Von Meinungsfreiheit zu Klassenherrschaft: Warum öffentliche Meinung oft Privatbesitz ist

Völlig ungecancelt: Ostdeutsche Flüchtlinge mit Westpresse, 1961. Bild: cia.gov

Solange Privateigentum über Meinung wacht, ist Meinungsfreiheit eine Waffe der Klassenherrschaft. Zeit, das Hausrecht zu hinterfragen. Ein Appell in vier Teilen. (Teil 3)

Telepolis-Marlon Grohn hat im zweiten Teil seiner Serie beanstandet, dass trotz vermeintlicher gesellschaftlicher Toleranz das laute Nachdenken verschwunden ist. Er sieht das "Canceln" nicht als Wesen der Gesellschaft, sondern als Symptom.

Grohn betont, dass Forderungen nach Verboten dazu dienen, das Bewusstsein an herrschende Ideologien zu binden. Er kritisiert ideologische Homogenisierung von unten und die Personifizierung von Gedanken. Das Problem der Gesinnungsideologie sieht er in existenzieller Verunsicherung und dem Gefühl der Bedrohung.

Der Autor beklagt, dass die Unterscheidung zwischen Nachdenken und lautem Nachdenken zeige, dass Denken in der Gesellschaft eingeschränkt ist, und die Angst vor dem offenen Wort mit Denkunwilligkeit korreliert.


Von der Seite derer, die bekunden, wir lebten ja in einer Demokratie, es gebe Meinungsfreiheit, jeder könne sagen, was er wolle – nur müsse er dann eben auch mit den Konsequenzen rechnen – vernimmt man merkwürdigerweise fast gar keine Reflexion der Verbots- und Verfolgungs-Tradition innerhalb des Liberalismus.

Sie schließen von sich auf andere, weil sie als Leisedenker selbst selten in Konflikt mit Autoritäten geraten sind und verherrlichen damit ein System, das der Lüge und Verstellung nicht mehr bedarf, sondern von vornherein nur solche selektiert, die mit den Zielsetzungen der bestehenden politischen Ordnung einverstanden sind.

Genau das nannte man früher übrigens einmal "rechts" oder "reaktionär": das Einverständnis mit der bestehenden Ordnung, welches heute im "Jeder kann doch sagen, was er will" wieder aufscheint.

Denn ähnliches ließe sich freilich über die Gesellschaften des Mittelalters ebenso behaupten: Jeder durfte dort alles sagen, er musste nur damit rechnen, dass er eventuell in den Kerker verfrachtet, als Aussätziger vor die Stadtmauern gesetzt, als Geschasster verhungert oder als Ketzer auf den Scheiterhaufen geworfen wird. Aber prinzipiell waren Denken und Reden frei.

Die wenigen Mutigen, die es damals gab, waren, wie z.B. Galileo Galilei, Wissenschaftler und Wahrheitsfreunde, deren Ziele ohne Risiko und Kühnheit gar nicht umsetzbar gewesen wären. Wer denkt, kann nicht Rücksicht nehmen – und auf sich selbst eben auch nicht.

Gelehrten wie Galilei scheint der Wert ihrer wissenschaftlichen Arbeit trotz aller Widrigkeiten wohl höher und wichtiger gewesen zu sein als das eines Lebens in Unwissenheit und leisem Denken.

Wer hingegen heute die Wirkmacht des wie ein Damoklesschwert über jedem hängenden materiellen wie sozialen Drucks leugnet, der in Zeiten moralisierter Ideologie öffentliche Personen (die ja im Kapitalismus immer vom Markt, also von den Stimmungen der Konsumenten abhängig sind) davon abbringt, Ansichten zu äußern, die vielleicht ohne mit den zeitgenössischen Wertevorstellungen konform zu gehen, wirklich fortschrittlich, ja wissenschaftlich maßgeblich sein könnten, der leugnet die allgemeine Überbewertung der bloßen Moralität – die, nach Hegel, eher eine moralische Stimmung ist als wirklich tätige Tugend.

Solches nachdrücklich appellierendes Moralisieren verhindert das Nachdenken meistens schon in der Entstehung, ja die moralisierenden Etiketten sind gerade die Grenz-Markierungen, die vor weiterem Denken warnen.

Hier kommt eine Haltung zum Vorschein, die ganz grundsätzlich die bloß gedankliche Sphäre von abstrakt-unsinnlichen Gegenständen (Gefühle, Illusionen, Reden, Ideen, usw.) nicht zu unterscheiden vermag von der konkreten materiell-sinnlichen (Politik, Natur, Körper, Herrschaft, Gewalt usw.).

Worten sollen keine Taten mehr folgen

Die Gegenstände der einen werden dann umstandslos übertragen auf die andere Sphäre, so als gäbe es zwischen beiden keine fundamentalen Unterschiede: So wird inzwischen etwa das Wort "Verletzung" sowohl auf eine klaffende Wunde wie auf ein kritisches Wort angewendet und die Rede von "Worten, auf die Taten folgen", arbeitet derweil nicht nur an der Umkehrung der Tatsache, dass es politische Taten sind, die bestimmte Worte und Redeweisen in den Umlauf bringen, sondern verfolgen auch den Zweck, jene Worte (also lauten Gedanken) von vornherein zu unterbinden.

Diese Moralisierung trägt an die Denkenden von außen ein Kriterium heran, welchem sie von sich aus niemals Genüge leisten wollten: Sie werden aber trotzdem an diesem gemessen, und zwar ausschließlich an diesem.

Das Problem an der Sphäre der Moral ist nicht, dass sie moralisch funktioniert, sondern dass sie keine anderen Maßgaben kennt als moralisierende. Das heißt, der unabhängige Gedanke wird beurteilt anhand von Kriterien, die nicht seine sind, oder genauer gesagt: Der Gedanke wird vom Rezipienten nicht verstanden, stattdessen projiziert er seine – wie auch immer moralisch daherkommenden – Vorurteile auf jenen.

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