Macrons riskantes Spiel: Der Weg für die extreme Rechte in die Regierung

Bild (2022): Nicolas Economou / Shutterstock.com

Neuwahlen in Frankreich: Die Rückkehr der Faschisten? Stehen Frankreichs extreme Rechte vor dem Durchmarsch? Was treibt den Präsidenten?

Es ist zwar bislang nicht sicher, aber doch sehr wahrscheinlich: In Kürze, ab Mitte Juli, dürfte ein junger Neofaschist ins Hôtel Matignon, den Amtssitz des französischen Premierministers, einziehen. Sein Name: Jordan Bardella.

Bardella wird der Spitzenkandidat seiner Partei, des Rassemblement National ("Nationale Sammlung"), abgekürzt RN, bei den nunmehr für den 30. Juni und den 07. Juli dieses Jahres angesetzten Neuwahlen des französischen Parlaments (Assemblée nationale, Nationalversammlung), sein.

Diese um drei Jahre vorgezogene Parlamentswahl ordnete Staatspräsident Emmanuel Macron am gestrigen Sonntagabend an. Er reagierte damit auf den Ausgang der Europaparlamentswahl in Frankreich.

Bei dem aussichtsreichen Spitzenkandidaten Bardella handelt es sich um den 28 Jahre jungen Parteivorsitzenden des rechtsextremen RN. Der junge Mann begann seine institutionelle Karriere 2015 als parlamentarischer Mitarbeiter eines gewissen Jean-François Jalkh.

Warum der Langweilerbegriff Populismus nicht passt

Jalkh, Jahrgang 1957, sollte zwei Jahre später – im Präsidentschaftswahlkampf 2017 – Interimsvorsitzender des RN werden, die damals noch Front National (FN) hieß, als die bisherige Parteichefin Marine Le Pen für den Elysée-Palast kandidierte. Doch dann tauchten Aussprüche von Jalkh aus dem Jahr 2000 auf.

In ihnen ging es darum, dass es angeblich technisch unmöglich sei, Juden mit Zyklon-B zu vergasen. Jalkh musste auf den Parteivorsitz verzichten und spielt heute in der Öffentlichkeit keine politische Rolle mehr, arbeitet allerdings noch immer als Parteijurist beim RN.

Weder die frühere FN noch der heutigen RN lässt sich mit Leerfloskeln wie dem aus heißer Luft bestehenden Langweilerbegriff des "Populismus" beschreiben.

Eindeutiger Bestandteil des europäischen Nachkriegsfaschismus

Die Partei wurde 1972 eindeutig als Bestandteil des europäischen Nachkriegsfaschismus gegründet, dank Geld und Infrastruktur des damals vergleichsweise starken italienischen Neofaschismus aufgebaut und mit dessen Symbolen ausgestattet.

Dazu gehört die züngelnde Flamme in den (jeweiligen, italienischen respektive französischen) drei Nationalfarben, historisch ein Symbol für den angeblichen Aufstieg der Seele Benito Mussolinis aus seinem Sarg gen Himmel. Bis heute bildet diese Trikolore-Flamme das Parteisymbol des RN ‒ wenn auch in den letzten zehn Jahren mit grafischer Abwandlung gegenüber ihren früheren Grundrissen.

Knapp 37 Prozent für die extreme Rechte

Insgesamt erhielt die französische extreme Rechte, nimmt man den RN und die, überwiegend als Abspaltung von ihm entstandene, 2022 gegründete Partei Reconquête! (R!, "Rückeroberung!") von Eric Zemmour zusammen, am Sonntagabend in Frankreich fast 37 Prozent der Stimmen.

Laut amtlichem Ergebnis aus dem Innenministerium erreichten der RN 31,47 und R! 5,46 Prozent der Stimmen ‒ zusammengenommen 36,93 Prozent.

Zu den französischen Rechtsextremen könnte man auch noch die Liste von Florian Philippot hinzuzählen, die 0,9 Prozent erreichte. Philippot war bis Herbst 2017 Generalsekretär des damaligen FN, und seine Liste tritt ‒ im Unterschied zum RN ‒ für den Totalaustritt aus der Europäischen Union ein. Damit ist sie jedoch kaum bündnisfähig.

37 Prozent entspricht weitgehend dem Stimmenanteil der extremen Rechten in der Schlussphase der Weimarer Republik.

Warum eine Gleichsetzung mit Weimarer Verhältnissen nicht möglich ist

Doch eine Gleichsetzung ist nicht möglich: Der RN tritt weder auf wie die damalige NSDAP, noch betreibt er deren massiven Straßenterror. Gewalt ist beim RN heute eher eine Randerscheinung.

Allerdings war der ‒ früher paramilitärisch agierende ‒ Ordnerdienst des RN 1999 Gegenstand eines zweibändigen parlamentarischen Untersuchungsberichts und schrammte knapp an einem Verbot vorbei. Seitdem hält man hier die Bälle etwas flacher.

Die zeitgenössische extreme Rechte ist nicht der Faschismus von 1922 oder 1933. Ganz einfach, weil wir weder im Jahr 1922 noch im Jahr 1933 sind. Auch Konservative von 2024 ähneln kaum denen von vor einhundert Jahren – einer damals noch zum Gutteil agrarisch geprägten Gesellschaft –, die Sozialdemokratie von 2024 ziemlich wenig der von 1924 und die Kommunisten von 2024 auch kaum denen einhundert Jahre früher …

Ein Auftreten wie vor einhundert Jahren würde nicht funktionieren, auch nicht bei der extremen Rechten. Und war in den Zwanzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts ein Reservoir an Frontkämpfern aus dem erst wenige Jahre zuvor stattgefundenen Ersten Weltkrieg vorhanden, die Aufmärsche in Uniform und Marschmusik schätzten und an militärische Gewalt gewohnt waren, so wuchs auch das heutige Personal der extremen Rechten ohne Kriegserfahrung auf.

Die Strategie, die sich durchsetzt

Wie alle politischen Kräfte verhält sich auch die extreme Rechte so, wie es ihr in heutigen Zeiten und unter heutigen Bedingungen Erfolg bringen kann. Dazu gehörten phasenweise auch Umsturzfantasien von rechts, doch diese haben sich strategisch nicht bewährt.

Die Strategie, die sich durchsetzen konnte, läuft auf eine parlamentarische Machteroberung oder -beteiligung hinaus.

Diese könnte nun kurz bevorstehen.

These zu Macrons riskantem Schritt

Viele Beobachter ‒ darunter auch der Verfasser dieser Zeilen ‒ vertraten schon länger die These, Macron plane mittelfristig, im Falle eines Machtverlusts die politische Macht an die Rechtsextremen abzugeben.

Diesen Schritt unternimmt Macron im festen Glauben, diese anhand ihrer wirtschaftlichen Inkompetenz auf die Dauer vorführen zu können, und gleichzeitig im Willen, keine sonstige Alternative neben marktradikalen Wirtschaftsliberalen und Rechtsextremen (also sozusagen zwei Varianten von Sozialdarwinismus) aufkommen zu lassen.

Allzu deutlich wurde in den vergangenen Monaten und Wochen, dass Macron alles tut, um die extreme Rechte zu einer "glaubwürdigen Alternative" aufzubauen.

So lautete eines der zentralen Angebote Macrons im Europawahlkampf, er selbst könne sich ein Fernsehduell mit Marine Le Pen, der Fraktionsvorsitzenden des RN in der französischen Nationalversammlung, liefern. Doch diese war nicht Spitzenkandidatin, sondern Schlusslicht auf der eigenen Liste, und er selbst gar nicht Kandidat bei dieser Europawahl.

Nun tritt diese Prognose, die hinter den Kulissen auch von manchen anderen Beobachtern des französischen Politikbetriebs geteilt wird, ungeahnt schnell ein.

Am Sonntagabend gab Staatspräsident Emmanuel Macron die Auflösung des Parlaments und Neuwahlen bekannt, wie zuletzt sein Amtsvorgänger Jacques Chirac im April 1997. Dessen damaliger taktischer Fehltritt handelte ihm eine Cohabitation, d.h. eine erzwungene Koexistenz zwischen einem Staatspräsidenten und einer Parlamentsmehrheit sowie einem Premierminister aus entgegengesetzten politischen Lagern, mit einer sozialdemokratisch geführten Koalitionsregierung ein.

Damals verlor der sozialdemokratische Spitzenmann Lionel Jospin 2002 bei der folgenden Präsidentschaftswahl gegen den rechtsextremen Frontmann. Das war damals Jean-Marie Le Pen und seine Kandidatur löste seinerzeit noch Massendemonstrationen aus. In der Stichwahl verlor Le Pen dann gegen Jacques Chirac.

Die Lage jetzt

Jetzt ist das eine andere Situation. Wie sich die Dinge zur Neuwahl des Parlaments entwickeln, bleibt abzuwarten; erste Spontandemonstrationen gegen den sich abzeichnenden rechtsextremen Durchmarsch an die Regierung fanden bereits am gestrigen Sonntagabend auf den Pariser Plätzen République und Stalingrade statt.

Teile der Linken und der Gewerkschaften werden nun an den Antifaschismus appellieren. Sie müssen nur aufpassen, dabei in den Augen des Publikums nicht antiquiert zu wirken, selbst wenn diese Einstufung des RN inhaltlich absolut zutrifft. Der wirtschaftsliberale Macron stellt sich dagegen auf eine Strategie des Überwinterns ein.

Sein Minister Stéphane Séjourné kündete am gestrigen Wahlabend an, die Präsidentenpartei Renaissance werde überall dort, wo aussichtsreiche Bewerber "aus dem demokratischen Spektrum" in einem Wahlkreis antreten und deren Parteien bisher dessen Parlamentssitz innehatten, keine eigenen Kandidaturen aufstellen.

Damit dürfte die von Macron 2016 gegründete Partei Renaissance allerdings von vornherein keinerlei Chancen auf einen Wahlsieg haben. Schon heute fehlt ihr im seit 2022 zersplitterten Parlament eine Mehrheit.

Macrons Strategie läuft darauf hinaus, die Rechtsextremen regieren zu lassen, abzuwarten, um dann vor der nächsten Präsidentschaftswahl 2027 wieder auf der Matte zu stehen (allerdings kann er laut Verfassung selbst nicht als Präsident kandidieren). Er vertraut darauf, dass die Rechtsextremen sich bis dahin blamieren.

Eine gefährliche Strategie, ein Spiel mit dem Feuer.