Vor einer Repolitisierung?

20 Jahre nach dem Kreuzberger 1.Mai 1987 gibt es viele Varianten der linken Erzählung über die Ereignisse

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„Nee, nee, nee, eher brennt die BVG.“ Dieser Refrain aus dem Song Mensch Meier der Politband Ton Steine Scherben war zum Inbegriff des rebellischen Kreuzbergs der 70er und 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts geworden. Am ersten Mai 2007 war der Gassenhauer wieder auf Kreuzbergs Straßen zu hören. Also hat sich nichts geändert?

Nur auf den ersten Blick. Die Band, die sich nach Rio Reisers Tod besser „Erben der Scherben“ nennen sollte, spielte auf dem Myfest. Die bezirklich gesponserten Festivitäten, die seit 2003 immer mehr Menschen in den Stadtteil bringen, wurden mit dem erklärten Ziel etabliert, den Stadtteil vom Randale-Image zu lösen. Manche Politaktivisten sprechen von einer Befriedungsstrategie.

Viele der alten und jungen Ton Steine Scherben-Fans schien der gesponserte Auftritt nicht sonderlich gestört zu haben. Der Platz war überfüllt, obwohl fast zeitgleich zum Auftritt die revolutionäre 1.Mai-Demonstration erstmals durch das Myfest laufen konnte. Ca. 8000 Menschen haben sich daran beteiligt. Damit ist auch ein Wunsch der zivilgesellschaftlichen Myfestveranstalter in Erfüllung gegangen. Sie haben immer wieder betont, dass sie friedliche Demonstrationen nicht verhindern wollen und dass das Feiern und Demonstrieren gleichberechtigt am 1. Mai in dem Stadtteil möglich sein müsse. Die Probe auf das Exempel wurde in diesem Jahr erbracht. Die Demonstration konnte ohne große Probleme durch die teilweise schon angetrunkene Menge in bierseliger Feierlaune ziehen.

Das Myfest hat durch die Vereinbarung mit dem Demobündnis doch noch die lange vermisste Legitimation durch die linke Szene bekommen. Die Demonstrationsorganisatoren konnten wiederum beweisen, dass sie das Spiel mit der Militanz vor allem zur Mobilisierung der Anhänger nutzen können, aber sehr wohl zwischen Propaganda und Wirklichkeit zu unterscheiden wissen. So machte ein sogenannter Freiräumeblock, in dem politisch-kulturelle Projekte Berlins, deren Existenz gefährdet ist, enstanden, im autonomen Symbolismus Anleihen an die 80er Jahre. Doch in der Tagespolitik haben fast alle dieser Projekte in einem Offenen Brief ihre Unentbehrlichkeit für die Metropole Berlins betont. Damit setzen sie die autonome Symbolpolitik fort, die sich an bestimmten Schlüsseltagen radikal maskiert, im Alltag aber die eigenen, schon lange prekären Arbeits- und Lebensbedingungen kaum thematisiert.

20 Jahre danach

Der 1.Mai in Kreuzberg ist ein solches Schlüsseldatum. Vor 20 Jahren sorgte eine Mischung aus Wut über Polizeimaßnahmen und soziale Ausgrenzung für stundenlange Straßenschlachten. Die Polizei hatte sich sogar für eine Nacht aus Teilen des Stadtteils zurückgezogen. Diese Ereignisse sind schon längst Teil der großen linken Erzählung über den 1. Mai geworden.

Mittlerweile ist nicht wenigen damals im Stadtteil wohnenden Studenten verschiedener geisteswissenschaftlicher Fakultäten der Marsch durch die Medien gelungen. So ist es nicht verwunderlich, dass 20 Jahre danach verschiedene Versionen der Erzählungen über den 1.Mai 1987 aus den diversen Szeneblättern in die Feuilletons der großen Medien gewandert sind. Dort wird jetzt süffisant daran erinnert, dass die damals als Normalos gescholtenen Bürger auch beim Plündern schlauer als die linke Szene waren. Während letztere die aus aufgebrochenen Supermärkten erbeuteten Güter mit den Händen nach Hause getragen hätten, seien die Bürger schon mit großen Einkaufstaschen in die Läden gekommen.

Schon längst ist der 1.Mai 1987 auch im Kreuzberg Museum historisiert worden. Wurfgeschosse der Demonstranten sind dort ebenso hinter gläsernen Vitrinen zu betrachten wie autonome Szeneblätter. Ein Großteil der heutigen Kiez-Eliten des Stadtteils hat den 1.Mai miterlebt, teilweise aktiv mitgestaltet. Deswegen gibt es auch so verschiedene Erzählungen über das Ereignis. Während die einen den Tag als Vergangenheit begreifen, die man seinen Kindern und später den Enkeln erzählen kann, hat es die zersplitterte linke Szene schwieriger. Sie will aus den Ereignissen des 1.Mai 1987 Schlussfolgerungen für die aktuelle politische Arbeit ziehen.

Weil aber ein gemeinsames Projekt fehlt, kann man schon seit mehr als 10 Jahren das Schauspiel beobachten, dass sich diverse linke Gruppen um die richtige Erzählung über den 1.Mai und die Lehren daraus zanken. Zunächst stritten sich maoistisch geprägte Gruppen nicht nur verbal mit Autonomen, dann hatte die Popantifa das Feld betreten und dadurch noch mal eine ganze Generation jüngerer Menschen für den Kreuzberger 1.Mai begeistert. Doch sie sind heute meistens auch mit ihrem Studium am Ende und ziehen unterschiedliche politische Schlussfolgerungen. Das konnte man in diesem Jahr besonders gut beobachten.

Unterschiedliche Schlussfolgerungen

Ein Großteil der Aktivisten hat sich nach einigen Jahren ganz aus dem aktiven politischen Leben zurückgezogen. Für politische Ideen sind sie nicht mehr richtig zu begeistern, doch zu begeisterten Staatsbürgern sind sie auch nicht geworden. Für diese Menschen könnte der Roman Herr Lehmann von Sven Regner das Vorbild abgegeben haben.

Ein anderer Teil der ehemaligen Aktivisten will sich die Radikalität vor allem in der Theorie bewahren, sieht aber in der aktuellen Beschaffenheit der deutschen Gesellschaft und ausdrücklich auch der real existierenden linken Szene wenig Hoffnung auf emanzipatorische Politik. Aus diesen Kreisen wurde in Abgrenzung der verschiedenen Mai-Aktivitäten schon am 30.April eine Demonstration unter dem Motto Reduce the Maxx mit ca. 800 Teilnehmern organisiert. Die Kreise, die den 1.Mai 1987 noch für sehr relevant für die gegenwärtige Politik halten, hatten Demonstrationen um 13 Uhr und 18 Uhr angemeldet, die alle ohne größere Zwischenfälle über die Bühne gingen. Kleinere Ausschreitungen, die es auch in diesem Jahr gab, begannen lange nach dem Ende der Demonstrationen. Ein anderer Teil der ehemaligen Aktivisten versucht die eigene Situation als prekär Beschäftigte zu politisieren und organisierte den Mayday unter dem Motto Solidarität statt Prekarität.

Auch in diesem Jahr haben sich in Berlin über 8000 Menschen beteiligt. Darunter waren viele in die Jahre gekommene Aktivisten der Mai-Demonstrationen der frühen Jahre. Der Berlin-Chef der Tageszeitung Uwe Rada sieht im Mayday eine aktuelle Interpretation des historischen Ereignisses. Die Hinwendung zu aktuellen sozialen Themen interpretiert er als eine Repolitisierung des 1.Mai. In den letzten Jahren hatten sich auch die meisten Pressevertreter in der Regel nur für die Frage interessiert, ob die Auseinandersetzungen am 1. Mai in Kreuzberg größer oder kleiner als im Vorjahr waren. So ist es auch nicht verwunderlich, dass am 2.Mai 2007 die Ereignisse des Vortags in Kreuzberg außerhalb Berlins kein Thema mehr waren.