfen. Das Projekt hat ein Budget von 57 Millionen US-Dollar und soll Kampfeinsätze mithilfe von Virtual-Reality-Helmen besonders realistisch machen.

Auch der deutsche Kriegsschiffbauer ThyssenKrupp Marine Systems nutzt die Software. Die ThyssenKrupp-Tochterfirma Blohm + Voss entwickelt aktuell das so genannte "Virtual Ship Training and Information System" (ViSTIS), ein Simulator zum Training von Schiffsbesatzungen: "In der virtuellen Simulationsumgebung lassen sich sowohl Routineaufgaben als auch Not- und Gefechtssituationen realistisch ausbilden, ohne Mensch oder Material zu gefährden", heißt es in einer Konzernbroschüre. Zudem könnten durch den Einsatz des Simulators Kosten gespart werden. Bei gleichzeitig hoher Qualität der Ausbildung: "Der hohe Realitätsgrad basiert auf einer realistischen Echtzeitvisualisierung mit Hilfe der CryEngine 3, einer der weltweit führenden 'Game Engines‘ des Computerspiele-Herstellers Crytek."

Auch in der Bundeswehr kommt die einstige Videospiel-Entwicklung zum Einsatz: Der französische Rüstungskonzern Thales entwickelt aktuell mithilfe der "CryEngine 3" einen neuen Schießsimulator für die deutsche Armee. Das unter der Bezeichnung SAGITTARIUS-Evolution laufende Rüstungsprojekt soll die Armee u.a. in die Lage versetzen, mit einfachen Geo-Daten Trainingsszenarien mit unmittelbarem Einsatzbezug erstellen zu können. Dazu werden Satellitenbilder einer bestimmten Region mit Höhendaten und Informationen über die Vegetation gepaart und ergeben nach abschließender Detailarbeit ein realitätsnahes Bild der gewünschten Region.

Durch [die] Kooperation der Firma Thales mit der Firma Crytek wurde vor kurzem eine Softwarebasis geschaffen, die als Quantensprung betitelt werden kann

Dies schrieb ein Bundeswehr-Oberstabsfeldwebel, der Experte für Schießsimulatoren ist, vor einigen Monaten begeistert in dem Wehrtechnik-Fachmagazin "Strategie & Technik". Ein für das Sagittarius-System zuständiger Thales-Mitarbeiter erklärte auf Anfrage, wie genau die Software zum Einsatz kommt:

Wir nutzen die Möglichkeiten der CryEngie soweit aus, dass wir die Grafik und Teile der Physik-Engine und der künstlichen Intelligenz nehmen und mit unserer eigenen Sagittarius-Software verändern.

Veränderungen würden etwa bei der Ballistik - die Flugbahn von Geschossen - vorgenommen und diese der Realität angepasst. Auch bei solchen Anpassungen arbeite man mit Crytek zusammen: "Das Unternehmen hilft, wenn unsere Veränderungen sehr tief ins System gehen." Die Entwicklung soll aber bald abgeschlossen werden: "In diesem Jahr bekommt die Bundeswehr die ersten Systeme", so der Thales-Mitarbeiter.

Training beim Heer

Auf lange Sicht sollen die 174 heutigen Bundeswehr-Schießsimulatoren AGSHP (Ausbildungsgerät Schießsimulator Handwaffen/Panzerabwehrhandwaffen) durch die Sagittarius Evolution-Trainingssysteme ersetzt und sogar noch zehn zusätzliche angeschafft werden. Dabei muss aber nicht nur die neue Software überspielt werden, sondern es müssen auch umfangreiche Hardware-Änderungen vorgenommen werden. Das Sagittarius-System benötige etwa große Projektoren, Projektionsflächen und muss mit der Waffensteuerungen und der Steuerung für verschiedene Ventile - etwa für den Rückstoß bei der Schussabgabe - gekoppelt werden. Soldaten könnten in dem Simulator sogar Westen tragen, die Treffer am Körper durch Stöße anzeigen würden. Zudem könnten, so der Thales-Mitarbeiter, Motion-Plattformen, die etwa unruhiges Fahrverhalten von Fahrzeugen simulieren in das System integriert werden. Für so genannt kombinierte Szenarien sollen die Simulatoren auch untereinander vernetzt sein:

Sie haben ein Fahrzeug etwa einen Bundeswehr-Geländewagen mit Fahrer, Beifahrer und MG-Schützen. Die Personen können zusammen in einem Raum sein, unser System ist aber auch modular. So können die Soldaten auch gemeinsam trainieren, wenn sie an verschiedenen Orten sind.

Ein wichtiger Punkt bei solchen Trainings sei die Auswertung, damit den einzelnen Soldaten gesagt werden könne, in welchen Bereichen sie noch Nachholbedarf haben und was sie noch trainieren müssen. Egal wo der nächste Auslandseinsatz ausgetragen wird, der neue Bundeswehr-Schießsimulator lässt sich einfach darauf programmieren.

Für eine Stellungnahme dazu war Crytek nicht zu erreichen. Und auch die Bundeswehr hält sich bedeckt: Bei einem Mitte Januar 2012 stattgefundenen Vortrag über "Erfahrungen mit Crytek im Simulatorbau" von Dr. Volker Isbert von Thales-Deutschland an der Universität der Bundeswehr in München waren Öffentlichkeit und Presse nicht zugelassen.

Bei der Zusammenarbeit mit dem Militär und der Rüstungsbranche ist Crytek aber kein Einzelfall. Hersteller anderer militärischer Videospiele sind heute sogar noch tiefer in der Rüstungsbranche tätig als das deutsche Software-Unternehmen. Am erstaunlichsten wird dies am Unternehmen "Bohemia Interacitve" aus Tschechien deutlich: "Bohemia Interactive Simulations ist ein weltweit führender Anbieter von Simulations-Technologien und integrierten Lösungen für die Ausbildung militärischer und ziviler Organisationen rund um den Globus", warb das Unternehmen im Frühjahr 2011 für seinen Auftritt auf der ITEC in Köln, der größten Messe für Militärsimulatoren in Europa. Auch auf der kommenden ITEC, die im Mai in London stattfinden wird, gehört Bohemia Interactive zu den Ausstellern.

Operation Flashpoint 2

Seit 2001 ist die Softwarefirma auch Rüstungsunternehmen. Damals veröffentlichten die Programmierer das kommerzielle Videospiel Operation Flashpoint. Das Militär fand an dem Spiel Gefallen, und Bohemia Interacitve entwickelte mit der Operation Flashpoint-Engine den Trainingssimulator "Virtual Battlespace 1". Später folgte der Virtual Battlespace 2 mit einer neueren Engine.

Die Trainingssoftware besteht wie beim Videospiel aus einer detaillierten, dreidimensionalen Umgebung und der Freiheit, mit einem Editor eigene Missionen programmieren zu können. So werden Soldaten etwa in die Umgebung von Afghanistan versetzt und lernen, Autos an einem Checkpoint anzuhalten. Dabei sitzen die trainierenden Soldaten oft nicht einfach nur vor einem Computer. Es werden sogar realgetreue Fahrzeuge ins Training implementiert. Die Soldaten sitzen dann wie gewohnt am Maschinengewehr ihres Militärfahrzeugs und um sie herum wird die Trainingssoftware auf Leinwände projiziert. "Etwa fünfzehn Armeen nutzen unsere Simulationssoftware heute und die Liste wächst ständig", erzählt Martin Vaňo, Senior Designer bei Bohemia Interactive, stolz. Vor allem NATO-Streiträfte würden das Programm nutzen.

Virtual Battlespace 1

Auch die Bundeswehr testet das "Virtual Battlespace 2"-Trainingssystem aktuell als mögliches System zur Soldatenausbildung: "Das Heer prüft derzeit die Eignung der Simulationssoftware für die Teamausbildung der Ausbildungsebenen Trupp, Gruppe und Zug. Zusätzlich ist eine Untersuchung der Eignung für die Einheitsebene mit Volltruppe vorgesehen", schreibt die Bundesregierung dazu.

Bisher wurden 150 Lizenzen des "Virtual Battlespace 2" vom Heer für 150.000 Euro beschafft. Das seit Anfang 2009 von der Armee getestete System "soll eine virtuelle realitätsnahe Einsatz- und Gefechtsumgebung bereitstellen, in der ab der Planung eines Einsatzes, über die Missionsvorbereitung, die Missionsdurchführung bis zur Missionsnachbereitung" alle Schritte beachtet werden. Der "Virtual Battlespace 2" soll vor allem von den luftbeweglichen Infanteriekräften des Heeres verwendet werden.

Virtual Battlespace 2

Für Bohemia Interactive lohnt sich die Zweigleisigkeit: 2009 machte das Unternehmen aus Prag mit Videospielen wie Armed Assault und ARMA 2 einen Umsatz von 6 Millionen Dollar, während die Rüstungssparte mit ihren Trainingssimulatoren sogar 7 Millionen Dollar umsetzen konnte. Als "Operation Flashpoint" 2001 erschien, hatte die tschechische Videospielschmiede gerade mal acht Mitarbeiter - heute arbeiten für die Bohemia Interacitve-Gruppe 140 Menschen rund um den Globus.

Armed Assault

Die Grenze zwischen der Software-Entwicklung für Videospieler und der für das Militär ist fließend. Aus ökonomischer Sicht ist es gewinnbringend, die Engines an das Militär zu verkaufen, dennoch machen sich die Software-Unternehmen damit zu Handlangern der Kriegspolitik. Mit ihren Trainingssimulatoren erleichtern Unternehmen wie Crytek und Bohemia Interactive es der Politik, die Bundeswehr noch schneller zum Einsatz zu bringen.

Darüber sollten sich die Software-Entwickler bewusst sein. Militäreinsätze als letztes Mittel der Politik, das war einmal. Und wenn jetzt noch die Soldaten innerhalb kürzester Zeit fit für den Kampf in einer weit entlegenen Region gemacht werden können, senkt das die Hemmschwelle militärischer Auslandseinsätze noch weiter.