Wahlkampf mit dem Tod

Der amerikanische Bestsellerautor Scott Turow kritisiert die Präsidentschaftskandidaten und die Justiz: "Das amerikanische Rechtssystem ist nur etwas für Reiche"

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Vor ziemlich genau einer Woche sorgte wieder einer jener Fälle für Schlagzeilen, die regelmäßig die Öffentlichkeit spalten. Im Todestrakt des Greensville-Gefängnisses im US-Bundesstaat Virginia wurde der 33jährige Italo-Amerikaner Derek Rokko Barnabei trotz massiver Proteste hingerichtet. Die Gerichte hatten ihn zuvor für schuldig befunden, 1993 seine damals 17jährige Freundin ermordet zu haben. Dass auf dem Körper des Opfers auch die Spuren anderer Männer gefunden worden waren, interessierte die Gerichte und den republikanischen Gouverneur Jim Gilmore nicht. Genauso wenig wie, dass der Verurteilte noch auf dem Weg zur Giftspritze seine Unschuld beteuerte, oder die Tatsache, dass sich der Papst persönlich für die Aussetzung der Hinrichtung eingesetzt hatte.

Es half alles nichts: Zweifel blieben über den Tod hinaus, dem Verurteilten werden sie nichts mehr nützen - am frühen Freitagmorgen des 16. Septembers starb Derek Rokko Barnabei. "Das ist unfair", meint Scott Turow und setzt sich erst einmal in einen tiefen Sessel.

Er habe ein Bandscheibenleiden und könne seinen Vortrag nicht im Stehen halten, entschuldigt er sich vor dem Publikum in der exklusiven Villa der American Academy am Wannsee. Scott Turow ist Rechtsanwalt aus Chicago und einer der erfolgreichsten amerikanischen Bestsellerautoren. Als sein Roman "Aus Mangel an Beweisen" 1987 mit Harrison Ford in der Hauptrolle verfilmt wurde, kam er quasi über Nacht zu Weltruhm. Gerade ist sein neuer Thriller "Die Gierigen und die Gerechten" auf Deutsch erschienen. Nach Berlin ist er gekommen, um über ein brisantes Thema zu sprechen - die Todesstrafe.

Zum ersten Mal seit zwölf Jahren ist sie wieder ein Thema im Präsidentschaftsrennen. 1988 antwortete der demokratische Bewerber Michael Dukakis auf die Frage, ob er für die Todesstrafe sei, falls jemand seine Frau vergewaltigen und ermorden würde, mit einem klaren "Nein". Diese Aussage gilt bis heute als eine der wichtigsten Ursachen für die spätere Niederlage gegen George Bush, den Vater des jetzigen Kandidaten George W. Bush, der gerne auf seine Bilanz von 135 Hinrichtungen verweist, die er als Gouverneur von Texas zu verantworten hat. "Er ist so etwas wie der Weltmeister im Unterschreiben von Todesurteilen", meint Scott Turow sarkastisch. Doch auch Al Gore gibt sich gern als harter Hund. Der demokratische Vizepräsident verweist darauf, dass die Anwendung der Todesstrafe unter Präsident Clinton noch erweitert worden ist. Mit Gespür für öffentlichkeitswirksame Aktionen unterschrieb Clinton ein Gesetz, dass es Bundesgerichten erlaubt, weitere 50 Taten mit dem Tod zu bestrafen.

Scott Turow dagegen hat schon zum O.-J.-Simpson-Prozess kritische Interviews gegeben, die allerdings, wie er selber einräumt, in der Flut der Kommentare und Fernsehbilder untergegangen sind. Doch seine Zuhörer in der Academy überrascht er, indem er es vermeidet, klar Stellung gegen die Todesstrafe zu beziehen. "Meine Frau Annette ist sogar dafür", sagt er stattdessen. Und fragt gleich zu Beginn provokativ: "Wie würden Sie denn entscheiden, wenn Hitler nicht im Bunker Selbstmord begangen, sondern überlebt hätte?"

Ihm ist nur allzu bewusst, dass er mit einer kategorischen Ablehnung der Todesstrafe in Amerika, wo rund sechs Mal so viele Morde verübt werden wie in Westeuropa, keinen Erfolg hätte. Deshalb wählt er eine andere Strategie. Er plaudert aus dem Nähkästchen. Und das steht bei Rechtsanwälten meist im Gerichtssaal. Er erzählt zum Beispiel von Alex Hernandez, den er in einem Revisionsverfahren unentgeltlich verteidigt hat. Der schwarze Latino mit einem Forrest-Gump-ähnlichen IQ von 75 wurde wegen Mordes an einem fünfjährigen weißen Mädchen zum Tode verurteilt, obwohl sich zu diesem Zeitpunkt längst ein anderer Täter zu diesem Mord bekannt hatte. Es dauerte insgesamt zwölf Jahre, bis die Gerichte die Unschuld von Hernandez anerkannt und ihn endlich entlassen hatten. "Da liegt das Problem - es ist die Justiz", meint Scott Turow. Mit einem unterbezahlten Pflichtverteidiger hätte Hernandez keine Chance gehabt. "Das amerikanische Rechtssystem ist nur etwas für Reiche."

Nach einer kürzlich vorgestellten Studie der Columbia Universität sollen bei 4.578 untersuchten Fällen zwischen 1973 und 1995 die aufgetretenen Fehler so gravierend gewesen sein, dass "die meisten von Neuem aufgenommen werden mussten." Schuld daran seien eine inkompetente Verteidigung oder schlecht geführte Ermittlungen gewesen. Aus diesem Grund hat der republikanische Gouverneur von Illinois, George Ryan, in diesem Januar ein Moratorium für Exekutionen verhängt und Scott Turow in eine Expertenkommission berufen, die Verfahrensabläufe verbessern soll.

Zu den Erfolgschancen äußert sich Scott Turow nicht. Doch ein Blick auf seine Romane verrät eine skeptische Einstellung. Immer wieder prangert er das korrupte und inkompetente Justizsystem an. In seinem neuen Roman geht ein Anwalt mit Mikrofon und Minikamera auf die Jagd nach bestechlichen Richtern. Er selbst arbeitet seit 1989 nicht mehr Vollzeit als Anwalt. "Ich suche mir genau aus, welche Fälle ich noch übernehme." Aufgeben will er seinen Beruf aber nicht. Warum? "Weil man mit Romanen keine Menschenleben retten kann."

Mit Mikrokameras gegen korrupte Richter

Nicht John Grisham und auch nicht Richard North Patterson gelten in Amerika als die Erfinder des modernen Gerichtsromans, sondern der Star-Anwalt Scott Turow aus Chicago. Als dessen erster Thriller "Aus Mangel an Beweisen" 1987 mit Harrison Ford in der Hauptrolle verfilmt wurde, kam er quasi über Nacht zu Weltruhm. Seine nächsten Bücher waren nicht nur auf die Spitze der Bestsellerlisten abonniert, sondern landeten auch schnell in den Händen der Studio-Bosse aus Hollywood.

Von seinem neuen Thriller "Die Gierigen und die Gerechten" war Dustin Hoffmann derart begeistert, dass er sich kurzerhand für rund 5 Millionen Dollar die Filmrechte sicherte. Und die Hauptrolle gleich mit dazu. Es geht um den auf Schadensersatzklagen spezialisierten Anwalt Robbie Feaver, der nicht nur eine Schwäche für Frauen, sondern auch für ein stets gefülltes Bankkonto hat. Deshalb hilft er durch kleine "Spenden" an die richtigen Stellen manchmal etwas nach, um Urteile in seinem Sinne zu beeinflussen. Als der Staatsanwalt Stan Sennett darauf aufmerksam wird, lässt er Feaver keine Wahl: Kooperation, wenn er nicht im Gefängnis landen will. Mit Mikrofon und Minikamera geht er auf Richterjagd. "Die Gierigen und die Gerechten" basiert auf einem authentischen Fall, in dem Scott Turow zu Beginn der achtziger Jahre selber als Anwalt gegen korrupte Richter gekämpft hat. Sein Roman ist nicht nur spannend geschrieben, sondern spart auch nicht mit Seitenhieben auf die Schattenseiten des amerikanischen Justizsystems. Alexander Remler

Scott Turow: "Die Gierigen und die Gerechten". Roman. Aus dem Amerikanischen von Klaus Kamberger. Karl Blessing Verlag, München 2000, 544 S., 49,90 DM