Walter Benjamin, Leo Trotzki, Paul Klee und F. Scott Fitzgerald
Was am 1.1.2011 alles gemeinfrei wird
Mit dem kommenden Jahreswechsel werden eine ganze Reihe von bis dahin urheberrechtlich geschützten Werken gemeinfrei. Grund dafür ist, dass ihre Autoren 1940 starben und dann über 70 Jahre lang tot sind. Die dafür maßgebliche Frist wird nicht exakt berechnet, sondern läuft jeweils erst mit dem 31. Dezember eines Jahres ab.
Die wichtigsten gemeinfreien Werke kommen dieses Jahr aus dem Bereich des politisch-philosophischen Schrifttums, aus dem mit Walter Benjamin, Leo Trotzki und Emma Goldman gleich drei Schwergewichte vertreten sind.
Walter Benjamin beging am 26. September 1940 in den Pyrenäen auf der Flucht vor der deutschen Wehrmacht Selbstmord. Sein bekanntestes Werk ist ein relativ schmaler Essay, der eine für die damalige Zeit bahnbrechende Erkenntnis enthält: In "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" offenbart Benjamin eine Erkenntnis, die im digitalen Zeitalter noch weitaus wichtiger werden sollte als zum Zeitpunkt ihrer Niederschrift. Bei seiner Beschäftigung mit den Auswirkungen technischer Reproduzierbarkeit stellte er fest, dass ein Weiterfunktionieren der Kategorie "Kunst" in der Moderne über eine das Kunstwerk umgebende "Aura" ermöglicht wird.
Solch eine Aura kann beispielsweise die künstlich geschaffene Knappheit über limitierte und handsignierte Auflagen sein. Wirtschaftsakteure, die Benjamins Erkenntnisse (bewusst oder unbewusst) berücksichtigten, kamen mit der digitalen Umstellung wenig überraschend wesentlich besser zurecht als solche, die anderen Theorien folgten. Darüber hinaus erahnte der hauptsächlich als Literaturkritiker und Übersetzer arbeitende Philosoph in seinem Fragment "Kapitalismus als Religion" eine Wahrnehmung ökonomischer Begriffe als übernatürliche Mächte, die sich ebenfalls erst Jahrzehnte später zu einem allgemein erkennbaren Phänomen entwickelte.
Nicht auf der Flucht vor den Nationalsozialisten, sondern auf der vor Stalin starb der sowjetische Revolutionär Lew Dawidowitsch Bronstein alias Leo Trotzki. Er wurde am 21. August 1940 von dem Agenten Ramón Mercader ermordet, der in Mexiko die Sekretärin des prominenten Einwanderers verführte, um sich Zugang zu ihm zu verschaffen. Trotzki hinterließ zahlreiche theoretische Schriften, darunter "Das Verhältnis der Arbeiterklasse zur Pressefreiheit" und "Lernt denken - ein freundlicher Rat an gewisse Ultralinke".
Von Emma Goldman, der dritten wichtigen politischen Philosophin, deren Werk 2011 gemeinfrei wird, erschien unlängst noch die Autobiographie in einer neuen Auflage, bevor sie in älteren Editionen gemeinfrei kopiert werden kann. Die aus Litauen in die USA eingewanderte Theoretikerin des Anarchismus wurde 1916 wegen der Verbreitung von Informationsmaterial zur Geburtenkontrolle inhaftiert und 1919 auf Betreiben von J. Edgar Hoover in die Sowjetunion abgeschoben. Von dort aus ging sie über England, Frankreich und Spanien nach Kanada, wo sie am 14. Mai 1940 starb.
Aus einer anderen Ecke der politisch-philosophischen Landkarte stammen die Schriften des jamaikanischen Rassisten Marcus Garvey. Er wanderte 1914 in die USA aus und gründete dort die UNIA, die Universal Negro Improvement Association. Mit seiner Befürwortung von Rassentrennung und seinem Slogan "Back to Africa" setzte er sich in Gegensatz zu afroamerikanischen Zeitgenossen wie W.E.B. Du Bois, den Garvey als "Mulatten" schmähte. Um Afrikanern und Afroamerikanern die Verehrung weißer Idole zu ersparen, predigte der Jamaikaner, der sich in seinen Reden und Schriften stark an der Sprache der Bibel orientierte, von einem schwarzen Gott. Seine Vision der Krönung eines schwarzen Königs in Afrika gilt als Katalysator der Rastafari-Religion.
Im Bereich der Belletristik ist F. Scott Fitzgerald der bedeutendste bald gemeinfreie Autor. Sein wichtigstes Werk, The Great Gatsby, wurde erst nach seinem Tod am 21. Dezember 1940 zum Klassiker. Ebenfalls wichtige literarische Beiträge leistete Isaak Emmanuilowitsch Babel, ein aufseiten der Roten Armee teilnehmender Beobachter der Brutalitäten des russischen Bürgerkriegs, der später mit Sergej Eisenstein zusammenarbeitete und im Januar 1940 einer Säuberungsaktion zum Opfer fiel.
Am 10. März 1940 starb ein anderer Russe, der Satiriker Michail Afanassjewitsch Bulgakow, der im Bürgerkrieg in der Weißen Armee diente. Trotzdem kommunizierte er in den 1930er Jahren persönlich mit Stalin und starb, anders als Babel, eines natürlichen Todes, obwohl er sich über Schikanen und mangelnde Aufträge beklagte und deswegen sogar mit Emigration drohte. Bulgakows wichtigstes Werk, die bezugsreiche Groteske "Der Meister und Margarita", erschien erst posthum in den 1960er Jahren.
Der am 22. Juni 1940 in Frankreich verstorbene deutsche Expressionist und Okkultist Walter Hasenclever war ebenfalls vom Kriege geprägt. Die Frontkämpfererfahrung des Schriftstellers hielt die Nationalsozialisten nicht davon ab, seine Bücher zu ächten, worauf hin er nach Südfrankreich emigrierte, wo er im Zweiten Weltkrieg wie viele andere Flüchtlinge als feindlicher Ausländer interniert wurde. Als die Wehrmacht auf das Lager Les Milles zumarschierte, beging er Selbstmord. Bekannte Werke Hasenclevers sind der Gedichtband "Der Jüngling", das Kindheitsdrama "Der Sohn", die Kriegstragödie "Antigone", der autobiografische Roman "Die Rechtlosen" und die Komödie "Ehen werden im Himmel geschlossen", für die er sich wegen Blasphemie vor Gericht verantworten musste.
Ebenfalls gemeinfrei werden die Werke der schwedischen Lehrerin Selma Lagerlöf, die am 16. März 1940 an einem Schlaganfall starb. Ihr bekanntestes Werk ist der Entwicklungsroman "Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen", den die erste weibliche Literaturnobelpreisträgerin 1906 für den schwedischen Volksschullehrerverband als Lesebuch verfasste, ihr bestes aber "Gösta Berling".
Dass sich Lagerlöf heute etwas angejahrt liest, heißt keineswegs, dass ihr Werk ohne Charme wäre und sich die Lektüre nicht lohnen würde: Dies gilt ebenfalls für den amerikanischen Science-Fiction-Autor Philip Francis Nowlan, den Erfinder der Figur Buck Rogers, die 1928 in seiner Novelle Armageddon 2419 A.D erstmals auftauchte und danach über Comic-, Radio-, Film- und Fernsehserien berühmt wurde.
Bedeutendster bald gemeinfreier Toter im Bereich der bildenden Kunst ist der am 29. Juni 1940 verstorbene Paul Klee, ein Mitglied der Gruppe "der blaue reiter". Den Militärdienst im Ersten Weltkrieg überlebte Klee relativ untraumatisiert, indem er unter anderem Flugzeugen Tarnanstriche verpasste. Später wurde er Lehrer am Bauhaus. 1933 emigrierte er nach Bern und 1937 verwendeten die Nationalsozialisten 17 seiner Bilder in ihrer Abschreckungsausstellung "Entartete Kunst".
Am 17. November 1940 starb Eric Gill, ein bedeutender Vertreter des Arts and Crafts Movement. Von diesem britischen Bildhauer und Grafiker stammen unter anderem die Schriften Gill Sans, Perpetua und Joanna, außerdem zahlreiche Reliefs an Häusern. Ebenfalls Typograf (aber auch Maler, Designer und Architekt) war Peter Behrens, der am 27. Februar 1940 verschied. Seine umfassenden Arbeiten für AEG gelten als erstes Corporate-Identity-Kunstwerk und in seinem Architekturbüro arbeiteten Walter Gropius, Ludwig Mies van der Rohe und Le Corbusier bevor sie berühmt wurden. Straffrei fotografiert werden dürfen ab dem 1.1.2011 auch die von Alfred S. Alschuler entworfenen Gebäude, nach dessen Plänen in Chicago zahlreiche Büro- und Industriekomplexe errichtet wurden.
Im Bereich der Musik bringt das nächste Jahr keine besonders großen Namen in die Gemeinfreiheit, aber dafür viele: darunter die deutschen Operetten-, Revue- und Filmmusikkomponisten Victor Hollaender ("Kirschen in Nachbars Garten") und Walter Kollo ("Mein Papagei frisst keine harten Eier"), den Zitherspieler Georg Freundorfer ("An der schönen grünen Isar "), den Franzosen Jean Vuillermoz ("Promenade Zoologique"), den Engländer Donald Francis Tovey ("The Bride of Dionysius"), den russischen Spätromantiker Paul Juon ("Das goldene Tempelbuch"), die Tschechin Vítězslava Kaprálová (die viele Weihnachts- und Kinderlieder schrieb), den dänischen Violinisten Fini Valdemar Henriques, seinen kubanischen Kollegen Alejandro García Caturla und den Venezolaner Andrés Delgado Pardo, dem die Welt die Oper I Due Rivali y Símon Bolívar verdankt.
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