Von der Europawahl zur Bundeskrise: Nationale Abrechnung
Wahl wird zur Bundestagswahl umgedeutet: Es ist offenbar egal, welches Parlament gerade gewählt wurde. Das Wahlsystem sollte angepasst werden. Eine Medien-Polemik.
Mit den ersten Prognosen und Hochrechnungen zur Wahl des Europäischen Parlaments am Sonntag überschlugen sich die Kommentatoren mit Analysen ihrer Bedeutung – für die deutsche Bundesregierung.
Tenor: "Ein Tiefschlag für die Ampel" (General Anzeiger). Die FAZ fasste zusammen:
Das gute Ergebnis der Union zeigt, dass Merz mit seinem Kurs richtig lag: Die Mitte hat sich nach rechts verschoben. Scholz muss nun vor allem in der talfahrenden Ampel "Friedenskanzler" sein.
Nikolas Busse, FAZ
96 Abgeordnete aus Deutschland galt es für das in Straßburg ansässige Europaparlament zu bestimmen. Doch das Ergebnis wird vor allem als Stimmungsbild für die deutsche Bundespolitik interpretiert.
Unvermeidliche Schlagworte
Es fallen die unvermeidlichen Schlagworte: In Mecklenburg-Vorpommern haben die Menschen mit ihrer Europastimme der Bundesregierung einen "Denkzettel" verpasst, in Sachsen-Anhalt dem Bundeskanzler eine "Ohrfreige" gegeben, in Bayern steht die SPD vor einer "Kernschmelze".
Und nachdem Emmanuel Macron aufgrund der geringen Zustimmung für seine Europa-Liste die Nationalversammlung aufgelöst und Neuwahlen für den 30. Juni angesetzt hat, war die beherrschende Frage, ob auch Kanzler Scholz die Vertrauensfrage stellen und so Neuwahlen herbeiführen sollte.
Es ging mal wieder um vieles – die Bürger konnten und sollten sogar "gegen Putin stimmen" (BR). Nur um eines ging es offenbar gar nicht: um Europapolitik.
Das Spiel ist alles andere als neu: Jede Landtags- oder Kommunalwahl wird von Medien und – etwas abhängig vom Abschneiden der eigenen Parteipolitiker zum allgemeinen "Stimmungstest" erhoben.
Entsprechend werden Bundespolitiker interviewt, die überhaupt nicht zur Wahl standen.
Es ist offenbar egal, welches Parlament gerade gewählt wurde
Es ist offenbar egal, welches Parlament gerade gewählt wurde: Politisch gut lamentieren lässt sich stets nur über die Performance im Berliner Bundestag.
Da spielt es keine Rolle, was in den tatsächlich relevanten Wahlprogrammen steht, wie die bisherige Politik dort gelaufen ist, wo gerade das Personal neu bestellt wird, und wer dieses Personal überhaupt ist. (Wie viele der alten oder neuen 96 Deutschen im Europaparlament können Sie namentlich benennen?)
Permanente Vermischung aller Wahlen
Diese permanente Vermischung aller Wahlen kann eigentlich nur zweierlei bedeuten: Entweder verstehen die meisten Journalisten und Politiker nicht, was jeweils gewählt wird, bzw. sie tun so, als ob sie es nicht verstehen, um ihre gewohnten Floskeln beibehalten zu können.
Dann müssten sich die Bürger überlegen, wie sie den öffentlichen Meinungsmachern demokratische Nachhilfe erteilen können – denn bloßes Ignorieren wird nicht genügen.
Oder auch ein Großteil der Bevölkerung weiß nicht, welches Gremium jeweils zu besetzen ist und wählt tatsächlich immer nach bundespolitischen Themen.
In diesem Fall sollte eine Einheitswahl eingeführt werden. Mit einem einzigen Kreuz für eine Partei wird dann vom Bezirksrat bis zum Europäischen Parlament alles in einem Aufwasch besetzt. Das würde Zeit, Geld und vor allem jede Menge Palaver sparen.
Angst vor zu großen Veränderungen
Der Angst vor zu großen Veränderungen aufs Mal ließe sich mit einer Zwischenlösung beikommen: Wir wählen jedes Jahr zu einem festen Termin. Danach entscheidet das Los, für wen das Ergebnis gelten soll, ob wir also neue Bürgermeister, neue Stadträte, Kreis- oder Landtage oder einen neuen Bundestag bekommen.
Dann passt das auch endlich mit den derzeit etwas irritierenden Wahlplakaten, die Personen zeigen, die gar nicht wählbar sind – wie etwa Olaf Scholz.