Von Ukraine bis Nahost: Geht es wirklich um einen Angriff auf den Westen?

Seite 2: Russische Emigranten und iranische Drohnen

Auch Russland hat kein Interesse an einer kriegerischen Eskalation in Nahost, schon allein deswegen nicht, weil man mit dem Ukraine-Krieg vollständig in Anspruch genommen ist. Sicherlich stimmt es, dass Moskau gute Beziehungen zum Iran unterhält und in Syrien an der Seite der Hisbollah gekämpft hat.

Aber Moskau hat auch gute Gründe, besorgt zu sein, dass der Konflikt sich weiter verschärft. Seit dem Ende des Kalten Krieges bemüht sich Russland um gute Beziehungen zu Israel, einem wichtigen Wirtschaftspartner und der Wahlheimat von mehr als einer Million russischer Emigranten, worauf auch Kreml-Sprecher Dmitri Peskow immer wieder hinweist.

Während Israel in den letzten Jahren Hisbollah-Kräfte oder syrische Ziele angriff, verblieb Moskau an der Seitenlinie, obwohl Russland mit der Hisbollah und dem Baath-Staat in Syrien partnerschaftlich verbunden ist. Zudem würde ein ausgewachsener Krieg zwischen Israel und Iran die iranische Lieferung von Drohnen an Russland beenden, die im russischen Feldzug in der Ukraine eine wichtige Rolle spielen.

Auch hat man in Russland kein Interesse an einem Aufflammen eines islamistischen Terrorismus, von dem Anschläge in Russland ausgehen (siehe den Anschlag auf die Moskauer Stadthalle im März dieses Jahres) und der aus einem aufkeimenden Konflikt in Gaza gespeist werden könnte. In diesem Punkt ist man sich mit den USA einig.

Iran durch Gaza-Krieg geschwächt

Darüber hinaus ist Russland der größte Kohlelieferant Israels, nachdem Kolumbien und die Türkei Boykott, Desinvestition und Sanktionen (BDS) gegen Israel verhängt haben.

Und auch der Iran ist durch den Hamas-Anschlag auf Israel, über den Teheran nicht informiert wurde, in eine schwierige Lage gebracht worden. Wie Daniel Brumberg vom Arab Center Washington D.C., Direktor für Demokratie- und Governance-Studien an der Georgetown University, betont, hat der Iran …

in Ermangelung eines schlagkräftigen konventionellen Militärs eine Strategie der "Vorwärtsverteidigung" über Allianzen mit bewaffneten nichtstaatlichen Gruppen entwickelt, die vor allem eine Aufgabe haben: die USA oder Israel von einem Angriff auf den Iran abzuhalten.

Diese Strategie sei durch den abtrünnigen Alleingang der Hamas empfindlich gestört worden, sodass man improvisieren musste und Stück für Stück in einen Konflikt gezogen wurde (immer bedacht, die regionalen verbündeten Gruppen mit ihren unterschiedlichen Strategien und Zielen wie die Huthi oder die Hisbollah nicht zu verlieren), dessen Eskalation man nicht wollte. Am Ende seien iranische Interessen in der Region durch den Gaza-Krieg beschädigt worden, während Teheran versuche, einigermaßen Kontrolle zu behalten.

Teherans Zurückhaltung

Der amerikanisch-palästinensische Journalist und Buchautor Ali Aunimah, ein anerkannter Experte des Nahostkonflikts, sah sich sogar angesichts der iranischen Passivität am 28. September gezwungen festzustellen:

Eine weitere Frage, die sich viele stellen, ist, warum der Iran, der nach der Ermordung des Hamas-Führers Ismail Hanija durch Israel im Juli in Teheran Vergeltung gelobt hatte, so zurückhaltend reagiert hat. Es entsteht zunehmend der Eindruck, dass das Ausbleiben einer Reaktion die immer ungehemmtere Gewalt Israels nur ermutigt hat.

Nachdem Tel Aviv den Libanon-Krieg dann eskaliert hatte, mit Pager- und Walkie-Talkie-Explosionen, Bombardierungen (was in gut zwei Wochen 1.250 tote und 3.600 verletzte Libanesen nach sich zog) und der Tötung u.a. vom Generalsekretär der Hisbollah-Partei, Hassan Nasrallah, feuerte der Iran zwar am 1. Oktober mehr als 180 Drohnen und Raketen auf Israel – gerichtet vorwiegend auf militärische Einrichtungen, sodass kein Israeli dabei ums Leben kam.

Doch selbst diese militärische Reaktion ändert nichts an dem Fakt, dass Teheran zurückhaltend agiert. Das hat auch damit zu tun, dass die politische Führung wegen Repressionen gegen Proteste und der wirtschaftlichen Depression im Land im Zuge der von den USA angeführten Sanktionen unter Druck steht und nicht in einen Krieg gezogen werden will, der die Stabilität im Iran weiter gefährden könnte.

Ursache und Wirkung

Die Rede von einer antiwestlichen Achse Russland, China und Iran, die eine Front von der Ukraine bis in den Nahen Osten geöffnet und mit den Kriegen eine gemeinsame Offensive gegen den Westen und dessen Weltordnung gestartet habe, ist allein schon vor dem Hintergrund der geschilderten divergierenden Interessen, diversen Konflikten bei der Kooperation, der begrenzten regionalen Machtreichweite der Staaten und tatsächlichen Handlungsweisen nicht mehr als eine Unterstellung mit ideologischem Spin.

Vielmehr ist das partielle Zusammenrücken der Länder in den letzten Jahren nicht Ursache und tieferer Grund, sondern Resultat der Eskalationen. Wie der US-Journalist für Außenpolitik und Sicherheitsfragen, Daniel Larison, auf Responsible Statecraft erklärt:

Die vier Staaten [Russland, China, Nordkorea, Iran] arbeiten heute enger zusammen als in der Vergangenheit, weil die aggressive US-Politik diese Zusammenarbeit gefördert hat. Das Streben der USA nach Dominanz in jeder Region schafft Anreize für regionale Mächte, sich gegenseitig zu unterstützen, und Washingtons häufige Anwendung von Sanktionen zur Bestrafung all dieser Staaten gibt ihnen einen weiteren Grund, sich gegenseitig zu helfen, die Sanktionen zu umgehen.

Tatsache ist: Die Kriege in der Ukraine und in Nahost laufen nicht, weil eine "Achse des Bösen" danach strebt, die westliche Werteordnung (ein Codewort für die US-Hegemonie mit hunderten Militärbasen auf der ganzen Welt, unzähligen verheerenden militärischen "Spezialoperationen" mit Millionen Toten, Regime-Changes, Staatscoups und der Unterstützung von Terror und westfreundlichen Autokraten) zu stürzen – eine internationale Ordnung, von der die "Achsenkräfte" wirtschaftlich qua Handel weiter profitieren wollen.

Die West-Achse

Denn Russland, China und Iran sind keineswegs interessiert daran, westlich dominierte Märkte auf der ganzen Welt zu verlieren, trotz aller regionalen Einflussansprüche. Und genau das ist es, was die Kriege und westlichen Sanktionen drohen zu bewirken bzw. schon bewirkt haben.

Die Wahrheit ist, dass es sich um regionale Konflikte handelt, die überwunden werden könnten, allerdings nur, wenn die USA das zulassen.

Unter der anschwellenden transatlantischen Rede von einer neuen "Achse des Bösen" wird jedoch begraben, dass die realexistierende "West-Achse" mit Nato-Flügel unter US-Kommando (die tatsächlich eine schlagkräftige und von Washington aus geeinte Allianz darstellt) die diplomatisch möglichen Lösungen für die Kriege nicht nur nicht sucht, sondern sie durch endlose Aufrüstung der Ukraine und Israels letztlich verhindert.

Wer steht für welche Werte?

Anstatt über diese Blockaden und mögliche Friedensoptionen zu sprechen, werden diffuse Weltuntergangsängste verbreitet. Nach dem Motto: Wir müssen die Stellung in der Ukraine und in Nahost halten, sonst übernimmt "die Front" der Autokraten.

Interessant ist, dass es oft die Staaten dieser "Front" sind, die in der UN und diplomatisch für Waffenstillstände, Verhandlungslösungen und Frieden in der Ukraine und Nahost eintreten, während die USA für Weiterkämpfen und Eskalieren plädieren (oder auf Druck hin eine UN-Resolution für einen temporären Waffenstillstand in Gaza einmal nicht blockieren, aber weiter gegen US-Gesetze massiv Waffen an Israel exportieren und auch sonst nichts unternehmen, um Israel zu stoppen) – gegen das mehrheitliche Votum der Staatengemeinschaft, im Falle des Gaza-Kriegs auch gegen internationales Recht und in Missachtung des Internationalen Gerichtshofs.

Aber für Wetzel von der Süddeutschen Zeitung (wie für eine Reihe von Kommentatoren in den USA und Europa) sind es Iran, China und Russland, die den "demokratischen Westen und die ihn tragenden Institutionen zerstören wollen", von der Ukraine bis Nahost. Scheinbar gehören Völkerrecht, UN und Diplomatie nicht zu den tragenden Institutionen des Westens.