Vorbehalt gegen "Nato in aus dem Kalten Krieg überlieferter Form"
Schweden und Finnland wollen der Nato beitreten – in Österreich sind fast 80 Prozent der Bevölkerung gegen diesen Schritt. Die Parteien packen das heiße Thema kaum an. Ein Gespräch mit der Schriftstellerin und Publizistin Eva Schörkhuber über mögliche Gründe
Österreichs Armee ist – so darf man sagen "stolze" – Besitzerin von neun Black Hawk-Hubschraubern. Im Herbst 2021 kam es zu bisher unbekannt starken Waldbränden in Österreich. Die Militärhubschrauber sind zwar wenig geeignet für den Löscheinsatz, aber dennoch eine gewisse Hilfe. Als es auf der Rax lichterloh brannte, waren allerdings sieben der neun Hubschrauber in Reparatur und einer auf der "Leistungsschau des Bundesheeres" in Wien für Kinder, Jugendliche und sonstige Interessierte zu bestaunen.
Mit dieser Episode wäre die Wehrfähigkeit der nur mehr rund 50.000 Soldaten umfassenden österreichischen Armee ganz gut umrissen. Österreichs zuweilen possierliches Verhältnis zum Militär und die daraus erwachsende besondere Haltung zur Neutralität war hier bereits Thema.
Durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat sich dies überraschend wenig gewandelt. Dabei ähnelt die Stimmung in der Alpenrepublik der in anderen europäischen Ländern. Eine paradoxe Mischung aus Furcht und Häme herrscht, die einerseits die Misserfolge des russischen Militärs goutiert – und hierbei nicht immer humanistisch hochstehend agiert, schließlich ist der Tod eines jeden Menschen, auch der russischer Soldaten, beklagenswert – und andererseits nach besserem Schutz verlangt.
Aber eben nicht unbedingt Schutz durch einen Nato-Beitritt oder durch signifikante Aufrüstung. Fühlt sich das Land sicher, weil ohnehin von der Nato umringt? Könnte Österreich seine Neutralität international klüger nutzen? Lässt sich hierbei etwas von der Schweiz lernen? Diese Fragen einer nur schleppend in Gang kommenden Debatte versucht die Schriftstellerin und zeitkritische Publizistin Eva Schörkhuber zu erörtern.
Warum ist ein Nato-Beitritt – trotz der Anträge Finnlands und Schwedens – fast kein Thema in Österreich und wird von keiner politischen Partei ernsthaft angepackt? Zaghafte Versuche aus dem Umfeld der neoliberalen Neos und der Riege der Senioren in der ÖVP – etwa von Ex-Nationalratspräsident Andreas Khol – gab es, sie sind aber eher wieder versandet.
Eva Schörkhuber: Als Schutzschild für Debatten rund um eine Nato-Mitgliedschaft wurde bislang Österreichs "immerwährende Neutralität" verwendet: Sie dient nicht nur als Vorwand, nicht auf differenzierte Weise über Bündnispolitiken zu sprechen, sondern immer wieder auch dafür, sich in globalen Konflikten nicht positionieren zu können, respektive zu müssen.
Momentan sieht es ja auch angesichts des offenen Briefes zur Zukunft einer österreichischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, der am 9. Mai anlässlich des Europatages veröffentlicht wurde, so aus, als würde eine Debatte über die Möglichkeit einer Nato-Mitgliedschaft langsam, aber doch ins Rollen kommen.
Interessant ist dabei, dass die veranschlagte "Zukunft" einer so genannten Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf eine Bündnisstrategie fokussiert, die bis zum Angriff der russischen Armee unter dem Oberbefehl Wladimir Putins überholt erschien – sie ist ein Relikt des Kalten Krieges, eine Konsequenz aus einer sich zunehmend polarisierenden und militarisierenden Welt.
Dass nun wieder auf diese Art von militaristischer Bündnispolitik – ich habe momentan den Eindruck: beinahe reflexartig – zurückgegriffen wird, finde ich bemerkens- und vor allem auch bedenkenswert: Soll die Nato die Zukunft eines friedlichen Europas sein? Das scheint ein Widerspruch in sich zu sein, der sich aber vielleicht auch auf produktive Weise diskutieren lässt, etwa, indem Form, Funktion und Struktur der Nato als veränderbar wahrgenommen und in Frage gestellt werden.
Das allerdings scheint weder in den Beitrittsansuchen von Finnland und Schweden noch in dem offenen Brief in Österreich zur Debatte zu stehen. Vielmehr scheint die Nato in ihrer aus dem Kalten Krieg überlieferten Form eine Sicherheit zu vermitteln, die selbst Staaten wie Finnland und Schweden momentan erstrebenswert erscheint, die aber einer (Kalten) Kriegslogik entspringt.
Wie könnte eine aktive Neutralität aussehen, die nicht so erscheint wie Drückebergertum oder moralische Indifferenz? Der österreichische Journalist Robert Misik stellte unlängst die Frage, ob weltpolitisch von Österreich ausgesehen denn "wirklich alle Katzen grau" sind? Oder ob nicht genau zwischen Aggressoren und Überfallenen unterschieden werden müsste?
Eva Schörkhuber: Die Stärke einer aktiven Neutralität besteht aus meiner Sicht darin, sich nicht zwangsläufig einem Ja oder einem Nein, einem Entweder Oder verschreiben zu müssen. Im Hinblick auf die Nato könnte es zum Beispiel darum gehen, sich nicht auf die Frage, ob Beitritt ja oder nein, einzulassen, sondern einen Reflexionsprozess über die Geschichte, die Form und die Funktion dieses Militärbündnisses anzuregen und über seine Zukunft in einer Weise nachzudenken, die über die unmittelbare Aggression Putins hinausreicht und auch die kommenden globalen ökologischen und ökonomischen Verwerfungen in den Blick nimmt.
Aktive Neutralitätspolitik ermöglicht es, sich Zeit und Raum dafür zu nehmen, komplexe Zusammenhänge differenziert – aber eben nicht gleichgültig – zu betrachten und über nationale Ebenen und Interessen hinaus zu diskutieren.
Die in Österreich über Jahrzehnte hinweg praktizierte Neutralität ließ viele Konflikte gleich gültig stehen – diese Art der Gleichgültigkeit ist fatal, der Ausdruck für den berühmten österreichischen Fatalismus lautet "Wurstigkeit", die in den allermeisten Fällen nur der eigenen Bequemlichkeit beziehungsweise einem bequemen Opportunismus dient. Zwischen Aggressoren und Überfallenen, zwischen Tätern und Opfern zu unterscheiden, ist immens wichtig.
Diese Unterscheidung findet auf mehreren Ebenen statt und der je eigene Standpunkt dabei ist immer wieder einer Überprüfung zu unterziehen: Das gilt für affektive, emotionale Unterscheidungen ebenso wie für die Urteilsfindung am internationalen Strafgerichtshof. Dass es dabei immer einen Standpunkt gibt, der aufgrund von historischen, geografischen, sozialen, geschlechtlichen und ethischen Koordinaten sowie aufgrund der Informationen, zu die jede und jeder angesichts einer konkreten Situation kommt, zustande kommt, darf nicht außer Acht gelassen werden.
Darin besteht die größte Gefahr der Vorstellung von einer Neutralität, die sich in der Illusion erschöpft, gleichsam über den Dingen stehen zu können: die eigene Rolle, die eigenen Verstrickungen zu übersehen und unablässig zu reproduzieren.
Zu einer aktiven Neutralität gehört auch, bei der Unterscheidung von Aggressoren und Überfallenen über die nationalen Ebenen hinauszugehen und nicht darauf zu bestehen, Flagge zeigen zu müssen.
Konkret könnte das für eine aktive Neutralitätspolitik zum Beispiel bedeuten, auch Oppositionelle in Russland zu unterstützen, ihnen die Ausreise bzw. die Einreise in die EU zu erleichtern, damit sie ihre Arbeit an sichereren Orten fortsetzen können. Das ist anstrengend und unbequem, wäre aber "neutraler", als weiterhin die russischen Staats- und somit auch Kriegskassen mit dem Geld für Erdöl und Erdgas zu füllen.
Es gab ja auch den Vorschlag Österreich solle lieber dem Vorbild Schweiz folgen und sich durch starke Aufrüstung absichern? Was blieb von Bertha von Suttners "Die Waffen nieder"?
Eva Schörkhuber: Stärke und Aufrüstung gehen meistens mit Fragen nach Sicherheit einher: Unter welchen Umständen fühlt sich ein Staat, eine Bevölkerung, eine Region sicher? Und welche Mittel müssen in Betracht gezogen werden bzw. zum Einsatz kommen, um diese Sicherheit zu gewährleisten? Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ja nicht nur die Nato, sondern auch eine der Vorgängerinnen der heutigen EU gegründet – als durch ein Wirtschaftsbündnis kaschiertes Friedensbündnis.
Dass sich das heute mitunter ganz anders darstellt und gestaltet, steht auf einem anderen Blatt und muss an anderer Stelle diskutiert werden. Ich halte es jedenfalls für bedeutsam, dass eine Mitgliedschaft in dieser Union nicht zwangsläufig an die Mitgliedschaft in einem Militärbündnis gekoppelt wurde. Wenn wir uns heute auf einer globalen Ebene den Fragen nach Sicherheit und Verteidigung stellen, bemerken wir, dass diese weit über den Krieg in der Ukraine hinausreichen.
Es geht um Versorgungssicherheit, um die Verteidigung demokratischer Errungenschaften, um Verteilungskämpfe und entsetzliche Ungerechtigkeit. Gleichzeitig sind wir fortwährend mit akuten Kriegssituationen konfrontiert, die aus diesen globalen Verwerfungen resultieren und diese noch beschleunigen.
Darüber zu diskutieren, ob die pazifistische Forderung "Die Waffen nieder" noch und – wenn ja – in welcher Form ihre Berechtigung hat, bleibt jenen Regionen – etwa denen mit einer aktiven Neutralitätspolitik – vorbehalten, in denen die Menschen nicht unmittelbar um ihr Leben kämpfen. Das ist ein enormes Privileg, das auch Verantwortung bedeutet und sich nicht einem blanken "Waffen ja, unbedingt" oder "Waffen nein, unter keinen Umständen" erschöpfen sollte.
Noch haben wir hier, etwa in Deutschland und Österreich, die Zeit und den Raum, uns Gedanken darüber zu machen, wie wir uns Sicherheit – nicht nur eine so genannte nationale Sicherheit – vorstellen. Genauer gesagt, ob wir uns dafür rüsten wollen, in den kommenden Kämpfen um die immer knapper werdenden Ressourcen wie Wasser und für den Anbau von Lebensmitteln nutzbaren Boden die Oberhand zu behalten – oder ob wir uns lieber darin versuchen wollen, Ernährungssicherheit herzustellen und dabei mitwirken, Voraussetzungen zu schaffen, die in der Lage sind, die kriegerischen Logiken von Ausbeutung, Angriff, Überfall und Standgericht auszuhebeln.
Ich würde gerne darin die Stärke einer globalen Sicherheits- und Verteidigungspolitik sehen, dass sie sich angesichts der gegenwärtigen Situation neuen Fragen widmet, die sich nicht auf staatliche Territorien, auf nationale und militärische Bündnispolitiken beschränkt.
Ein Wort noch zur Schweiz?
Eva Schörkhuber: Nun, wie würde es denn der so gut geharnischten Schweiz ergehen, wenn sie von allen Seiten aufgrund ihres Reichtums an Geldreserven, vor allem aber an Wasser und fruchtbaren Böden bedroht würde?
Würde sie sich ganz alleine verteidigen können – und zu welchem Preis? Würde sie schließlich doch der Nato beitreten und würde dann der globale Nordwesten in den Krieg ziehen gegen jene Weltregionen, die er selbst ausgebeutet und verwüstet hat? Wohin soll das führen? Zu einem "bis zum letzten Mann" behaupteten Recht der Stärkeren, deren ’Stärke’ zu nichts anderem als zur Selbstauslöschung führt?
Es ist, denke ich, wirklich an der allerhöchsten Zeit, Sicherheit und damit auch Stärke in einer Weise zu betrachten, die den heutigen sozialen und ökologischen Verhältnissen angemessen ist. Die Schweiz ist darin momentan bestimmt kein Vorbild. Aber sie könnte eines werden, denn die Voraussetzungen dafür hätte sie.