Von Afghanistanpolitik zu sprechen ist ein Euphemismus
Warum machen wir die gleichen Fehler immer wieder? Fünf Thesen zum Scheitern des Westens am Hindukusch
Das Desaster einer zwanzigjährigen Afghanistanpolitik ist komplett. Der Westen steht vor dem Scherbenhaufen seiner Politik und die Zukunft Afghanistans, mit den Taliban an der Macht, ist ungewiss und unsicher. Das Land ist vollgepumpt mit den Waffen, die der chaotische Rückzug der Nato den Taliban überlässt.
Die Lage ist so komplex, dass es schwierig ist, überzeugende Antworten auf die vielen offen Fragen zu finden. Dennoch: hier der Versuch, mit einigen bewährten psychologischen Prinzipien und politikwissenschaftlichen Theoriekonzepten einen Überblick zu geben, zumindest darüber, warum so vieles schiefgelaufen ist. Das soll nicht besserwisserisch klingen, sondern – trotz pessimistischer Erwartungen – zu einer unvoreingenommenen Fehleranalyse beitragen.
Erstens: Warum wir nicht aufhören, immer die gleichen Fehler zu machen
Nicht ganz zu Unrecht werden in diesen Tagen der Katastrophe in Kabul die Bilder vom Abzug der USA 1975 aus Saigon gezeigt.
Die Geschichte wiederholt sich zwar nicht, wie Mark Twain, richtigerweise feststellte, aber die Ergebnisse ähneln sich oft. Als die USA 2001 in Reaktion auf den Terroranschlag in New York und Washington eine Koalition schmiedeten und in Afghanistan einmarschierten, um Al-Qaida zu vernichteten, taten sie dies, um ähnlich schrecklichen Terror zu verhindern. Dies ist auch zum Teil gelungen, denn Al-Qaida wurde weitgehend vernichtet.
Aber die Ziele wurden dann höhergesteckt. Man wollte aus Afghanistan, einer Gesellschaft, in der es keine legitime zentrale Macht gibt, die durch Stämme und Stammesfehden, durch dörfliche und religiöse Strukturen geprägt ist, eine demokratische Nation formen.
Dieser Ansatz ist gründlich misslungen, weil er von Beginn an unrealistisch war. Zwar hat man vieles erreicht, wie Frauenrechte, Bildung für Mädchen. Aber all dies war durch den der Gesellschaft übergestülpten Ansatz nicht nachhaltig.
Die Grundlage der Entwicklungszusammenarbeit, nämlich "local ownership", war für die militärische Intervention bestenfalls ein Lippenbekenntnis, wie der aktuelle abrupte Zusammenbruch der afghanischen Streitkräfte belegt.
Die Installation demokratischer Regierungen hatte man auch in Vietnam bezweckt, auch im Irak scheiterte der Versuch, eine Gesellschaft nach US-Vorbild aufzubauen und es ist höchst wahrscheinlich, dass der Einsatz in Mali ähnlich enden wird.
Aus der Psychologie wissen wir, dass man Fehler erkennen und verstehen soll, um sie nicht zu wiederholen. Wir wissen aber auch, dass man Fehler nicht ganz vermeiden kann, dass man sich auf die richtigen Ansätze konzentrieren sollte, um die Fehler zu korrigieren. Das aber ist leichter gesagt als getan, weil wir dazu neigen, aus Fehlern nicht zu lernen und uns die vorherigen Verhaltensweisen schönzureden.
Die zweite Erkenntnis: des Kaisers neue Kleider
In dem berühmten Märchen des dänischen Schriftstellers Hans Christian Andersen aus dem Jahr 1837 lässt sich der Kaiser von zwei Betrügern neue Kleider anfertigen. Die Kleider seien sehr ungewöhnlich und könnten nur von denen gesehen werden, die nicht dumm sind. Weder will der Kaiser noch wollen die Menschen zugeben, dass sie die Kleider überhaupt nicht sehen. Bekanntlich fliegt der Schwindel dann auf.
Der Krieg in Afghanistan war eigentlich kein Krieg, so die offizielle Version. Zunächst betrieb die Bundeswehr eigentlich Entwicklungshilfe, zumindest wurde dies für die Öffentlichkeit bei uns so dargestellt, dann wurde daraus ein Stabilisierungseinsatz und die sogenannten "Fortschrittsberichte" verkündeten dann auch Fortschritte.
Die kritischen Stimmen (der kleine Junge, der den Kaiser ohne Kleider sah und dies laut ausrief), die wollte man nicht hören. Noch mehr Geld, mehr Material, mehr Soldaten und Entwicklungshelfer sollten das einmal gewählte Konzept durchsetzen.
Die dritte Erkenntnis und der Hauptmann von Köpenick
Vielleicht passt aber auch die Erzählung des Hauptmanns von Köpenick gut zu der Afghanistanpolitik, um die Leichtgläubigkeit und Blauäugigkeit zu beschreiben, mit der die offizielle Politik den Kriegseinsatz über Jahre schönredete.
Man muss als Hochstapler offensichtlich nur selbstbewusst auftreten. Welche Werte verteidigte denn die westliche Allianz am Hindukusch? Wer fragt heute nach den Kriegsverbrechen, die von Nato Truppen verübt wurden? Stichwort: Luftschläge mit erheblichen zivilen Verlusten, Tötung unliebsamer Personen mittels Drohnen, Behandlung von Gefangenen in illegalen CIA Gefängnissen. Das US-Gefangenenlager auf Guantánamo existiert noch immer.
Und jetzt der Verrat an den sogenannten Ortskräften. Etwas mehr Bescheidenheit und weniger moralische Empörung über die Untaten der Kriegsgegner wäre schon angebracht, auch die Einhaltung des humanitären Völkerrechts. Das massive westliche Engagement hat wenig zur Demokratisierung Afghanistans beigetragen, aber die dortige Korruption enorm gefördert.
Viertens: die "Schwarze Schwan"-Theorie von Nassim Nicholas Taleb
Die großen Krisen der letzten Monate, die Pandemie, die Flutkatastrophe und jetzt das Scheitern der Afghanistanpolitik haben ihre überraschende und systematische Art und Weise demonstriert.
Die "schwarze Schwan"-Theorie aus dem Jahr 2007 besagt, dass die Menschen in der westlichen Welt glaubten, alle Schwäne seien weiß, weil man nie einen schwarzen Schwan gesehen hatte.
Ein schwarzes-Schwan-Ereignis erlebt man, wenn es unverhofft kommt, auf das man nicht vorbereitet ist, das Chaos verbreitet. Dies konnte man in den letzten Tagen auf allen Kanälen sehen und in allen Zeitungen lesen.
Es geht über alle Erwartungen hinaus, die Auswirkungen hat man nicht auf dem Schirm gehabt, die Reaktionen darauf beruhen auf Hektik und Panik. In keinem Szenario hatte man das Ausmaß der Katastrophe vorhergesehen.
Taleb geht von einem dreifachen Missverständnis aus: der Illusion, die gegenwärtigen Ereignisse zu verstehen, die retrospektive Verzerrung mit Überbewertung vorhandener Sachinformationen sowie der Existenz einer intellektuellen Elite. Die Wahrnehmung ist abhängig vom Beobachter, die notwendigerweise subjektiv, aber Grundlage für Entscheidungen - in diesem Falle - fatale Entscheidungen ist.
Fünftens: Die Silomentalität der meisten Organisationen und Institutionen
Der Begriff "Afghanistanpolitik" ist eigentlich ein Euphemismus. Es war nie eine Politik aus einem Guss.
Ob es zu Beginn des Einsatzes das Konzept der "Lead Nations" war, bei der die beteiligten Regierungen der Militärkoalition für jeweils unterschiedliche Felder der Politik (Entwicklung, Wirtschaft, Polizei, Militär, Bildung etc.) verantwortlich sein sollten oder heute die verschiedenen Ministerien: Auswärtiges Amt, Verteidigungsministerium, Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit und Innenministerium.
Bis zum bitteren Ende, dem katastrophalen Umgang mit den sogenannten Ortskräften, gab es keine einheitliche Politik.
Die zuständigen Beamten und Mitarbeiter der Ministerien und ihrer nachgeordneten Behörden waren in ihrem jeweiligen Silo verhaftet, wo sie für bestimmte einzelne Aspekte verantwortlich waren, nicht aber für eine einheitliche und überzeugende Politik.
Koordinierungsgespräche und Arbeitskreise erlebten externe Beobachter häufig als interministerielle Grabenkämpfe und Gezänk, in denen sich die Silomentalität äußerte. Jedes Ministerium möchte am liebsten die Federführung haben, wenn es aber um Verantwortung für Pannen ging, gab man den schwarzen Peter gerne weiter.
Dies ist keine Besonderheit deutscher Politik, sondern ein Charakteristikum, das man in fast allen großen Verwaltungen, beispielsweise auch hervorragend bei den Vereinten Nationen studieren kann.
Das Endergebnis ist durchorganisierte Verantwortungslosigkeit. Und die dann in einer Katastrophe immer wieder zu hörenden Beteuerungen: "ich übernehme dafür die politische Verantwortung" und "wir versprechen umgehende und unbürokratische Hilfe" bleiben oft ohne Konsequenzen.
Und damit sind wir wieder beim Ausgangspunkt: Warum wir nicht aufhören, immer wieder die gleichen Fehler zu machen!
Professor Dr. Herbert Wulf ist Friedensforscher; er war Direktor des Internationalen Konversionszentrums Bonn. Bereits 2010 gab er (zusammen mit Johannes M. Becker) ein Buch im Lit. Verlag heraus, das den Titel trug Ein Krieg in der Sackgasse.
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