Von Stalin zu Putin
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Zwei bemerkenswerte Dokumentarfilme skizzieren auf der Dok.Leipzig die Geschichte des Sowjetimperiums und Russlands
Der Zusammenbruch der Sowjetunion ist die größte Tragödie des 20. Jahrhunderts.
Wladimir Putin
"Wie war Ihre erste Begegnung mit einem Deutschen?", fragt Werner Herzog sein Gegenüber Michail Sergejewitsch Gorbatschow. Offenbar erwartet er von dem 1931 geborenen letzten Präsidenten der Sowjetunion, etwas über den Krieg zu erfahren und das Verhältnis zu seinem Volk, das einen Krieg entfesselte, bei dem über 25 Millionen Sowjetbürger starben.
Doch er bekommt etwas anderes zu hören: Die Geschichte einer Kindheitserinnerung: Man sei ins Nachbardorf gefahren und habe dort bei einer befreundeten Familie wunderbar eingelegte Gurken gegessen. Das waren die ersten Deutschen, die Bewohner des Nachbardorfes, die Schöpfer der Wundergurken.
So weit so authentisch, obschon vielleicht auch nostalgisch verklärt, obschon vielleicht auch nur eine kluge, weil mit Erwartungen brechende Anekdote eines professionellen Politikers und Anekdotenerzählers.
Dann schwebt die Kameradrohne über ein ödes Dorf, irgendwo in den Weiten Russlands. Hier wuchs Michail Gorbatschow auf. Die Kamera zeigt den Friedhof und die Gräber von Gorbatschows Vorfahren. Herzog kann sich nur für Dinge interessieren, die er sich einverleiben kann, die ihm erlauben "Ich" zu sagen.
Also muss in den ersten Minuten die persönliche Nähe zwischen ihm und seinem Objekt klar gemacht werden: Wie er, Herzog, sei auch Gorbatschow in einem Dorf aufgewachsen, eng dem Leben der Bauern verbunden, wie er, Herzog, sei auch Gorbatschow als Kind barfuß zur Schule gelaufen, habe auf den Feldern arbeiten müssen.
"Dieser Mann wird das Grab für unser System graben"
Dass die Dok.Leipzig, das "Festival für Dokumentarfilm und Animation", in diesem Jahr mit einem Film von Werner Herzog eröffnete, war ein Coup: Denn Regie-Veteran Herzog ist weltberühmt, und sein neuer Film Meeting Gorbatschow passte ideal zu einem Festival, das bereits aufs kommende Jubiläum des Mauerfalls vorausblickte und sich traditionell als Brücke zwischen Ost und West versteht, mit besonderem Interesse für die Facetten des Staatssozialismus und seines Scheiterns.
Herzog hat Michael Gorbatschow für drei lange Interviews getroffen. Mit ihnen garniert er seine chronologisch und konventionell erzählte Film-Biographie. Auf den Flug über das Stoppelfeld und das Dorf im Nirgendwo des russischen Middle-West folgt noch eine zweite Anekdote.
Als der Vater, ein Frontkämpfer gegen die Nazi-Invasion, dann aus dem Krieg siegreich heimgekehrt ist, blickte er seinem 15-jährigen Sohn tief in die Augen und sagte zu ihm: "Wir kämpften, bis uns der Kampf ausging. Genau so musst Du Dein Leben führen."
Der Sohn erzählt es ernsthaft, als habe der Satz Bedeutung für sein eigenes Dasein. Und wenn es nicht wahr ist, ist es gut erfunden.
In den Interviews dazwischen dominiert Belangloses, das aber Gorbatschows Person umreißen und greifbar machen soll. Die Einsamkeit ohne Ehefrau Raissa. Der zuckerfreie Schokoladenkuchen, den der zuckerkranke Ex-Präsident vom Regisseur als Mitbringsel bekommt. Die Hoffnung des weit über 80-Jährigen: "Ich wünsche mir noch drei Jahre" - vermutlich um das 30. Jubiläum des Zusammenbruchs der UdSSR zu erleben.
Dann wieder Zeitreise: Der Hunger der Bauern. Die Begabung des jungen Michail. Die Moskauer Studenten in den 1950er Jahren. Alte Fotos. Ein Drohnenflug um eine Lenin-Statue. Am Spannendsten ist hier vor allem das alte, oft unbekannte Material aus jener Zeit, als Gorbatschow erst zu dem Mann wurde, der mit "Glasnost" und "Perestroijka" den Kalten Krieg beendete.
Es geht schnell voran. Plötzlich studiert der junge Komsomol Jura, lernt die bildhübsche Raissa kennen. 1971 ist er bereits ein bedeutender Funktionär. 1974 dürfte er die Einweihung des unter Stalin begonnenen Stawropol-Kanals übernehmen. 1981 wird er vom bereits senilen Breschnew geehrt. Die UdSSR befindet sich zu diesem Zeitpunkt bereits in rasantem Abstieg.
Das aufstrebende Mitglied des Politbüros reist nach Ungarn, um von der dortigen Agrarindustrie zu lernen. Den Ungarn gelangen in den 1970er und 1980er Jahren gute Erträge, sie produzierten weit über Bedarf. Die Bauern der Sowjetunion taten das Gegenteil.
Ungarische Funktionäre erinnern sich an Gorbatschows Qualitäten: "Man konnte sehen: Da war einer mit offenem, wachem Geist, er war nicht korrupt, sondern in jeder Hinsicht gerade heraus. Ein guter Zuhörer, er stellte die richtigen Fragen. Und: Er trank keinen Alkohol. In Moskau tuschelten zur gleichen Zeit unter den Konkurrenten die ersten: 'Dieser Mann wird das Grab für unser System graben.'"
Einzelne große Männer machen Geschichte
Hier nun gestattet sich Herzog einen Moment der Realsatire, in der filmischen Form fast Slapstick: Er schildert die rasche Aufeinanderfolge der Beerdigungen und kurzen Regierungen von Breschnew, Andropow und Tschernenko. Dann hat Gorbatschows Stunde geschlagen.
Von Beginn an war klar, dass mit ihm ein neuer Wind wehte. Gegen den jungen Staatschef sah die Reagan-USA plötzlich alt aus. Es ist klar, dass Gorbatschows Wunsch nach Offenheit und Restrukturierung ernsthaft war: Er redete mit den Menschen auf der Straße, hörte ihnen zu - das waren nicht nur werbewirksame Bilder.
Außenpolitisch begannen sensationelle Abrüstungsschritte, die bis heute ohne Beispiel sind. Der Kalte Krieg war 1985 so kalt, wie er nur sein konnte. Aber Margaret Thatcher begriff und bekannte öffentlich: "We can do business together."
Und zwischen Ronald Reagan und Gorbatschow stimmte die persönliche und damit auch politische Chemie. "That sort of clicked", berichtet US-Außenminister Shultz über das entscheidende Treffen in Rejkjavik.
Dies ist ein Beispiel dafür, dass wirklich mal einzelne Männer Geschichte machen - es machte eben schon einen Unterschied, ob Gorbatschow oder Breschnew an der Spitze der UdSSR standen, ob sich zwei Präsidenten mögen und vertrauen oder persönlich verabscheuen. Ob einer Mut hat oder ein Feigling ist.
Ein weiterer Gedanke am Rand: Bush, Thatcher, Kohl waren im Vergleich zum heutigen Personal bessere Führungspolitiker. Es waren Konservative, aber keine Vollidioten und man wusste mehr von ihnen als Menschen, als von Trump, Merkel und Co heute.
Nur Lech Walensa, der polnische "Arbeiterführer", hält Gorbatschow für einen Idioten. "Dass er glaubte, den Kommunismus zu retten." Es ist ein Augenblick unglaublicher, wenn auch nicht überraschender Arroganz, mit dem der Pole in Herzogs Film zu sehen ist.
Wenn er behauptet, "die Polen sind immer dagegen [den Kommunismus] gewesen", dann stimmt das nicht wirklich, aber vor allem formuliert Walensa da auch einen der Gründe, warum es mit dem Kommunismus vielleicht nicht so geklappt hat, wie es hätte klappen können. Polen kann ein schwieriger Bundesgenosse sein, wie die Regierung gerade in Europa wieder demonstriert.
Putin wäre das nicht passiert
Man vergisst es leicht, was in einer Lebenszeit möglich ist - was Gorbatschow zwischen 1931 und 2018 alles erlebt hat. Die Dynamik nahm in der zweiten Hälfte 1991 rasant zu. 1991 ging Gorbatschow dann "der Kampf aus" - freimütig gibt er zu, Jelzin unterschätzt zu haben: "Ich bin nicht diese Art Typ. Ich hätte ihn vielleicht irgendwohin schicken müssen."
Und wir Zuschauer sollen dann damit sympathisieren, dass er es nicht tat. Vielleicht sollten wir besser einsehen, dass dem Politiker Gorbatschow die entscheidenden Fähigkeiten fehlten, die Sowjetunion in dieser Krise zu erhalten. Putin wäre das nicht passiert.
Diesen Putin sehen wir einmal in diesem Film: Auf der Beerdigung von Raissa. Allerdings bleibt Herzog doch hier wie insgesamt meist an der Oberfläche. Etwas mehr Nachfragen, ein bisschen weniger Hagiographie und Bewunderung für Gorbatschow und der Verzicht auf den Versuch, diesen außergewöhnlichen Politiker zum Philosophen und zum Weltweisen zu machen, hätten dem Film gutgetan.
Da überzeugte das Putin-Portrait Putins Witnesses des Ukrainers Vitaly Mansky mehr. Von Anfang an konstruiert der Film seine sehr eigene Wahrheit. 1991 beschreibt der Regisseur wie folgt:
"Das Volk überwand die Roten und wählte Jelzin. Russland wählte den demokratischen Weg. Mit der Freiheit kam die Wirtschaftskrise, der Tschetschenienkrieg und Jelzin wurde Zar."
Dann geht der Film richtig los.