Von Meinungsfreiheit zu Klassenherrschaft: Warum öffentliche Meinung oft Privatbesitz ist
Seite 2: Irrtümer der Cancel-Bezweifler
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So wird von Cancel-Bezweiflern immer wieder die Ansicht geäußert, Leute behaupteten lediglich, "man dürfe nichts mehr sagen", obwohl diese währenddessen in der Öffentlichkeit, etwa einem Artikel oder einem Interview, sehr wohl alles sagen dürfen, was ihnen auf der Seele brenne. Aber diese Ansicht sitzt gleich mehreren Irrtümern auf:
- Erstens ist mit dem bloßen Bekunden darüber, man dürfe "nicht alles" sagen, nicht auch schon offen und ehrlich alles gesagt. Es kann schließlich niemand wissen, was der dort Schreibende oder Interviewte darüber hinaus noch für die Öffentlichkeit zurückhält (was das alles sein kann, erfährt man oft erst nach dem Tod jener öffentlichen Personen, wenn ihre Tagebücher und Briefe einsehbar sind).
- Zweitens ist mit dem Verweis aufs "nicht-sagen-dürfen" nicht an ein explizites – etwa strafrechtliches – Verbot nicht genehmer Meinungen gedacht. Das "dürfen" bezieht sich meistens auf moralische, nicht rechtliche Normen, also auf die Erwartungen eines bestimmten gesellschaftlichen Milieus.
- Drittens ist es nicht so, dass einzelne Leute lediglich den öffentlichen Widerspruch scheuen. Denn oft wird Kritikern ja vorgeworfen, sie könnten in einer Demokratie wie dieser sehr wohl alles sagen, müssten dann aber mit Widerspruch rechnen. Es geht dabei aber gar nicht um ihre eigenen Empfindlichkeiten, sondern was sie beanstanden, ist vielmehr der Widerspruch einer offensiv zur Schau gestellten Liberalität des Systems ("Jeder darf bei uns nach seiner Fasson glücklich werden!") und der andererseits schweren materiellen und sozialen Konsequenzen bei der Inanspruchnahme dieser liberalen Meinungsfreiheit, etwa durch das aktive Eingreifen von Verantwortlichen, die Veranstaltungs-Ausladungen oder Job-Entlassungen vornehmen, lediglich aufgrund einer bestimmten Meinung, die gerade nicht in den Konsens eines Milieus passt.
- Viertens ist, nur weil jener bestimmte Mensch sich öffentlich frei und kritisch äußern darf, diese Möglichkeit noch lange nicht jedem anderen gegeben. Ja, man kann durchaus von einem Privileg derer sprechen, die wie selbstverständlich in größerem Rahmen öffentlich reden. Auch diese sind Teil eines Milieus, und eines winzigen zudem.
- Fünftens geht es bei Maßnahmen wie etwa der Rücknahme eines verliehenen Preises nicht in erster Linie um die betreffende einzelne Person. Vielmehr soll eine Stimmung verbreitet werden, die am genauesten beschrieben ist mit Mao Zedongs Ausspruch "Bestrafe einen, erziehe Hunderte!"
Wer nichts besitzt, muss mehr auf seine Worte achten
Die Einwände brauchen gar nicht moralisch verstanden werden: Man kann die Praxis des Absagens und Kündigens ja für richtig halten, als gerechte Strafe, als Sanktion für Leute, die Gemeinschaftsstandards, und seien es auch nur solche der Meinung, missachten.
Nur sollte man diese Praxis dann nicht leugnen und behaupten, jedem sei alles erlaubt. Denn es erweist sich relativ schnell, dass diese Erlaubnis, jedwede und auch unbeliebte Meinungen zu veröffentlichen, in den allermeisten Fällen nur jenen möglich ist, die etwaige materielle Konsequenzen abfedern können.
Die Mitglieder der nicht besitzenden Klasse, den abhängig Beschäftigten, müssen sich dagegen mehrfach überlegen, was sie öffentlich sagen, weil Formen der Sanktionierung für sie existenziell bedrohlich wären.
Im Großen und Ganzen konforme Meinungen
Noch problematischer ist das, wenn man bedenkt, dass die Besitzenden, die Wohlhabendsten einer Gesellschaft meist ohnehin keine allzu grundsätzliche Kritik an den Verhältnissen äußern und im Großen und Ganzen konforme Meinungen vertreten, während die Lohnabhängigen und Armen weitaus mehr Gründe haben, sich kritisch zu äußern.
Eine konsequent linke, ja antibürgerliche, dialektische Position hingegen wäre eine andere Haltung: Sie verstünde die Fragen um Meinungsfreiheit und Canceln lediglich als Symptome und würde die Einsicht verbreiten, es bei der Einrichtung demokratischer Öffentlichkeit mit einem bürgerlichen Staatsapparat zu tun zu haben, der in einem ganz bestimmten, materiellen Klasseninteresse errichtet worden ist.
Dass es sich nämlich bei bürgerlichem Staat wie seinen Öffentlichkeitsräumen um einen Privatbesitz handelt, zu dem der Zugang ganz selbstverständlich für all jene beschränkt ist, die ein anderes als das Interesse der besitzenden Klasse zu vertreten beabsichtigen.
Die strenge Gästeliste der Bourgeoisie
Dass es also ein Hausrecht für die Bourgeoisie gibt, die jederzeit jeden von ihrer Party ausladen kann, auch wenn die Party "öffentlicher Rundfunk" oder "Bildzeitung" heißt. In der Verteidigung wirklicher Öffentlichkeit wäre also dieses Hausrecht anzuzweifeln.
Ebenso, wie die linke Kritik an diesem einen Widerspruch aufzuzeigen hätte: Man behauptet, die Öffentlichkeit sei öffentlich – also etwas für alle –, behandelt die konkreten einzelnen Medien dann aber als Privatveranstaltung, von der man jeden nach Gutdünken, also nach Meinung des Hausherrn entfernen oder ausladen dürfe.
Die Grenzen der Öffentlichkeit
So wenig wie den Lohnabhängigen hierzulande erlaubt ist, das Privateigentum an Immobilien, Kapital und Produktionsmitteln in öffentliche Hand zu überführen, so ungern sind auch Meinungen gesehen, die ein solches Vorgehen etwa zu rechtfertigen sich anschickten.
Nur ist so etwas dann eben keine wirkliche Öffentlichkeit mehr. Der Erfolg derer, die sich darüber klar geworden sind, wäre daran zu messen, inwiefern sie es schaffen, die Verhältnisse öffentlicher Meinung als Verhältnisse von Klassenherrschaft begreiflich zu machen.
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