Von der Exitstrategie zur Erfolgsstrategie
Politiker im Kongress fordern einen Rückzugsplan aus dem Irak, für den es vier Optionen gibt
Anfang August stellte Verteidigungsminister Rumsfeld bei einem Blitzbesuch im Irak zum ersten Mal wesentliche Truppenreduzierungen für das kommende Jahr in Aussicht. Rumsfeld machte diesen Schritt abhängig vom Verlauf der irakischen Parlamentswahlen im Dezember und der allgemeinen Sicherheitslage. Schon seit geraumer Zeit verlangen Kongressabgeordnete einen Plan für den Rückzug aus dem Irak. Sie fordern eine Exit-Strategie. Der Kongress belebt damit eine Besonderheit inneramerikanischer Strategiedebatten wieder neu.
The second part of our strategy is to help freedom prevail in Iraq. The recent violence in Iraq is a grim reminder of the brutal enemies we face in the war on terror. And we are a nation at war. The war arrived on our shores on September the 11th, 2001. And since that day, the terrorists have continued to kill.
Wenn über den Sinn und Zweck von Militärinterventionen diskutiert wird, wollen US-Politiker und die amerikanische Bevölkerung zu erst wissen, wann die eigenen Truppen wieder nach Hause kommen. Kongressmitglieder bestehen reflexhaft auf einer Exit-Strategie, bevor Militäreinsätze überhaupt beginnen. Ursache der Exitstrategie1 waren die Lehren aus dem Schlamassel des Vietnamkrieges und den Interventionen auf dem Balkan. Die Einsätze verlängerten sich, ohne dass ein Ende in Sicht war. Mit dem automatischen Ruf nach einer Exit-Strategie will der Kongress der schleichenden Ausweitung der Mission – dem sogenannten „Mission-Creep“ - einen Riegel vorschieben.
Diese Eigenart US-amerikanischer Strategiedebatten war zwischenzeitlich nach dem Schock der Anschläge am 11. September und vor dem Irakkrieg außer Kraft gesetzt. Vor dem Krieg in Afghanistan bzw. dem Irak-Feldzug forderte kein Kongressabgeordneter einen detaillierten Abzugsplan für die US-Truppen. Der „Rally-around-the-Flag“-Patriotismus griff. Die Zustimmung der US-Bevölkerung für die Sache des Präsidenten war so hoch wie nie zuvor. Die Kontrollmechanismen, die „Checks-and-Balances“ der ältesten Demokratie, waren blockiert. Niemand frage nach, wie lange der Einsatz in Afghanistan oder im Irak dauern sollte.
Die Abzugsoptionen
Nun steigen die Opferzahlen amerikanischer GIs im Irak. Mehr als 1.800 US-Soldaten wurden seit Beginn des Krieges getötet. Darauf reagiert die US-Bevölkerung seit Vietnam schon immer sehr sensibel. Die Zustimmung zum Präsidenten schwindet. Zusätzlich kostet der Krieg im Irak die USA über 5 Mrd. US-Dollar monatlich. Was nach der erfolgreichen Invasion eine Stabilisierungs- und Wiederaufbaumission sein sollte, ist zu einer voll entwickelten Aufstandsbekämpfung geworden. Das CENTCOM geht von 20.000 getöteten Aufständischen aus. Alleine in den letzten beiden Monaten sollen 2.000 getötet worden sein.2
Allerdings scheint diese hohe Vernichtungsrate den Rebellen keine operativen Schwierigkeiten oder Rekrutierungsprobleme zu bereiten. Im Gegenteil, der Widerstand ist so aktiv wie zuvor. Auch wenn der Vizepräsident Cheney im Mai tönte, der Widerstand liege im letzten „Todeskampf“, oder Außenministerin Rice kürzlich in einem Interview behauptet, den Rebellen würde die Puste ausgehen. In den Augen der US-Bevölkerung sinken die Aussichten für ein erfolgreiches Ende der Mission. Und dies macht dem Präsidenten mehr zu schaffen als die steigenden Opferzahlen.3 Dazu stehen im nächsten Jahr die Neuwahlen im Kongress an.
In dieser Situation wagen sich nun die Kritiker langsam aus der Deckung. Im Kongress formiert sich eine parteiübergreifende Koalition aus Republikanern und Demokraten. Sie fordern einen Rückzugsplan für die US-Truppen aus dem Irak - eine Exitstrategie. Das politische System der USA renkt sich wieder ein. Aber ein geordneter Rückzug, der kein Chaos hinterlässt, ist schwieriger zu planen als eine schnelle Invasion. Vier Optionen kursieren im Kongress und unter Experten in Washington:
- Eine erste Gruppe4 favorisiert den schnellen Abzug ohne Rücksicht auf mögliche Konsequenzen im Irak. Ihnen geht es nur noch darum zu verhindern, dass noch mehr US-Soldaten sterben. Das Risiko, dass der Irak bei einem übereilten Abzug der Amerikaner im Bürgerkrieg versinkt, ist hoch. Die Konsequenzen für die USA werden aber für tragbar gehalten. Mit dieser Position meldet sich die Stimme der Neoisolationisten zurück. Sie sehen gerade das außenpolitische Engagement der USA als Hauptursache für den internationalen Terrorismus. Gefordert wird deshalb eine reduzierte weltpolitische Rolle für Amerika - auch im Kampf gegen den globalen Terror. Der erste Schritt wäre der Abzug aus dem Irak.
- Die zweite Option sieht eine massive Verstärkung der US-Streitkräfte im Irak vor. Damit soll der Widerstand endgültig gebrochen werden. Eine massive Militärpräsenz soll das Land befrieden. Der Widerstand soll erdrückt werden. Die Bekämpfung des Aufstandes erfordert viele Soldaten vor Ort, die mit den einheimischen Kräften gemeinsam auf Patrouille gehen. Die durchlässigen Landesgrenzen, durch die viele Kämpfer in den Irak gelangen, sollen geschlossen werden. Bislang weigerte sich Bush jedoch vehement, zusätzliche Truppen in den Irak zu schicken. Die US-Armee stößt schon jetzt an ihre Leistungsgrenzen, wie ein Bericht der RAND Corporation im Juli feststellte.5 Demokratische wie Republikanische Senatoren fordern deshalb, die Gesamtstärke der US-Streitkräfte zu erhöhen - um weltweit für mögliche Krisen und Kriege ausreichend Truppen zur Verfügung zu haben. Bei dieser Option würde es erst nach einer Niederschlagung des Aufstandes zu einem US-Truppenabzug kommen. Um dass aber zu erreichen müssen erst mehr Truppen in den Irak geschickt werden.
- Die dritte Rückzugsoption ist an einen lockeren Zeitplan gekoppelt. Die Anhänger dieser Variante wollen amerikanische Truppen nicht auf Dauer im Irak halten. Sie sehen aber auch, dass die irakischen Sicherheitskräfte die US-Truppen derzeit nicht ersetzen können. Ihr Plan sieht deshalb vor, die Ausbildung irakischer Sicherheitskräfte mit internationaler Hilfe zu forcieren. Gesetzt wird auf eine „Irakisierung“. Immer mehr Sicherheitsaufgaben sollen die Iraker selbst übernehmen. Die USA winden sich so aus ihrer militärischen und politischen Verantwortung. Die Truppen können dann schrittweise reduziert werden. Diese dritte Option sieht kein festes Datum vor, sondern ein klar formuliertes Anforderungsprofil an die irakischen Sicherheitskräfte. Verteidigungsminister Rumsfeld und Außenministerin Rice haben in der Vergangenheit höhere Zahlen ausgebildeter irakischer Sicherheitskräfte angegeben als tatsächlich einsetzbar waren. Sie täuschten den Kongress. Eindrucksvolle 107 Bataillone oder 170.000 ausgebildete Soldaten und Polizeikräfte standen auf dem Papier. Tatsächlich waren nach einem Bericht des künftigen Generalstabschefs Peter Pace im vergangenen Monat gerade mal drei Bataillone, also etwas mehr als 3.000 Mann, in der Lage, eigenständig zu operieren. Die Ausbildung irakischer Kräfte soll nun messbar und für den Kongress überprüfbar werden. Die Formel lautet, dass irakische Sicherheitskräfte den US-Soldaten nicht ebenbürtig sein müssen. Sie müssen aber die Fähigkeit besitzen, den Widerstand nach Abzug der USA auch alleine zu bekämpfen. Experten gehen allerdings davon aus, dass es noch Jahre dauern wird, bis das vom Pentagon anvisierte Ziel von zehn voll ausgerüsteten und selbstständig operierenden irakischen Divisionen Wirklichkeit wird. Ein rascher Rückzug rückt damit in weite Ferne.
- Der US-Präsident selbst setzt auf die vierte Option – auf das „Weiter so“. In seiner Rede vor Absolventen des Marine Corps im Mai, zitierte er den Verfassungsprozess als Beweis dafür, dass seine Strategie aufgeht. Er weigert sich deshalb, mehr Truppen in den Irak zu schicken. Eine höhere Militärpräsenz erzeuge nur noch mehr Widerstand. Ein Umstand, der durch einen jüngst bekannt gewordener CIA-Bericht bestätigt wird. Demzufolge ist der Irak für Terroristen mittlerweile zum Magneten geworden. Aber nicht nur das. Der Irak ist inzwischen das, was in der jüngsten Vergangenheit Afghanistan war: Ein Ausbildungs- und Trainingslager für islamistische Kämpfer. Inzwischen vermutet der US-Geheimdienst sogar, dass viele islamistische Irakveteranen in ihre Heimatländer zurückgekehrt sind - vor allem nach Saudi-Arabien, Syrien, Jemen und Pakistan. Dort steigt nun die Umsturz- und Terrorgefahr. Der US-Präsident lehnt einen Termin für einen Rückzug entschieden ab. Statt von einer Exitstrategie spricht George W. Bush lieber von einer Strategie des Erfolgs. Allerdings ist seine Strategie bislang nicht aufgegangen.
Eine ganze andere Exitstrategie zeichnet sich inzwischen vor Ort ab. Die englische Tageszeitung „Mail on Sunday“ berichtete im vergangenen Monat über ein Memo des britischen Verteidigungsministers an Tony Blair. Danach gibt es bei den US-Truppen im Irak bereits konkrete Vorstellungen über eine Truppenreduzierung. In dem Papier heißt es, die USA strebten im Frühjahr an, 14 der 18 Provinzen in die Verantwortung irakischer Sicherheitskräfte zu übergeben. Nur vier Problemprovinzen sollten unter amerikanischer Kontrolle bleiben. Die US-Präsenz könnte von 150.000 Truppen auf 66.000 sinken.
Ein forscher Plan. Die Befehlshaber vor Ort im Irak liegen nun im Konflikt mit der politischen Führung. Washington sieht die Voraussetzungen für eine solche radikale Reduzierung noch längst nicht gegeben. Khalilzad, der neue US-Botschafter in Bagdad, hat vor zwei Wochen den Abzugsplan bestätigt und einen Sieben-Punkte-Plan vorgelegt. Der nationale Sicherheitsberater des Irak, al-Rubay'i, nannte bereits mögliche erste Städte, aus denen sich die US-Truppen zurückziehen könnten: Al-Diwaniyah, Karbala, Al-Najaf, Al-Nasiriyah, and Al-Samawah. Bevor die Truppenreduzierung Wirklichkeit wird, muss das Pentagon im Herbst die Truppenanzahl aber zunächst erhöhen, um das Verfassungsreferendum und die anschließenden Parlamentswahlen zu sichern.
Unabhängig davon, wie der Exitplan im kommenden Jahr im Einzelnen aussehen wird, ob die US-Truppen ganz abziehen oder nur teilweise, so wird amerikanische Einfluss im Irak wohl auf Dauer erhalten bleiben.
Ob eine Exitstrategie überhaupt sinnvoll ist, darüber lässt sich streiten. Einerseits macht sie es dem Gegner leichter, wenn die Pläne offen gelegt werden. Wichtiger als Debatten über Rückzugspläne sind zunächst einmal Debatten über die Kriegsziele im Vorfeld. Aber andererseits zwingen Exitstrategien in Demokratien die gewählten Regierungen und Präsidenten dazu, ihre Pläne der Öffentlichkeit gegenüber klar zu formulieren – und die Unterstützung der Öffentlichkeit ist essenziell.
Man mag die eigentümlichen Strategiedebatten der Amerikaner belächeln. Aber daran anschließend stellt sich die Frage, wie eigentlich die Exitstrategien der Bundesregierung für Afghanistan, Kosovo oder den Balkan aussehen?