Wandernde Augen und ein sich drehender Geist
Geschichte des globalen Gehirns XVII
Jede Epoche bringt neue Puzzles mit sich. Die Kultur oder die Subkultur, die sich um die wichtigste Antwort bildet, gelangt an die Spitze. Alle Gruppen verlangen nach Ruhm und Reichtum, die denen zuteil zu werden, deren Zusammensetzung ein immer wieder anderes Schloß öffnet.
Athen setzte sein Schicksal auf den Pluralismus und brütete eine die Kulturen verbindende Vielfalt aus. Sparta hingegen spielte mit dem Einsatz der Hypothese eines einheitlichen Maßstabs, einer von der Geburt bis zum Grab reichenden, mit Schablonen arbeitenden Konformität. Die subkulturellen Wetten folgten denselben Schemata. Die Sokratiker stellten felsenfeste Sicherheiten in Frage und ließen rebellierende Vielheiten durchbrechen. Die Pythagoreer erzwangen, zumindest solange Pythagoras die Aufführung in seiner Enklave in Croton inszenierte, die Unterwerfung unter einen Meister und meißelte Uniformität heraus. Welche Hypothese, die Konkurrenz der vielen Stimmen oder Zwang zu einer einzigen Stimme, sollte sich als die richtigste von allen erweisen? Die Antwort darauf hat sich durch Zufallsversuche herausgebildet, deren Wellen kontinuierlich steigen und fallen.
Man erinnere sich an die fünf Elemente des komplexen adaptiven System: Konformitätsverstärker, Diversitätserzeuger, Nutzensortierer, Ressourcenverteiler und Konflikte zwischen Gruppen1. In den letzten Kapiteln hatten wir die Nutzensortierer untersucht. Das sind biologische Reaktionen, die uns zum Schweigen bringen und uns in eine Nußschale zwängen oder uns öffnen und höllisch herumtanzen lassen. Jetzt ist es jedoch an der Zeit, die Konflikte zwischen Gruppen und die Ressourcenverteiler unter die Lupe zu nehmen.
Von 500 bis 300 v. Chr. gab es gleichzeitig drei Stränge von Konflikten zwischen Gruppen. Die Perser kämpften mit den Griechen um die Vorherrschaft über die am Ägäischen Meer liegenden Gebiete. Eine Ebene weiter unter lagen eine Reihe von Stadtstaaten im Wettstreit um die Führung in dem als Griechenland bekannten Geflecht von Staatswesen2. Und unter, innerhalb und um diese Kämpfe herum versuchten Subkulturen die Denk- und Empfindungsweisen der Menschen zu formen. Auf jeder Ebene hallte dasselbe Motiv wider: Pluralismus oder Uniformität, Zentralismus oder Parallelismus, Demokratie oder Tyrannei, also alle Variationen der Themen, mit denen der Urknall seinen Ausbruch begonnen hat: Anziehung oder Abstoßung ... Konformität oder Vielfalt.
Der große Konflikt zwischen Gruppen des frühen fünften Jahrhunderts ließ die zänkischen Griechen auf die Macht des Persischen Reichs prallen. Der persische Kaiser Xerxes3 mobilisierte zwischen 300000 und einer Millionen Soldaten und Matrosen4 und stieß dann tief in das griechische Mutterland vor, das nur von 75000 Griechen verteidigt wurde. Seine Truppen brannten Athen nieder, aber zur großen Überraschung von allen wurde er 4795 besiegt. Als während der Landschlacht in Platea sich das Blatt teilweise zu wenden begann, gingen die Spartaner in ihre Heimat6 zurück, um den Sieg zu feiern. Doch es war der Zusammenstoß von vielen Schiffen bei Salamis, der endgültig den Tag beschloß. Die Athener standen an der Spitze bei diesem Kampf und behielten das Kommando über die alliierte Kriegsflotte, die die knurrenden Perser auf ihren Platz verwies. Die darauf folgenden siebzig Jahre stellten das Jahrhundert Athens dar. Die Macht in dieser Zeit kam nicht aus der speziellen Eigenheit der Spartaner, Soldaten über Berg und Tal7 marschieren zu lassen, dann sich nach Hause zurückzuziehen, die Tore vor den Fremden8 zu schließen und sich für den nächsten Kampf zu rüsten. Die Vorherrschaft war vielmehr ein Ergebnis des Seehandels9 und von offenen Grenzen. Perikles war der Politiker des Tages. Um die weit auseinander liegenden Knoten der Griechen zu einem Netzwerk zu verknüpfen, das durch Handel, Gruppenverteidigung und Politik funktionierte, mußte er die Führer von vielen der aufsässigen "alliierten" Stadtstaaten10 niederschlagen. In manchen Staststaaten ließ er die Bürger niedermetzeln, verbannen11 oder versklaven, was nicht gerade von einer toleranten Großzügigkeit Zeugnis ablegt. Meist jedoch unterstützte er den Ausbau der Demokratie. 12
Perikles war die personifizierte Pluralismushypothese. Seine Freunde waren Einwanderer aus der gesamten griechischen Welt. er brachte sie zusammen und führte sie zum Dionysos-Theater, um den neuesten Übungen in der Redefreiheit zuzuhören, wie beispielsweise den Tragödien von Euripides, die auf die alten Götter einschlugen udn die Tradition auf den Kopf stellten. An seiner Seite befand sich Phidias, der Bildhauer, Sokrates, der Ideenverarbeiter, Anaxagoras, der Protowissenschaftler aus Clazomenae13 und seine unternehmungslustige und Kinder gebärende Sexualpartnerin Aspasia, eien brillante Mileserin, die einen der weltweit ersten intellektuellen Salons betrieb, aber nicht seine Frau, sondern seine Mätresse war.
Das Goldene Zeitalter des Perikles ermöglichte das Aufblühen, das zu Athens Platz in der Geschichte führte: die mit Säulen aus Marmor ausgestatteten Gebäude und die literarischen Werke, die einen Eckstein der westlichen Kultur bilden. Doch trotz der Dauerhaftigkeit dieser Monumente, waren die Konflikte unter den Gruppen nicht vorbei - und sie hören auch niemals auf. Zwischen den griechischen Staaten brach 459 ein Krieg aus. Athen gelang es, ihn auszutreten. 14 446 schlug Sparta15 mit militärischer Wucht zu, was die Athener geschickt parierten. Seit 431 prallten im Peleponnesischen Krieg die Spartaner wieder auf die Athener und/oder umgekehrt. Athen kämpfte mit einer Hand, während es mit der anderen seine Seeherrschaft, seinen Reichtum und seine Explosion im Theater, in der Bildhauerei und Phiolosophie zu sichern suchte. Im Jahr 404 wurde Athen schließlich auf katastrophale Weise von Sparta besiegt.16
Sparta kontrollierte jetzt die Kabel des griechischen Intranet. Athen erlebte bestenfalls eine Wiederauferstehung als Geist seiner früheren Blüte17. Sein einst rauher Pluralismus verwelkte auf dem Wein.18 Das wurde mit der Herrschaft eines neuen Philosophen deutlich, dessen Werk das autoritäre Unternehmen von Pythagoras destillierte. Unter der Ägide des Neulings erlebten die von den introvertierten Subkulturen favorisierten Denkweisen einen neuen Höhepunkt. Doch fünfzig Jahre später sollte all dies schon wieder von einer anderen Überraschung aus dem Lager der Extrovertierten beendet werden.
Von der Niederlage der Perser bis zum Ende der Vorherrschafts Athens stellte jede tektonische Veränderung in der Politik das Gleichgewicht zwischen Persönlichkeitstypen, den von ihnen geschmiedeten Subkulturen und der daraus folgenden Herrschaft der Philosophien neu ein. Aber um die Gründe dafür zu verstehen, müssen wir zuerst erneut in die Tiefen der Biospychologie eintauchen.
Folgt dem Führer
Der Ressourcenverschieber schaufelt die Güter einer Gesellschaft von den Verlierern zu den Gewinnern auf eine Weise, die wegen ihrer Mitleidlosigkeit bemerkenswert ist. Einer der mächstigsten Ressourcenverschieber ist nicht das Geld, sondern Einfluß, der Joystick des kollektiven Geistes.
Die menschliche Gier nach Aufmerksamkeit und Überzeugungskraft ist weitaus grundlegender, als die meisten wissen. Selbst "intelligente Moleküle" konkurrieren darum, "das Ihre zu sagen."19 Zu diesen gehören die Rezeptoren, die wie Nieten die Oberfläche einer Zellenmembran übersäen. Auch wenn diese Knäuel von Atomen dumm zu sein scheinen, so können die Rezeptoren Entscheidungen treffen und haben einen primitiven IQ20. Wenn ein vorbeitreibendes Molekül genau in die Falle paßt, die sie außen tragen, klingeln ihre Erkennungsglocken und lassen ein Eureka an die Menge der Rezeptorenkollegen ertönen, die auf der zellulären Haut verstreut sind.
Sollte der Fund des Rezeptors etwas Seltenes und sehr Benötigtes sein, beenden die anderen Ausschau haltenden Moleküle, was sie gerade machen, und schließen sich dem Zeter und Mordio an, wodurch sie die ganze Zelle alarmieren. Das gemeinsame Glockenspiel der Rezeptoren einer Zelle läßt die Geißeln eines Bakteriums herumwirbeln, die das Lebewesen in Bewegung setzen und es dem Futter entgegen treiben oder von einer Gefahr wegpeitschen. Doch der Geschmack einer Rezeptorgemeinschaft verändert sich schnell. Eine "Entdeckung", die vor einer Stunde noch heiß war, kann jetzt so gewöhnlich wie nur irgendwas sein. Wenn ein Rezeptor auf etwas Abbauwürdiges gestoßen sein sollte, das aber jetzt dauerhaft zur Verfügung steht, so wird seine Botschaft das verlieren, was Dennis Bray von der Cambridge University seine Fahrkarte zu Ruhm und Popularität nennt. Andere Rezeptormoleküle werden sein "He, ich habe es gefunden" fast gänzlich überhören.21 Im Kampf um Aufmerksamkeit ist die Wahl des richtigen Augenblicks alles.
Eine Hierarchie ist, wie John Holland bemerkte, als er eine allgemeine Theorie intelligenter Maschinen entwarf,22 ein weiterer wichtiger Punkt. Je höher man sich auf dem Totempfahl befindet, desto mehr Nahrung23, Sex und Vergünstigungen24 säumen den Weg. Doch der wirkliche Preis ist das Recht, daß alle Augen auf einen gerichtet sind25, also daß man die Massenwahrnehmung steuert, den "common sense" lenkt und die Vorstellungen anordnet, die vom Chor der anderen wiederholt werden und diesen als richtig und vernünftig erscheinen. Bei Affen, Pavianen oder Schimpansen laufen die meisten Männchen gebeugt umher und sind nervös, wodurch sie Unsicherheit ausstrahlen. Es gibt einen Ort, zu dem ihre Augen immer wieder hinblicken. Dort hält sich ein vornehmes Tier26 auf, dessen Fell auf hoheitsvolle Weise aufgerichtet ist.27 Weibchen kraulen es,28 Jugendliche buhlen um seine Gunst und Kinder lehnen sich an seine Füsse29. Manche sinken wie Groupies ohnmächtig zu Boden. Ein junges Berggorillaweibchen, das von Diane Fosse beobachtet wurde, starrte täglich vier Stunden auf das Gesicht ihres Gruppenführers. Wenn er sich dazu herabließ, in ihre Richtung zu blicken, lief sichtbar ein Lustschauer über ihren Körper. 30Wer sich außerhalb des königlichen Hofstaates befindet, sucht nach Hinweisen von seinem Herrscher31, ob ihn Schläge oder eine Belohnung erwarten, ob er sitzen oder stehen soll. Wenn der Meister sich nämlich auf seinen Hinterbacken niederläßt, folgen alle dem vornehmen Beispiel32. Seine Macht ist so groß, daß schon die kleinste Ausdrucksveränderung seine Untergebenen zur Eile veranlassen kann, ihn zufriedenzustellen33. Was er macht, machen sie auch. Sie ahmen den Stil seines Verhaltens und sogar seine Stimmungslage nach.34 Seine Politik, sei sie despotisch oder nachgiebig, überträgt sich auf die ganze Gruppe35. Seine Strategien auch in solchen elementaren Dingen, wie man Nahrung zerlegt und wann man ißt, sind der letzte Schrei36. Er dirigiert ein System von Augen, Ohren, Händen und Gehirnen und bindet seine "Untergeordneten" in die "Aufmerksamkeitsstruktur"37, wie dies der Primatologe Michael Chance genannt hat, ein: in einen kollektiven Blick.
Die Aufmerksamkeitsstruktur bei den Menschen offenbart sich bei Kleinkindern, Vierjährigen38, Majaherrschern39 und den Mitglieder afro.-amerikanischer Gangs40. Auf einer Party in den USA, bei der alle angeblich gleich sind, zeigen Männer mit geringerer Macht emotionale Nervosität und suchen nach Konversationszeichen bei jenen, die Überlegenheit aussenden. Überlegene haben einen unauffälligen Gesichtsausdruck und vermitteln die tierischen Signale für Ruhe, Kontrolle und Würde, allesamt basierend auf Serotoningaben41, dem biologischen Ambrosium, das sogar vom Machtgefühl eines siegenden Flußkrebses ausgeschüttet wird.
Es gibt weitere kleine Zeichen, die diejenigen an der Spitze von den anderen unterscheiden.42 Individuen in einer hohen Position nehmen sich die Freiheit, die unter ihnen Befindlichen zu berühren und ihnen eine Geste der Kameradschaftlichkeit zu gewähren. Wer sich weiter unten befindet, wagt es nur selten, eine solche Vertrautheit auszuprobieren.43 Der Schimpanse, auf den alle Augen geheftet sind, blickt in eine mittlere Entfernung und unterstreicht so, daß er nicht Zeichen der anderen beobachten muß. Dominante Menschen gehorchen auch dieser angeborenen Regel. Sie schauen ihre Zuhörer intensiv an, während sie diese belehren, aber lassen ihren Blick wandern, wenn die weiter unten auf der Rangleiter Stehenden eine Meinung von sich geben.44 An der Spitze Befindliche handeln als Steuermänner der Unterhaltung. Wir lassen sie ihre Länge und Stimmung bestimmen.45 Wenn sie sprechen, dann tun sie dies mit Überzeugung. Wir füllen unsere Sätze mit "ah", "so ähnlich" oder "ich glaube" auf und weisen so auf Unsicherheit hin.46 Aber grämen Sie sich nicht. Untersuchungen haben gezeigt, daß die Anführer sowieso am meisten sprechen.47
Einige Aufmerksamkeitsstrukturen sind Angelegenheiten des Augenblicks, die von Fremden, die sich gerade das erste Mal getroffen haben, verfertigt werden. Doch die meisten schließen ein Äquivalent dessen ein, was Adam Smith "gespeicherte Arbeit" nannte: sein Ausdruck für die Innovationszeiten, die in solch einfachen Gegenständen wie einem Ziegel, einem Spaten oder einem Flügel aus Keramik einer High-Tech-Turbine stecken. Ein Präsident, ein Doktor oder sogar ein Prominenter des Augenblicks sitzen auf dem Stapel eines Wahrnehmungskapitals, das seit den Tagen des Zeltbaus mit Mammutstoßzähnen, des Stadtbaus, des Handwerks der Königsreiche und des Aufbaus der Institutionen der Moderne akkumuliert wurde. Der Titel eines Professors zapft sechs Millionen Jahre Instinkte von Primaten und die Autorität an, die von Institutionen der höheren Ausbildung während der 45 Generationen angehäuft wurden, seitdem die Universität von Bologna im 11. Jahrhundert um den Erwerb ihres Rufs kämpfte. Wer einen Doktor macht, profitiert von einem Prinzip der Aufmerksamkeitsanlagerung, die die Schnüre der Massenwahrnehmung auf jeder Ebene der Biologie spielen läßt.48
Aufmerksamkeit erzeugt Aufmerksamkeit: das ist die erste Regel der Werbung. Wenn eine schleimförmige Amöbe bemerkt, daß die Nahrung ausgeht, signalisiert sie potentiellen Hunger durch eine Wolke an zyklischem AMP. Eine Warnung in der wilden Natur ist etwas Trauriges. Gleichgültigkeit ist ihr wahrscheinliches Schicksal. Nur wenn eine Schar chemischer Schreie synchronisch pulsiert, unterbrechen die anderen Amöben ihre Tätigkeit und eilen herbei, um zu sehen, was los ist.49 Das Aufeinanderstapeln von Hinweisen fokussiert auch die Linsen der kollektiven Wahrnehmung in einem Honigbienenvolk. Jede Stelle mit Blumen hat ihre Befürworter, die andere zu den vorgetanzten Kundgebungen ihrer Funde mitziehen. Schließlich wird der Bienenstock die Zahlen, die jeder Kandidat eingefahren hat, zusammenzählen und dann seine Energien auf die Nahrungsquelle richten, die bei der Popularitätswahl gewonnen hat.50
Doch die Ameisen kommen der gespeicherten Aufmerksamkeit am nächsten, die für die Menschen unwiderstehlich ist. Eine herumwandernde Arbeiterin, die einen Krümel eines Picknickkuchens gefunden hat, wird nach Hause zurückkehren und ihre Hinterteil hin- und herschwingen. Sie markiert den Weg durch eine Geruchsspur, mit einem chemischen Wegweiser zu der entdeckten Leckerei. Eine Geruchsspur führt einen nirgendwohin, aber die Angelegenheit wird schon ein wenig interessanter, wenn eine zweite Ameise über die Entdeckung stolpert und dann ihre chemische Empfehlung zu dem einsamen "Ich habe es gefunden" hinzufügt, das sich schwach in der Luft und am Boden erhalten hat. Nachdem es jetzt zwei sind, werden vielleicht weitere Ameisen den Pfad erkunden, und wenn sie zufrieden sind, werden sie ihre Signale auf ihrem Rückweg zum Nest hinterlassen. Während die Schicht der Geruchsspuren anschwillt, wird ihre Anlockung unwiderstehlich. Die Ameisen beeilen sich wie verrückt, um ihren Anteil an dem Schatz zu sichern, der einen Ruhm erlangt hat.51 Geruchsspuren von Insekten verschwinden nach einigen Stunden oder Tagen. Aber die Menschen legen Aufmerksamkeitsspuren, die nicht zu entfernen sind. Wir horten sie in Ritualen, Institutionen und "unsterblichen" Werken, die das Verdienst eines großen Menschen verkünden. Homers Lobreden auf Achilles und die Tugenden des griechischen Wagemuts wurden endlos imitiert, gelehrt und niedergeschrieben und erzeugten eine Spur, die mit jedem Jahrhundert mächtiger wurde.52
Dieser viele Jahrtausende alte Hort der Wahrnehmungsverführung wird in einer Eigenschaft namens Prestige53 zusammengepreßt. Prestige wird in Titeln wie Doktor, Präsident, Premierminister und König gespeichert. Genauso wie wir Tatsachen leugnen54, fühlen wir uns bei jenen wohl, die Prestige erworben haben, und meiden jene, die das nicht geschafft haben.55 Wir schenken denen Vertrauen, die es eingefordert haben, während wir dieselbe Botschaft mißachten, falls sie aus dem Mund eines tiefer Stehenden kommt56, selbst wenn sie in exakt denselben Worten ausgedrückt wird. Wenn jemand aus den niedrigeren Schichten einen Gedanken hat, der Sinn macht, dann versenken wir ihn oft tief in unserem Gedächtnis und spülen ihn ein paar Wochen später wieder als unseren eigenen Gedanken oder den einer Autorität in unser Bewußtsein.57 Wir verändern unsere sensorischen Eindrücke, um die Fehler der über uns Befindlichen auszulöschen, und übertreiben oder phantasieren uns diejenigen zusammen, die von den Menschen unter uns stammen.58 Wir gehen so weit, daß wir uns selbst übertölpeln und glauben, daß die über uns Stehenden ein ganzes Stück größer seien, als sie wirklich sind, indem wir ihrer Größe bis zu sechs Zentimeter hinzufügen.59
Wir kopieren wie Schimpasen die Manierismen unserer Meister60 - bis hin zu ihrer Sprechweise, ihrer Bekleidung, ihren Autos und ihren Häusern. Wenn sie sich bei einem Treffen leicht hin- und herbewegen, dann ahmen wir sie unbewußt nach.61 Das ist nicht nur eine postindustrielle Verrücktheit62. Wenn in Uganda "der König lachte, lachte jedermann; wenn er nieste, nieste jedermann. Wenn er erkältet war, dann sagten alle, daß sie auch erkältet seien. Wenn er seine Haare schneiden ließ, dann taten sie dies auch".63 Im China des 19. Jahrhunderts kicherten Höflinge, wenn dies der Kaiser machte, aber wenn sein Gesicht traurig wurde, dann zeigten sie sofort Niedergeschlagenheit.64 Yakatlenlis, der Häuptling der Kwakiutl, machte einmal eine Bemerkung, die eine grundlegende Wahrheit der Massenpsychologie erfaßte: "Alle Stämme der ganzen Erde kennen mich ... alle anderen ... versuchen, mich nachzuahmen."65
Wir werden in das Kielwasser von allen "über" uns durch die sozialen Triebe gezogen, die Thomas Carlyle66 beschrieben hat, als er die Literaturkritiker der 20er Jahre des 19. Jahrhunderts mit Schafen verglich. Man werfe einen Stock auf den Weg, während ein Leitschaf vorbeigeht, dann wird es, so schrieb der Weise, über diesen springen. Man entferne danach den Stock, und jedes Schaf, das danach kommt, wird genau an demselben Punkt springen - selbst wenn es kein Hürde mehr gibt. Seitdem hat sich nicht viel verändert. In der Verlagsbranche weiß man, daß Kritiker aus dem ganzen Land, wenn die Hauptkritiker der New Yorker Times sich in ein Buch verlieben, ihnen nachfolgen. Wenn andererseits dieses Leitschaf sagt, daß ein Buch keinen Wert habe, wird eine Kaskade von Kommentatoren von Portland bis Peoria zum selben Ergebnis kommen. Nachahmungslernen entwickelte sich bei Stachelhummern, d.h. bei Langusten, vor 220 Millionen Jahren. Also ist das nur ein Update in der Welt der Menschen.
Die Wirklichkeit ist eine Halluzination, die wir gemeinsam erzeugen. Im "Aufmerksamkeitsraum" unserer Phantasielandschaft nehmen die Großen und Mächtigen mehr als ihren Anteil am Grundbesitz ein. Sie besitzen das meiste Land an unserem Klatsch und Tratsch und an unseren Medien.67 Als Rollenvorbilder oder als Menschen, die uns ärgern, durchwandern sie die Räume unserer Gedanken und unserer Träume. Sie sind die Leitschafe in der Herde der Menschheit: die Augen, Ohren und Gestalter des kollektiven Geistes.
Die Hinwendung der Aufmerksamkeit auf die an der Spitze Stehenden, egal ob es sich dabei um Neuronen oder Reiche handelt, ist für die Funktionsweise des kollektiven Gehirns68 zentral. Zustände und Bewegungen konkurrieren permanent um Einfluß. Das Gezerre der Gewinner69 ist so stark, daß die Mitglieder von Außengruppen darum kämpfen, zu Mitglieder der In-Gruppe zu werden.70 Je mehr eine Gruppe von Languren ihre Kämpfe verliert, desto mehr ihrer Mitglieder setzen sich ab und schließen sich den Gewinnern71 an. Bei uns ist das nicht anders. Einige jüdische Kinder marschierten in den 30er Jahren im Stechschritt und führten den Hitler-Gruß mit großer Freude aus.72 Einige Häftlinge von Konzentrationslagern bellten wie ihre Bewacher und nähten Nazi-Abzeichen auf ihre schäbige Sträflingskleidung.73 Als die moslemischen Mogulen Indien eroberten, wurde islamische Moden der letzte Schrei.74 Dasselbe geschieht noch hier und heute.75
Von 1981 bis 1986 stiegen die von Japan gehandelten Wertpapiere von 15 Milliarden auf 2.6 Billionen Dollar an, was in Japan einen neuen Ausspruch entstehen ließ: "Großbritannien brauchte 100 Jahre und die USA fünfzig Jahre, um zum reichsten Land der Erde zu werden, während Japan nur fünf Jahre benötigte."76 In der Mitte der 80er Jahre besaß Japan mehr Geld und kontrollierte mehr Ressourcen in mehr Ländern als jede andere Nation.77 Seine Währeungsreserve78 war die weltweit größte. Es war der führende Exporteur79 und gewährte am meisten Darlehen. Die Aktien an Tokyos Börse80 überstiegen an Wert diejenigen in New York. Japan besaß 54 Prozent des gesamten Bargelds aller Banken in der Welt.81 Die zwölf größten Banken waren japanische82. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen überstieg das der US-Bürger,83 die sich fälschlich noch immer als die Reichsten der Welt bezeichneten.
Japan gehörten 600 Firmen in Großbritannien und 200 in Frankreich.84 Der Analyst Ezra Vogel prophezeite einen neuen Pax Nipponica85. In einem gewissen Sinn war er bereits eingetreten. Japan war weltweit der größte Spender für ausländische Hilfsgelder86 und erkaufte mit dem Geld Einfluß in Pakistan, Ägypten, Mexiko, Panama87, Südamerika88, Vietnam89, Burma, südlichen Afrika,in der Türkei und der Karibik. 90 Wichtiger war etwas, was den meisten Experten fehlte. Japans Handelsunternehmen, seine sogo shosa, sind zu globalen Nervenzentren geworden, die "das größte zentralisierte kommerzielle Netzwerk der Produktion, Konsumption und Kommunikation in der ganzen heutigen Welt"91 kontrollierten. Die sogo shosha besaß eine unvergleichliche Möglichkeit mit Kulturen zu arbeiten. Sie holten von fast jedem Land Geld, schütteten es über ein Entwicklungsland aus, boten dem Land den vorgefertigten Bau von Industrien an, die aus Japan kamen, brachten Technologie, Management und Fachwissen und sogar die Instrumente mit, um das Konsortium eines Megaprojekts zu bilden, und sorgten dann für die Vermarktung der Endprodukte. Es überrascht daher nicht, wenn Bruno Thomas von Le Monde das Japan der 80er Jahre "das Zentrum der Weltwirtschaft"92 nannte.
Alle Augen richteten sich auf die an der Spitze befindliche Nation. Englischsprachige Autoren schrieben mehr als 2000 Bücher93 über Japan. Eine Menge lehrte, wie man auf japanische Weise Organisations- und Industrialisierungsstrategien durchführt. In den 80er Jahren predigte der Sony-Gründer Akio Morita den Amerikanern regelmäßig, wie sie ihre Angelegenheiten regeln sollten, und die Amerikaner lauschten begierig.94 Auch wenn andere ältere Japaner, die in den Nachrichten der Welt auftauchten, mit Respekt auftraten, berichtete der langjährige Tokyo-Korrespondent Henry Scott Stokes, daß die Jungen "die Welt als tabula rasa ansahen, auf den sie ein großes Bild malten. Dieses Bild war die japanische Flagge"95. Dank der Tricks der Aufmerksamkeitsstruktur war das kein eitler Traum. Brasilien äffte das japanische Fortschrittsmodell nach, suchte nach ausländischen Investoren und Importen und ließ die Regierung die Wirtschaft führen.96 In Afrika drängte Joseph Ki-Zerbo, der Vorstand des Center for Research On Internal Development in Senegal, den Kontinent dazu, dem japanischen Rollenmodell zu folgen, indem man sich alles, was man vom Westen wollte, nahm und die Türen vor allen anderen zumachte.97 Die im Süden der Sahara lebenden Menschen brauchten keinen derartigen Ansporn, da japanische Waren zu den bevorzugten Neuheiten gehörten.98 Ähnliche Unternehmen wie Keiretsu machten in Taiwan, Südkorea,Thailand99, Indien, Brasilien, Argentinien und auf den Philippinen auf.100 In Großbritannien, wo von Japanern betriebene Autofabriken dramatisch die heimischen Fabriken in der Produktion übertrumpften, reorganisierten die britischen Manager die Arbeit nach der Yokohama-Fertigung101. In Frankreich gab Peugeot 200 Millionen Dollar aus, um die Arbeiter in den "Montagetechniken im Stil Japans"102 zu schulen, wie dies Daniel Boorstein nannte. Sogar Ultranationalisten in der ehemaligen Sowjetunion sprachen davon, "dem japanischen Modell zu folgen" und die Wirtschaftsreform mit einem der kleinen schmutzigen Geheimnisse Japans, der obsessiven ethnischen Reinheit, zu verbinden.103
Nippons Charisma veränderte die Einzelheiten des weltweiten Alltagslebens. Die Zahl der Sushi-Bars in New York verzehnfachte sich zwischen 1980 und 1989104. In Burma trugen die am meisten verkauften T-Shirts englische oder japanische Aufschriften105. In asiatischen Städten wie Hong Kong oder Bangkok ersetzten japanische Fernsehstars, Pop Songs und Serien schnell die amerikanischen Exporte der Populärkultur.106 Das Time Magazin und Forbes waren der Meinung, daß die Mode und die Architektur aus Tokyo107 zu Trendsettern für die ganze Welt geworden seien. Japanische Modeschöpfer standen 1987 während der Modeshow in Paris108 im Zentrum der Aufmerksamkeit. Japans Handelsfirmen gaben den Ton sogar bei ihren Produktpräsentationen an. Manche japanischen Lebensmittelläden waren so besorgt darum, daß ihre Geheimnisse gestohlen werden könnten, und brachten Schilder in ihren Schaufenstern an, auf denen sie die Kunden baten, ihre Auslagen nicht zu fotografieren oder davon Skizzen zu machen. In der Handelswelt sprach man davon, daß der Rest der Welt das, was Japan heute macht, zwei Jahre später nachahmen werde.109
Für die Wissenschaftler aus dem Westen wurde Japan zu einem Pilgerort110. Amerikanische Politiker reisten so oft mit dem Hut in der Hand nach Tokyo, daß Lamar Alexander, der Gouverneur von Tennessee, bekannte, er sei zwischen 1983 und 1987 öfter über den Atlantik geflogen als nach Washington.111 1988 hatten bereits 36 amerikanische Bundesstaaten permanente Büros in der Stadt eingerichtet, in der eine Tasse Kaffee mehr als sechs Dollar kostete. Wenn die Politiker unseres Landes und die früheren Präsidentschaftskandidaten ihre Büros verließen, dann ließen sie ihre Wut an den Japanern aus.112 1990 wurde in Peru Alberto Fujimorim, ein Japaner der zweiten Generation, zum Präsidenten gewählt. Dieser Schritt zahlte sich durch große Anerkennung des Weltführers aus. Fujimori wurde eine Audienz beim Kaiser gewährt und Unterstützung versprochen. 113 Dumm war nur, daß er nicht in guter Schimpansenart den Rücken des Kaisers kraulen durfte. Während die Philippinen die amerikanischen Stützpunkte aus dem Land verbannten, wandte sich Manila an Japan, um seine kränkelnde Wirtschaft zu retten. Japan wurde zum größten Investor des Landes, während die USA, bislang der "große Bruder", auf den vierten Rang zurückfiel. Der philippinische Premierministerin Corazon Aquino, deren Verwandte von den Japanern während der Besetzung der Insel getötet wurden, sprach dankbar von den Tagen, als japanische Soldaten den philippinischen Kindern Schokolade schenkten, und erinnerte sich stolz an die Lieder, die sie als Kind während der japanischen Besatzungszeit gelernt hatte.114
In Singapur waren die Japaner die am meisten bewunderten Menschen. Man lobte ihren Geist, ihre Stärke, ihre Arbeitsmoral, ihre Opferbereitschaft und die Tatsache, daß ihre Technik und ihre Autos an erster Stelle115 stehen. Einen Koreaner fragte man, welches Land er am meisten bewunderte. Er antwortete geradeheraus: "Japan ist die Zukunft"116. 1989 rissen die Perestroika in Rußland und die Writschaftsreformen in China den Eisernen Vorhang ein, und man schrieb dies den Amerikanern zu. Im asiatischen Block hielt man dies für einen Verdienst Tokyos117. Als sich Osteuropa den ausländischen Investitionen öffnete, waren japanische Auto- und Stahlproduzenten führend bei der Gestaltung der neuen Ökonomie.118 Suzuki errichtete beispielsweise für 200 Millionen Dollar eine Autofabrik in Ungarn und nutzte dann die billigen Arbeitskräfte, um Autos für den Verkauf im neu vereinten Europa herzustellen.119 Die Mexikaner kämpften am Ende der 80er Jahre eifriger um japanische Investitionen als um amerikanische. Die japanische Verlockung war für die mexikanische Oberschicht so groß, daß die Wohlhabenden, darunter auch der Präsident, ihre Kinder auf japanische Gymnasien120 in Mexico City schickten.121 Selbst die Iraner betrachteten den Handel mit Japan als gute Möglichkeit, den teuflischen Fängen der USA und der früheren Sowjetunion zu entrinnen122.
1993 brachten japanische Autoren und andere Autoritäten immer offener ihre Meinung zum Ausdruck, daß das amerikanische Modell des kapitalistischen Fortschritts veraltet sei und daß der neue Entwurf aus Japan123 stamme. Eisuke Sakakibara vom allmächtigen Finanzministerium ist dafür typisch. Der Titel seines Buches über das Thema lautete: "Nach dem Kapitalismus: Das japanische Modell der Marktwirtschaft"124.Das Land, das am eifrigsten diesem Rat lauschte, war der Kandidat für das 21. Jahrhundert: China125, das Reich mit einer Milliarde von gebildeten, schlauen und motivierten Arbeitern, Soldaten, Konsumenten und Innovateuren. Ebenso wie Stachelhummer lernten, im Winter die Sperre einer Eismauer zu umgehen, indem sie ihre Anführer imitierten, beobachten Menschengruppen die Gewinner, um überlegene Strategien nachzuahmen.
Wenn man die Uhr um 500 Jahre zurückdreht, wird man sehen, daß viele der Fortschritte, die den europäischen und später den amerikanischen Techniken zugrundeliegen, welche die Japaner so faszinierten, aus China übernommen wurden. Wenn man noch einmal 900 Jahre zurückgeht, enthüllt sich vieles, was wir als eigenständige japanische Kultur ansehen, als Import aus China. Chinesische Innovationen sind also um die Welt gereist und kehren jetzt wieder zurück. Als sie um die Welt reisten, wurden sie radikal erneuert. So vollziehen sich die Imitationsrunden in einem kreativen globalen Fluß.
Molekulare Sensoren, Bakterien, Krustentiere, Huftiere, Primaten und Intellektuelle gleichen sich weitgehend. Wir agieren als Knoten in einem neuronalen Netz. Dank der Ressourcenverteiler, folgen wir den Regeln des Spiels der Massenwahrnehmung.
Platon: ein Spartaner in pythagoreischer Bekleidung
Die griechischen Philosophen des fünften und vierten Jahrhunderts v. Chr. unterlagen den Gesetzen des Ressourcenverteilers: Einfluß sollten die Gewinner erhalten und jeder sollte denjenigen - zu dieser Zeit war das immer ein Mann - nachahmen, der oben steht. Während der Zeit, als Athen ganz oben in der ägäischen Machthierarchie stand, war Sokrates, der führende Philosoph, das Ebenbild von Perikles126, dem Herrscher in Athen. Als Sparta tonangebend wurde, machte der im Trend liegende Philosoph Ethik, Metaphysik und Epistemologie zu einem Spiel des spartanischer Eigenschaften. Weitere vierzig Jahre später paßte der Stil Spartas nicht mehr in die Landschaft eines schwierigen Jahrhunderts. Das war die Zeit für einen anderen politischen Führer, der die Aufmerksamkeitsstruktur beeinflussen und wieder einmal die Pupillen der Philosophie in eine neue Richtng drehen konnte.
Platon wurde drei Jahre nach der verheerenden Pest in Athen und ein Jahr nach dem Tod von Perikles, dem Garanten des Goldenen Zeitalters Athens, geboren. Mit einem guten Aussehen, einem athletischen Körper127, Preisen für militärische Tapferkeit war Platon ein außergewöhnlicher Gelehrter in allen Bereichen von der Musik bis zur Mathematik, ein Frauenheld, geübt im Verfassen von Liebespoesie und ein Literat, der vier Tragödien schrieb. Aber er konnte sich nicht entscheiden, ob er sich einen Namen in der Poesie oder in der Politik machen sollte. Durch Sokrates, einem Freund der Familie128, kam er schließlich zur Philosophie.
Wie wir bei Alkibiades und seinem Versuch gesehen haben, Syrakus einzunehmen, ließ sich das sokratische Denken politisch einsetzen. Platon war 13 Jahre alt, als seine Heimatstadt erobert wurde. Athens Ruhm war untergegangen und der Stolz seiner Bürger ebenso am Boden wie seine Wirtschaft. Terrorherrschaft ersetzte Wahlen während des Staatsstreichs der Dreißig Tyrannen, unterstützt von 100 Typen des spartanischen Feindes. Einer der blutdürstigsten Tyrannen war Kritias, ein Verwandter von Platon, der mit ihm auch gut befreundet war. Ein Jahr später, als die Tyrannen durch die Drehtüren der Macht befördert worden waren, verloren Kritias und Charmides, zwei Onkel von Platon, die er am liebsten hatte, bei dem Versuch das Leben, die zurückkehrenden Demokraten zu vertreiben. Dann verurteilten die Wiederhersteller der Wahlen, die im allgemeinen friedliebend waren, Sokrates, den Mentor von Platon, zum Tode. Platon hatte genug von Athens liberaler Erziehung, seiner Offenheit und besonders von seiner Demokratie. Voller Abscheu floh er nach Megara, Zypern und Ägypten, besuchte bedeutende Pythagoreer wie Philolaus und Eurytus und folgte dann den Fußspuren des Meisters auf den Bahnen afrikanischer und asiatischer Priester.129 Ihn zog eine Anschauung an, deren Begründer, der ebenfalls ein Bewunderer Spartas war, Gehorsamkeit und Uniformität verlangte. In Zeiten gesellschaftlicher Unruhe eröffnen autoritäre Gewißheiten die Wiederherstellung des Verlorenen130: ein Fundament, das nicht wankt. Platon fand bei Pythagoras einen Weg zum härtesten der steinernen Fundamente131.Diese Erde war lediglich ein fehlerhaftes Abbild der Archetypen, die sich in einem dauerhafteren und mächtigeren Raum als dieser sich dauernd verändernden Oberfläche befinden. Jeder Student, der eine Philosophievorlesung besucht, kennt die platonische Philosophie aus dem Höhlengleichnis. Die meisten wissen jedoch nicht, daß es auf Pythagoras zurückgeht. Aristoteles aber ließ sich nicht täuschen. Er versteht die Vorstellung archetypischer Formen132 als ein pythagoreisches Plagiat. Diodorus stellt dies positiver dar, wenn er Platon "den letzten der pythagoreischen Philosophen"133 nennt.
Deswegen ist es vielleicht nicht verwunderlich, daß Platon, als er schließlich seine eigene Schule für die Söhne der Reichen gründete, ein vielsagendes Motto über dem Eingangsportal anbringen ließ: medeis ageometretos eisito - "Kein Eintritt ohne geometrische Kenntnisse". Das außerhalb der Stadt gelegene Grundstück für die Schule wurde für ihn von adeligen Freunden erworben, die ihre Ausgaben von Tyrannen, die von Sparta wie beispielsweise Dioysos II von Syracus unterstützt wurden, decken ließen. Die Schüler waren bekannt für ihre ultra-aristokratische Haltung. Das Motto hätte von Pythagoras selbst, dem ersten Geometer, nicht deutlicher formuliert werden können.
Wie Pythagoras eröffnete Platon dem Intellekt riesige neue Territorien, aber seine verstörendste Erbschaft sollte ein totalitäres Gedankengut sein. Die Utopie, die er in Politeia, Politikon und Nomoi darstellte, ist auf einer spartanischen Folterbank festgezurrt: Eugenik sichert bei der Geburt die Konformität134; eine Nomenklatura von philosophischen Aristokraten, die von einem geheimnisvollen Rat unterstützt werden, greift gegen jene durch, deren Begierden sie vom Pfad der Tugend und der Entsagung abbringt; Dichtung, Musik und Literatur, die Liebhabereien des jungen Platon, sind voller Gefahren für die Jugend und müssen streng zensiert werden. Platons Republik ist ein kalter und moralistischer Ort, der in vielem Stalins Rußland in den 30er Jahren, dem Iran der Ayatollahs im Jahr 1979 oder dem Taliban-Staat im Jahr 1998 gleicht. Und sie geht auf ältere Ordnungen zurück, die von Vertretern des letzten Wortes eingerichtet wurden: auf den spartanischen Staat von Lykurg, in dem die alten Verordnungen der Gesetzgeber bindend waren, und auf die geschlossene Gemeinschaft, in der das "ipse dixit" des Pythagoras nur dem einzigen Zweck des Gehorsams diente.
Auch wenn die Politeia die meiste Aufmerksamkeit gefunden hat, so wird doch in den Nomoi Platons Nachahmung von Sparta am deutlichsten. Hier stellt er als sein Ideal einen Staat dar, der den spartanischen Traum verkörpert. Als Modell benutzte er Kreta, von woher Spartas Gestalter Lykurg einen Großteil seines Gesamtentwurfs bezog. Kreta war die letzte Bastion für die Praktiken der kriegerischen Stämme der Dorier, einer anderen Gruppe von Gewinnern, die Griechenland 600 Jahre zuvor auf die Knie gezwungen hatten.135 Zu Beginn der Nomoi fragt ein Dialogpartner aus Athen:
DER ATHENER: Sage mir nun, zu welchem Zwecke schrieb das Gesetz die Speisevereine euch vor und die Leibesübungen und die Art der Bewaffnung?
KLEINIAS: Unsere Einrichtungen zu begreifen, Gastfreund, ist, denke ich, jedem leicht ... Das alles nun ist bei uns für den Krieg eingerichtet, und der Gesetzgeber ordnete, wie mir offenbar ist, alles auf ihn hinblickend an ... Er scheint mir fürwahr die Überzeugung gewonnen zu haben, es fehle der großen Menge an der Einsicht, daß stets ein fortwährender Krieg aller gegen alle Staaten bestehe. Muß man aber im Kriege seiner Sicherheit wegen gemeinsame Mahlzeiten halten und müssen Befehlende und Gehorchende als deren Wächter verteilt sein, so muß dasselbe auch im Frieden geschehen; denn was die meisten Menschen Frieden nennen, das führe bloß diesen Namen, in der Tat aber bestehe von Natur ein von keinem Herold angekündigter Krieg für alle Staaten gegen alle. (Politeia, 625 e - 626 a)
Der Kampf zwischen den Gruppen findet immer statt. Wie Sparta sollte jeder Staat durch die Strenge eines Militärlagers diszipiliniert werden. Platons Einfluß wird in den folgenden Jahrhunderten zunehmen und zurückgehen. Sein Ansatz sollte emotional mit der Geschichte von 2500 Jahren absolutistischer Fanatiker übereinstimmen. Und in vielen wichtigen Hinsichten sollte der Vater dessen werden, was uns in den künftigen Jahren bedrohen wird: des Fundamentalismus einer brutalen neuen Modernität.
Zu Platons Zeiten gab es tatsächlich andauernd Krieg. Doch die Lehre der Rezeptorenmoleküle ist, daß ein System dem allmählich überdrüssig wird, was es pausenlos gibt, und das Gegenteil sucht. Diese Ruhelosigkeit des kollektiven Gehirns sollte den Weg für eine weitere herrschende Polis und den Philosophen bahnen, der sie gleichzeitig nachahmte und formte.
Pluralismus mit dem Schwert - Aristoteles und der Verknüpfer aus Mazedonien
Wenn eine auf Informationsbeschaffung zentrierte RAM-Methode notwendig war, stand Athen jeweils an der Spitze. Dann kam der Tag, als die Menschen sich nach einer ROM-Strategie sehnten (kein Input von Daten, nur ein Fluß nach außen), und Sparta erlangte die Vorherrschaft. Die nächste Veränderung eröffnete die Möglichkeit für einen Staat, der auf der Grenze zwischen Griechenland und seinem persischen Feind lag. Der Hof dieses Grenzlandes ließ auch Notwendigkeit offen Input herein und Output heraus. Athener, Spartaner und Perser vermischten sich in den Zimmer ihrer Könige.136 Dieser weit von den herrschenden Zentren entfernt liegende Staat galt den Griechen als "barbarisch". Doch Sparta hatte die Macht übernommen und sie wieder verloren, und jetzt fiel das zweite Reich von Athen auseinander. Selbst die Perser137 machten sich nur halb so gut, wie sie dies wollten. Eine Zeit des gesellschaftlichen Zerfalls eröffnet ein Vakuum, das neue Integratoren auffüllen können. Als der halbstarke Staat der neuen Verknüpfer der Kulturen entstand, wuchs auch sein erwählter politischer Führer und sein Lehrer, der Hofphilosoph, heran. Beide wurden zu den Herstellern eines neuen Aufmerksamkeitsgewebes.
Wie Alexander wuchs Aristoteles auf einer Landbrücke138 auf und baute Brücken mit seiner Philosophie. Er verband das Beste aus den sokratischen, pythagoreischen und platonischen Gedanken und zurrte die Unterschiede unter das Joch der Konformität als Partner für die Antriebskraft einer goldenen Mitte139. In einer Art des sokratischen Unterfangens untersuchte er die Natur mit aller Kraft. Er setzt die pythagoreische Wissenschaft ein und baute wie die Pythagoreer und Platonisten auf den Grundlagen auf, bei denen Sokrates sich spezialisiert hatte, die Dinge auseinanderzunehmen. Er verwarf die autoritäre Haltung, aber war der Berater eines Heeresführers, dessen Macht das Schicksal bestimmte. Die Platonisten ahmten Sparta nach, doch bald sollten die Menschen aus Mesopotamien, die Inder, Afghanen, Hebräer, Phönizier, Ägypter und selbst die heranwachsenden Römer dazu neigen, die Hellenisten aus Mazedonien zu imitieren.
Das Beste vom aristotelischen Erbe lebte weiter in der Wissenschaft und im Pluralismus. Das Schlechteste aus dem Erbe Platons überdauerte in der Intoleranz und Borniertheit. Das führt uns zu einer Frage zurück, die vor einigen Kapiteln entstanden ist, nämlich welche Hypothese letztendlich gewinnen wird: Athens Pluralismus oder Spartas Strenge? Die Antwort lautet: sowohl beide, als auch keine von beiden. Ihr Kampf wird das Schicksal weiterhin während der kommenden Wochen, Jahre und Jahrzehnte bestimmen.