Von Religion und Verschwörungsglauben
- Von Religion und Verschwörungsglauben
- 2. Die Frage und die Sorge des Verschwörungsglaubens
- 3. Ausblick: Die Nation, Gott und die Feinde
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Eine Skizze
1. Der Glaube und das Glauben
Das Fürwahrhalten, oder die subjective Gültigkeit des Urtheils, in Beziehung auf die Ueberzeugung (welche zugleich objectiv gilt), hat folgende drei Stufen: Meinen, Glauben und Wissen. Meinen ist ein mit Bewußtsein sowohl subjectiv, als objectiv unzureichendes Fürwahrhalten. Ist das letztere nur subjectiv zureichend und wird zugleich für objectiv unzureichend gehalten, so heisst es Glauben. Endlich heisst das sowohl subjectiv als objectiv zureichende Fürwahrhalten das Wissen.
Kant, Kritik der reinen Vernunft [1781], 1919: 678f.)
Glaube und Glauben, als ein nur subjektiv gültiges Fürwahrhalten, als eine objektiv unzureichende Überzeugung, die meint, ein objektiv gültiges Urteil über eine Sache zu haben, tritt in verschiedenen Abwandlungen oder Modi auf: als vorläufige, hypothetische, sich ihrer selbst noch nicht gewisse Annahme oder Vermutung des Fürwahrhaltens einer Sache; als Verwandlung von Naturphänomenen in höhere, überirdische und übermenschliche Wesenheiten oder Mächte in den Natur-, wie auch in den Stammesreligionen; als naiver, noch unwissender Kinderglaube; als unbedarfte Gut- oder Leichtgläubigkeit beim Erwachsenen; als Aberglaube bei indigenen Völkerschaften und, in abgewandelter Form, als purer Aberglaube beim modernen, aufgeklärten Homo Sapiens; als altorientalisch-antik-mythologischer Glaube einschließlich heidnisch-polytheistischer Kulte und Götterverehrung; und schließlich als der religiöse Glaube, der Glaube an die eine, allmächtige, allwissende, höhere und jenseitige Wesenheit, verwirklicht und vollendet in den großen Weltreligionen.
Zwar haben schon die Stammesherren und ihnen gleich die altorientalischen und die antiken Regierenden gewusst, den Glauben und das Glauben ihrer Regierten nicht aufzulösen, sondern zu befördern, in den Dienst zu nehmen und zu benutzen. Zur wahren Blüte und Wucht aber gelangt der in Dienst genommene religiöse Glaube der Regierten mit der Blüte und Wucht der souveränen politischen Gewalt, die ihn am Leben erhält und fortschreibt.
In modernster, neuzeitlicher Form: eben in der Gestalt der voll ausgebildeten und staatlich geförderten, institutionalisierten und legitimierten Weltreligionen samt Kirchen, Synagogen, Moscheen, Tempel, Gottesdiensten, Muttergottes- und Marienverehrung, Wall- und Pilgerfahrten, schwarzer Madonna, Lourdes, Mekka und Medina, Papsttum-Vatikan ("urbi et orbi"), Jerusalem.
Darin eingeschlossen die Förderung und der Unterhalt der Prediger-, Priester-, Geistlichen-, Pfarrer- und Theologenkaste mit theologischen Fakultäten, Theologiestudium, schulischen Religionsunterricht, jüdischen oder Koranschulen für das gläubige Millionenheer der regierten Laien. In der Gewissheit der anhaltenden Gültigkeit eines alten Wortes:
Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt [...], ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund [...] Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.
Marx [1844], MEW 1, 1972: 378f.
verzichtet kein moderner Staat oder Souverän, der etwas auf sich hält, auf das religiöse Trost- und Sinnerfüllungsbedürfnis der Regierten eingedenk des recht ausgeprägten heimischen und globalen "Jammertals, dessen Heiligenschein die Religion ist."
Auf die gewünschte Funktionalität, in diesem heimischen und globalen Jammertal angesichts des geglaubten ideellen Lohns, der nach dem irdischen Dasein winken soll, ein ganzes Leben lang gleich unter welchen Bedingungen zu überleben, darin auszuhalten oder auch darin zurechtzukommen und sich zu bewähren, auf dieses funktionelle Mitmachen kann sich die politische Gewalt nach wie vor verlassen.
Auch das Faktum, dass die Weltreligionen biblischer, christlicher, jüdischer, muslimischer, buddhistischer, hinduistischer Herkunft sich in ein ganzes Spektrum von stillem In-Sich-Gekehrtsein des Einzelnen über diverse Sektenwesen bis hin zum barbarisch-religiösen Fanatismus oder Fundamentalismus gliedern, kommt der modernen politischen Gewalt nicht ungelegen: Soweit die politische Gewalt nicht gleich selbst den Übergang vom stillen In-Sich-Gekehrtsein des Einzelnen bis hin zum entschlossenen, politisch inszenierten religiösen Fanatismus oder Fundamentalismus bei den Regierten erweckt, zum kriegsbereiten Waffensegnen und zum mit aller erdenklichen Gewalt ausgetragenen Waffengang reicht es beim vorgefundenen religiösen Trost- und Sinnerfüllungsbedürfnis der Regierten allemal und jederzeit: "Deus lo vult" ("Gott will es", Papst Urban II., 27. November 1095).
Dazu haben sich die großen Weltreligionen schon immer bekannt. Widersinnig wäre also, dass die politische Gewalt das pur subjektive Fürwahrhalten, wie es sich im Glauben, im welt-religiösen Glauben hinsichtlich des heimischen und globalen Jammertals zumal, findet, auflösen sollte.
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