War die Neue Welt gar nicht so neu?

Seite 2: Abgeschlagene Köpfe als Trophäen

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Eine weitere Sitte, die die Einwanderer mit nach Südamerika brachten, war die Jagd nach Trophäenköpfen, schließt Giffhorn aus Funden von Archäologen. Sowohl Kelten als auch Chachapoya schnitten getöteten Feinden die Häupter ab, um sie anschließend als Trophäen an ihren Häusern aufzuhängen. Dies sollte Heldenmut und Stärke demonstrieren und schockierte sowohl die Römer in Spanien als auch die Inka in Südamerika. Der Brauch der Chachapoya zeigt dabei keinerlei Ähnlichkeiten zu Totenkopfkulten anderer südamerikanischer Völker.7

Sowohl Chachapoya als auch iberische Kelten feierten den Kult auch durch Nachbildungen von abgeschlagenen Köpfen an Kunstwerken, Mauern und Gebrauchsgegenständen. So stellten sie Töpfe und Schalen her, an deren Rändern sich Kopfdarstellungen als Halbreliefs erheben. Auch an Mauern der galicischen Castro-Kultur fanden sich diese Darstellungen. Dort spricht man vom Phänomen der "Cabezas cortadas" ("abgetrennte Köpfe"). Die Augen der meisten Chachapoya-Kopfskulpturen sind rundlich und unterscheiden sich somit deutlich von den mandelförmigen Augendarstellungen sonstiger indianischer Kopfportraits. Sie gleichen jedoch exakt den typischen Kopfskulpturen der Galicier des ersten vorchristlichen Jahrhunderts, wie galicische Archäologen bestätigten.

Kopfreliefs aus Kuelap (links) und an einer Mauer in einem iberischen Castro. Bilder: Hans Giffhorn

Trepanation

Eine noch stärkere Kulturparallele zwischen Chachapoya und antiken Europäern findet sich im Brauch der Schädel-Trepanation. Dabei handelt es sich um ein Ritual, bei dem aus magischen Gründen Löcher in die Schädel Lebender oder Verstorbener gebohrt wurden, etwa um böse Geister entweichen zu lassen.

Diesen Brauch gab es in vielen Kulturen. Doch Menschen auf den Balearen und die Chachapoya hinterließen dabei exakt gleiche Spuren - beide nutzten steinerne konische Bohrer und erzeugten so Löcher in der Schädeldecke, die oben weitaus breiter waren als in der Tiefe. Und beide Kulturen erzeugten so speziell angeordnete Gruppen dieser kegelförmigen Löcher in der Schädeldecke.

Schädel mit Trepanationsspuren aus der Chachapoya-Region (links, mindestens 550 Jahre alt) und aus Menorca (rechts, Museum Ciutadella). Bilder: Giffhorn

Die Chachapoya seien dabei die ersten in ganz Amerika8 gewesen, die die komplizierte konische Bohrtechnik anwendeten, erklärt der Göttinger Paläopathologe Michael Schultz. Trepanationen seien weltweit sehr gut dokumentiert, was die Beweiskraft dieser Kulturparallele extrem stärke. Nach langer Suche in der Fachliteratur entdeckte Schultz schließlich eine spanische Dokumentation quasi identisch trepanierter Schädel aus der antiken mallorquinischen Gräberstätte Son Real.

Wenn wir die Bohrungen auf Mallorca und die Bohrungen an Chachapoya-Schädeln vergleichen, dann können wir vermuten, dass die auf den Balearen praktizierte Trepanationstechnik in die Neue Welt gebracht, dort praktiziert und weiter gepflegt wurde", schlussfolgert der Paläopathologe.

Hans Giffhorn reiste daraufhin nach Barcelona, wo die Schädel in der anthropologischen Abteilung der dortigen Universität aufbewahrt werden und traf den spanischen Trepanationsexperten Doménec Campillo. Nachdem Giffhorn ihm Fotos der Chachapoya-Schädel gezeigt hatte, sei dieser genauso verblüfft gewesen wie sein Göttinger Kollege Schultz. Diese Trepanationsform habe er bisher nur von den Balearen und den direkt gegenüberliegenden Küsten des Festlandes gekannt. Nur ein absurd unwahrscheinlicher Zufall könne solch identische Kulturtechniken getrennt voneinander entstehen lassen, sind die Experten überzeugt.

Hans Giffhorn (rechts) im Gespräch über Schädeltrepanationen mit den spanischen Anthropologen Daniel Turbon (links) und Domènec Campillo in der Universität Barcelona

"Sie war ihre wichtigste Waffe"

Noch eine weitere kulturelle Übereinstimmung zu den Balearen soll hier vorgestellt werden: die Steinschleudern der Chachapoya. Auf den ersten Blick sei dies nur ein schwacher Beleg, da Schleudern in vielen Teilen der Welt als Waffen genutzt wurden. Sie waren leicht herzustellende, billige und effektive Fernwaffen, deren Munition quasi überall herumlag. Steingeschosse prallten mit rund 90 Stundenkilometern auf die Köpfe der Feinde. "Dass eine so zweckmäßige Waffe mehrfach an verschiedenen Plätzen der Welt entwickelt wurde, wäre durchaus nicht unwahrscheinlich", sagt Giffhorn.

Doch eine Studie des US-Archäologen Philip Ainsworth Means legt zumindest für den amerikanischen Kontinent etwas anderes nahe. Means rekonstruierte im frühen 20. Jahrhundert anhand der Funde vorkolumbischer Steinschleudern die Ausbreitung dieser Waffe in Amerika. Tatsächlich fand er heraus, dass der Norden Perus, also Teile der Chachapoya-Region, Ausgangspunkt für die Verbreitung war. Im Verlauf der Zeit hatten sich verschiedene Formen und Funktionsweisen der Schleudern in Amerika herausgebildet, wie die von Means begutachtete Schleudersammlung aus dem United States National Museum in Washington zeigt. Die Chachapoya benutzten jedoch ganz einzigartige Anfertigungen.

So berichtete der im 16. Jahrhundert in Cusco aufgewachsene spanisch-peruanische Chronist Garcilaso de la Vega:9

Die Steinschleuder [der Chachapoya] ist anders gefertigt als die anderer Indianer, und sie benutzten sie im Krieg als ihre wichtigste Waffe. (…) Sie benutzten sie so wie die alten Mallorquiner.

Vega, der später nach Spanien übersiedelte, kannte die Tradition der Menschen Mallorcas. Die Baleareninseln waren seit der Antike berühmt für ihre Steinschleuderer. Bis heute ist dies dort als eine Art Volkssport lebendig.

Bis hin zur Flechtweise identisch: links eine Steinschleuder aus Leymebamba (Chachapoya) und rechts eine Steinschleuder aus Mallorca. Bilder: Hans Giffhorn

Funde von Chachapoya-Steinschleudern zeigen, dass ihre Konstruktion der mallorquinischer Schleudern fast eins zu eins entspricht: Eine relativ kurze, in der Mitte offene Halterung für den Stein und eine kleine Schlaufe an einem Ende, die beim Wurf über einen Finger gezogen wird. Das schlaufenlose andere Ende wird von der ganzen Hand festgehalten und beim Schleudern losgelassen, so dass der Stein herausfliegt. In Hans Giffhorns Dokumentarfilm ist der erstaunte Balearenmeister dieses Sports, Juan José Caballero, zu sehen, der eine Schleuder der Chachapoya mit einer typisch mallorquinischen Schleuder vergleicht: "Sie sind praktisch gleich", so sein Urteil.

Ein weiteres Detail überrascht: Sowohl Chachapoya als auch Mallorquiner trugen ihre Ersatzsteinschleudern als besonderes Erkennungszeichen um die Stirn gebunden.10 Giffhorn nimmt nach all diesen Indizien an, dass die balearischen Krieger unter den Emigranten die Waffen und ihre Herstellungstechnik ins Chachapoya-Gebiet mitbrachten und diese sich von dort in Amerika verbreitete und ausdifferenzierte. Dass es sich bei all diesen Übereinstimmungen um eine Anhäufung voneinander unabhängiger Zufälle handele, ist Giffhorn zufolge höchst unwahrscheinlich.

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