Von Religion und Verschwörungsglauben

Seite 2: 2. Die Frage und die Sorge des Verschwörungsglaubens

Im Jahre 1954 trafen sich die mächtigsten Männer der Welt zum ersten Mal unter der Schirmherrschaft der holländischen Krone und der Rockefeller-Familie im Luxushotel Bilderberg in dem kleinen holländischen Städtchen Oosterbeck [...] Seither haben sie sich jedes Jahr irgendwo in der Welt in einem Luxushotel versammelt, um Entscheidungen über die Zukunft der Menschheit zu treffen [...] Leider ist der Bilderberg-Club über seine ideellen Anfänge hinausgewachsen und hat sich zu einer Art Schattenregierung der Welt aufgeschwungen, die auf ihren völlig geheimen Jahresversammlungen entscheidet, wie sie ihre Pläne durchsetzt.

Daniel Estulin, Die wahre Geschichte der Bilderberger, 2007: 3f.

Dem Ganzen des "Glaubens" als ein nur "subjektiv gültiges Fürwahrhalten" (Kant) hat sich seit einiger Zeit eine neue, eine recht spezifische Abwandlung des Glaubens hinzugesellt. Ein Glaubensmodus jenseits staatlichen Willens, jenseits staatlicher Förderung und Kontrolle: der Verschwörungsglaube, vorgefunden, erweckt, angeleitet, gefördert, motiviert, stimuliert und – nicht selten – radikalisiert durch private oder halbprivate, in der Regel aber selbsternannte Verschwörungstheoretiker.1

Diese zuweilen auch akademisch-intellektuell angehauchten Verschwörungstheoretiker treiben sich im Weltweiten Netz herum als Anreger oder Macher von digitalen Filterblasen oder Echokammern, um ihr aber- und also auchverschwörungsgläubiges Publikum um sich zu sammeln.

Insofern unterscheidet sich dieser so aufgerufene moderne, wesentlich digital vermittelte Verschwörungsglaube vom tradierten, klassischen Verschwörungsglauben. Dieser nämlich wurde zum Leben erweckt und ausgiebig unterhalten durch zuweilen aufwendig argumentierende und demgemäß konstruierte Verschwörungstheorien innerhalb der sogenannten Geschichte des Abendlandes. In Gestalt etwa des christlichen Abendlandes oder der muslimischen Gegenwart wussten und wissen auch die großen Weltreligionen, ihren Beitrag zum Verschwörungsglauben von unten, zum Volksverschwörungsglauben zu leisten.

Vom religiösen Glauben, vom Glauben der staatlich geförderten und benutzten Weltreligionen unterscheiden sich die klassische und die moderne Variante des Verschwörungsglaubens zunächst nicht. Was den Letzteren angeht: Auch in den digitalen Filterblasen und Echokammern wird geglaubt im Sinne eines zwar überzeugten, aber nur subjektiven Fürwahrhaltens oder Meinens.

Auch im modernsten Verschwörungsglauben herrscht die Vorstellung, höhere Wesenheiten oder Mächte handelten in einer vom Einzelnen kaum beeinflussbaren Weise, seien im Begriff, ihre Macht gegenüber dem eigenen staatlichen Gemeinwesen, gegen die eigene Nation und somit gegen den Einzelnen wie gegen das eigene Volk mehr oder weniger nach eigenem Dünken und Belieben auszuüben.

Überirdische Wesenheiten, Mächte jenseitigen, metaphysischen, göttlichen Ursprungs sind die vom modernen Verschwörungstheoretiker vorgestellten Mächte oder Mächtigen aber nicht. Auch sind die Vorhaben und Beschlüsse dieser ziemlich irdischen Mächte und Mächtigen keineswegs "unerforschliche, göttliche Ratschlüsse"; und grundlegend ebenso wenig dem Einzelnen wie dem verschwörungsgläubigen Publikum unbekannt.

Vielmehr sind diese höheren Wesenheiten oder Mächte personifiziert in sichtbaren, greifbaren, leibhaftigen, ziemlich irdischen Gestalten, über deren Entscheidungen und Pläne der Einzelne und das Volk tagtäglich zur gefälligen Kenntnisnahme unterrichtet werden.

Dass diese irdischen, politischen Mächte und Mächtigen, die weltweit das Sagen haben, prinzipiell einvernehmlich mit den Eliten aus Militär, Wirtschaft, Geld- und sonstigem Adel inklusive der professoral-akademischen Denkfabriken und sonstiger Politikberater sich über die Fortführung der globalen Benutzung, Herrschaft und Kontrolle über den Planeten mitsamt der Weltbevölkerung regelmäßig verständigen: und zwar als Konkurrenten auf den diversen Weltwirtschafts-, Nato- und sonstigen Gipfeln oder Sicherheitskonferenzen trotz aller Gegensätze sich verständigen, ist gleichfalls alles andere als ein "Geheimnis".

Und dass die buchstäblich "mächtigsten Männer der Welt" (D. Estulin) als Konkurrenten sich gleichsam unter dem Motto "Eliten aller Länder, vereinigt euch!" im Grunde darüber einig sind, diese globale, allseits bekannte, sowie äußerst reale Weltherrschaft unter US-Leadership gegen jeden aufkeimenden Widerstand oder Konkurrenten aus Ost oder Fernost auch fortzuführen gedenken: daraus machen sie alles andere als ein "Geheimnis". Tagtäglich praktizieren sie diese seit 1945 real existierende westliche Weltherrschaft.

Die verschwörungstheoretische "Entdeckung", es benötige dazu besonders geheimer Begegnungen und Machenschaften, um der Menschheit gegenüber zu verschweigen, sie solle ganz bald von den politischen und wirtschaftlichen Eliten des Westens mittels einer "Neuen Weltordnung" (NWO) beherrscht werden und diese Weltherrschaftspläne schmiede und erneure sie ständig zum Beispiel auf den seit den 50-iger Jahren wohlbekannten Bilderberger-Konferenzen sowie in der Mitte 1973 durch Henry Kissinger, Zbigniew Brzeziński und David Rockefeller ins Leben gerufenen "Trilateralen Kommission", hinkt der banalen Wirklichkeit meilenweit hinterher.

Auf diesen weitgehend vertraulich geführten Treffen verhandeln die weltweit maßgeblichen politischen Entscheidungsträger nichts anderes als auf ihren sonstigen, der heimischen und der Weltöffentlichkeit mitgeteilten Communqués und Pressekonferenzen: (Streit-) Fragen der gegenwärtigen und zukünftigen Gestaltung der Weltwirtschafts- und Weltfriedensordnung angesichts der vielfältigen "Herausforderungen." Darin eingeschlossen so bemerkenswerte Erwägungen über die "governabilità della democrazia" (die "Regierbarkeit der Demokratie").2

Die verschwörungstheoretisch immer groß aufgemachte Frage – "Worüber sprechen die mächtigsten Leute der Welt in solchen Versammlungen?" (D.Estulin 2007: 3) – ist alles andere als unbeantwortet. Als bedürfe es der Bilderberger Treffen und der Trilateralen Kommission als " Schattenregierung der Welt, um Entscheidungen über die Zukunft der Menschheit zu treffen" (D.Estulin).

Ersichtlich ist in den modernen Varianten verschwörungstheoretischer Konstruktionen nichts Überirdisches, nichts Metaphysisches, nichts Jenseitiges zu entdecken, mögen diese Konstruktionen der verschwörungsgläubigen Anhängerschaft im sicheren Wissen um deren Trost- und Sinnerfüllungsbedürfnis die staats- und bevölkerungsfeindlichen Mächte und Mächtigen als noch so gewaltig, als noch so unbarmherzig, als noch so gnadenlos, als noch so fremdartig, bösartig, teuflisch oder reptilienhaft beschreiben.

So ist der gängige Verschwörungsglaube im Volk einerseits ein Modus des Glaubens, des nur subjektiv gültigen Fürwahrhaltens oder Meinens, ganz wie auch der religiöse Glaube der großen Weltreligionen. Inhaltlich hat der moderne Volksverschwörungsglaube andererseits mit dem religiösen Glauben, gar mit dem Glauben der großen Weltreligionen nichts zu tun.

Ganz im Gegenteil: Gegenüber dem seit Jahrtausenden von der hochoffiziellen Geistlichkeit gelehrten, gepflegten, tradierten, beweihräucherten und gepredigten Glauben der großen Weltreligionen, samt ihrem mit "Vernunftgründen" (Kant) geführten Kampf gegen die Glaubenszweifel, die die religiösen Anhänger der Weltreligionen seit jeher von Zeit zu Zeit überkommen, genügt den selbsternannten Verschwörungstheoretikern jeder auf den ersten Blick hin noch so abgeschmackte Blödsinn, um vom Verschwörungsgläubigen für bare Münze genommen zu werden.

Dies alles ohne Konfirmandenunterricht, Religionsunterricht oder Studium der Theologie, des AT, des NT, der Thora oder des Korans. Das religiöse "Hören" der göttlichen Botschaft kürzt sich im modernen Verschwörungsglauben auf das "Wissen vom Hörensagen" (nach Spinoza die unvollkommenste Erkenntnisgattung) zusammen: wie gehört, so geglaubt – ganz ohne bestürmt zu sein von irgendwelchen Glaubenszweifel.

Das Verschwörungsgerücht genügt. Insofern gleicht der moderne Verschwörungsglaube im Volk dem naiven Kinderglauben, aber praktiziert als moderner Aberglaube auf der Grundlage der politischen Leicht- oder Gutgläubigkeit3: Auf der Grundlage des staatsbürgerlichen Ur-Vertrauens in die Politik und in das Wirken der politischen Gewalt. Denn beides – als Existenz- und Lebensmittel begriffen – bringt das Ur-Vertrauen und das Ja zur Politik und zur politischen Gewalt in die Welt. Mit dem Ja zur Politik und zur politischen Gewalt ist das Ja zur Welt, wie sie nun einmal ist, entschieden – mag die Welt auch noch so jämmerlich erscheinen.

Das aus dem Ur-Vertrauen und dem Ja zur Welt erwachsene Ideal, die gewählte politische Elite der Regierenden möge in Ausübung der politischen Gewalt dem individuellen Interesse des Einzelnen, der sich in der Nation und im "eigenen" Volk bestens aufgehoben fühlt, zum Vorteil gereichen, gerät zuschanden angesichts der Bemühungen, im heimischen oder globalen Jammertal zu überleben, durchzukommen oder sich zu bewähren.

Angesichts dieses Vergleichs zwischen Ideal und gelebter Wirklichkeit gesellt sich dem Ur-Vertrauen und der alltäglichen Sorge diese eine, diese politische, diese staatsbürgerliche Frage hinzu: Warum können die gewählten Regierenden, warum kann die politische Gewalt nicht wirken, wie sie doch wirken sollen?

Also muss es einen Grund dafür geben: Sei es, dass die mir und meinem Volk verpflichteten Regierenden sich zu Marionetten, zu Handlangern fremder, vielleicht sogar außerirdischer Mächte gemacht haben, um deren Vorteil und zum eigenen Vorteil willen. Sei es, die gewählte politische Elite und die politische Gewalt liege schon seit jeher in fremden Händen und werde demgemäß "ferngesteuert". Warum? Um eine "Neue Weltordnung" (NWO), eine neue Weltherrschaft zu errichten, der "wir alle", das eigene Land plus politische Gewalt und Volk, ja die ganze Menschheit und Menschlichkeit hilflos ausgeliefert sein werden.

Wer diese un-, diese antinationale Fremd-Herrschaft ausübt, ob Illuminaten, Freimaurerlogen, Bill und Melinda Gates, Hillary Clinton und Obama, die WHO-, Drosten- oder Merkel-"Diktatur" in eins mit den Pharmakonzernen und G5-Mastbetreibern, gar die jüdische Weltherrschaft, die seltsamerweise seit Jahrhunderten oder seit Jahrtausenden heimlichst geplant und allseits bekannt nie zustande kommt: All dies ist der zufälligen und äußerst affirmativen und konstruktiven, der staatsidealistischen verschwörungsgläubigen Phantasie überlassen.

Die Sorge ums eigene Gemeinwohl und das Wirken seiner politischen Elite und Gewalt, diese Sorge steht am Anfang der staatsbürgerlichen Frage des modernen Verschwörungsglaubens und ist der berühmte "Nährboden", auf dem der moderne Verschwörungsglaube blüht und gedeiht.

Angesichts seines Ur-Vertrauens und seines Ja zur Welt wie sie nun einmal ist, geht die real existierende westliche Weltherrschaft unter US-Leadership, gehen die heimischen wie die weltweit existierenden und agierenden Geheim- und Überwachungsdienste, gehen alle geheimdienstlich beauftragten Komplotte und Operationen zu Staatsumstürzen und verdeckter Kriegsführung in aller Welt in Ordnung; sind somit dem modernen Verschwörungsglauben auch keiner näheren Betrachtung und Beschäftigung wert.

Kein Wunder also, dass die Verkünder und Aufdecker der geheimen Verschwörung durch Feinde im eigenen oder im Ausland gegen den Einzelnen, gegen "uns alle", gegen "unser Land", gegen die Menschheit und die Menschlichkeit, keiner hohen, fachmännisch ausgebildeten und studierten Geistlichkeit bedürfen: Internet, eine Webcam und ein Gespür für das enttäuschte staatsbürgerliche Ur-Vertrauen in die politische Elite und in die politische Gewalt im eigenen Land genügen vollauf.

Der Wille zur Selbstdarstellung und der Wille, sich in der Konkurrenz um Selbstdarstellung und maximale Followerzahlen in den Social Media und den entsprechenden digitalen Dunkelräumen, Filterblasen oder Echokammern hervorzutun, ergänzen das verschwörungstheoretische Unternehmen.

Das alles genügt, um den modernen, den staatsbürgerlichen Verschwörungsglauben zu überzeugen: wie gehört, so geglaubt. Bis hin zum Aufruf zum Widerstand, die ganz ungöttliche, die ganz antinationale Macht und ihre leibhaftig sichtbaren und greifbaren Mächtigen mitsamt den in- und ausländischen Feinden zum Teufel zu jagen: auch mit Vernichtungslust und Vernichtungswut zum Teufel zu jagen.

So herrschen im modernen Volksglauben einverträglich nebeneinander: Glaube, Aberglaube, Verschwörungsglaube, religiöser Glaube, dieser vornehmlich in Gestalt der großen Weltreligionen. Auf deren Funktionalität fürs Staatsganze legt auch die fortgeschrittenste Demokratie der Welt nach wie vor größten Wert.

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