Wahlenthaltung für europäische Idee

Die Wahl ist der erste Rückschlag für die erweiterte EU, Bezugspunkte der Wähler waren zudem die nationalen Politiken

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Wie muss eine korrekte Analyse der Wahl zum Europaparlament beginnen? Richtig, mit dem Thema Wahlbeteiligung. Diese alte Tradition wollen wir heute fortsetzen: Die Wahlbeteiligung bei der Europawahl 2004 war einmal mehr in vielen Ländern, gerade auch in einigen der neuen Mitgliedsländern, äußerst schlecht (auch wenn in manchen Ländern wie Belgien oder Zypern die Wahlbeteiligung wiederum sehr hoch war). Das immergleiche Wehklagen - das zeigte sich auch in diesem Jahr - bleibt allerdings folgenlos. Die Europa-Wahl ist unattraktiv und ritualisiertes Lamentieren treibt keine Wähler an die Urnen. Aber das ist schließlich auch nicht der Sinn. Die Erklärung liegt vielmehr im Auge des Betrachters, was beim Blick auf das politische Projekt "Europa" nichts Gutes bedeutet. Trotz fünfzig Jahre neuzeitlicher Europa-Idee ist der abendländische Kontinent für die Europäer mehrheitlich emotional entweder nicht existent oder negativ besetzt.

Aus dieser Situation ziehen die Skeptiker ihre Munition. Keine schwere Aufgabe, gingen doch den Jahrzehnten der Wirtschafts- und Währungsunion Jahrhunderte der politischen Konfrontation voraus. Lange wurde die Identifikation mit der Nation zum Ideal erhoben. Egal ob die Kultur ausschlaggebend war, wie im antiken Griechenland, wo nicht Griechisch Sprechende als Barbaren (Fremde, ungebildete Menschen) galten, oder es einen geographischen Raum zu verteidigen galt, wie zu Zeiten der Römischen Weltreiche. Sich selbst definierte man in erster Linie in der Abgrenzung zu den anderen. Auch während der Blockkonfrontation war das Trennende mühelos zu verorten, auch wenn der Zusammenschluss im westlichen Europa schon geprobt wurde.

Danach aber - als man statt zu differenzieren integrieren wollte - wandten sich viele Menschen vom gemeinsamen Kontinent ab und, weil sich unter der Systemidentität die nationalen Übereinstimmungen erhalten hatten, sich selbst zu - auch in Deutschland. Die Selbstbezogenheit der Völker durch eine "Europäische Identität" zu überwinden -gleichwohl eine Identität ohne Historie zu stiften-, diese beschwerliche Aufgabe hat sich die Politik vorgenommen, bisher allerdings nicht voran gebracht. Das Alte Europa trägt daran Mitverantwortung, denn als Vorbild für eine gute Zusammenarbeit war es für das Neue Europa untauglich. Die Wahl ist der erste Rückschlag für die Vergrößerung der EU im Mai dieses Jahres: In den wichtigsten neuen EU-Ländern war die Wahlbeteiligung besonders niedrig. Dabei haben alle Staaten Europas ein gemeinsames Problem: Die Spannung zwischen nationalstaatlicher- und europäischer Identität hat zugenommen und der visionäre Horizont eines einigenden Ideenraumes fehlt. Eine Währung alleine reicht den Europäern nicht.

Welches sind die Europa-Trends? Es gab sie nicht: Bezugspunkte waren die nationalen Politiken. Europäischen Themen wurden kaum diskutiert. In Deutschland stellte die FDP eine Ausnahme dar, auf Europaebene die "Europäischen Grünen". Populisten aus ganz Europa gehörten zu den Wahlgewinnern. In der Verbindung von nationalen Themenschwerpunkten und der Betonung von negativen Aspekten der Europäischen Union lag ihr Erfolg begründet. Die leeren Hände der EU-Befürworter hatten dem nichts entgegen zu setzen. Mit dem starken Kontrapunkt Europa wurde populistisch nach außen abgegrenzt und nach innen integriert. Von "anti-demokratisch" bis zum "Verändern durch Mitmachen": Bei der Europa-Wahl 2004 war ein breites Spektrum von populistischen Parteien vertreten.

Der Stellenwert der Wahl spiegelte sich auch in den Medien wieder. Beobachter sprachen noch am Wahlabend nicht von einer Wahlmüdigkeit, sondern von einer Fußballeuphorie. Ein attraktives Sportereignis gegen einen in großen Zügen ziemlich miefigen, manchmal sogar Anti-Wahlkampf-Wahlkampf: Der Wähler hat entschieden. Daran wird noch zu arbeiten sein bis zum Jahr 2009. Denn nach den jetzigen Indikatoren wird das politische Projekt "Europa" mit der nächsten Wahl stehen oder fallen. Wenn auf dem Weg dorthin kein Politikwechsel eintritt, keine europäischen Spitzenkandidaten mit europäischen Themen in den Vordergrund treten, die Aufmerksamkeit der Europäer sich der Entscheidungsmacht der europäischen Institutionen nicht angleicht: dann ist Europa gescheitert.

Wenn sich die Wähler immer noch fragen müssen: "Für was brauchen wir die Europäische Union?", hat die Pro-Europa-Politik versagt. Vorhandene Emotionen zu verstärken und, wenn nötig, zu entlocken, beherrschen Politiker aller Couleur gut. Menschen für etwas Neues zu begeistern, scheint ihnen Probleme zu bereiten. Denen die blind vor Liebe zum eigenen Vaterland sind, die Augen für Europa zu öffnen, denen, die den großen europäischen Raum nicht denken können, eine reale Vision aufzuzeigen: beides haben die Europabefürworter bis heute nicht geschafft.