Warten auf Merkel
2018 soll zum "Schicksalsjahr" für die EU werden, mit Reformen der Flüchtlingspolitik und der Währungsunion. Doch die Kanzlerin steht auf der Bremse. Der Streit um die neue GroKo ist dabei noch das geringste Problem
Reden Angela Merkel und Emmanuel Macron neuerdings synchron, ja sogar "in Stereo"? Dies will die französische Tageszeitung "Le Monde" herausgefunden haben. In einem Editorial vergleicht das Blatt die Neujahrsansprachen der deutschen Kanzlerin und des französischen Staatspräsidenten. Überraschendes Ergebnis: Zwischen den beiden ungleichen Staatenlenkern herrsche, jedenfalls was Europa betrifft, perfekte Harmonie.
Tatsächlich haben Merkel und Macron 2018 (wieder einmal) zum "Schicksalsjahr" für Europa ausgerufen. Und beide haben sie die deutsch-französische "Entente" beschworen. Die Europäer müssten ihre "Werte solidarisch und selbstbewusst nach innen wie nach außen vertreten", sagte Merkel. "Deutschland und Frankreich wollen gemeinsam dafür arbeiten, dass das gelingt, und so dazu beitragen, Europa für die Zukunft fit zu machen", säuselte sie.
Bei näherer Betrachtung reden die beiden Chefs jedoch weder synchron noch stereo, sondern aneinander vorbei. Bei Merkel bleibt alles unverbindlich und vage: Keine Vereinigten Staaten von Europa, wie bei SPD-Chef Martin Schulz, kein Europäischer Währungsfonds, wie bei Ex-Finanzminister Wolfgang Schäuble, und auch sonst keine einzige konkrete Aussage zur Zukunft der EU oder zu den europapolitischen Plänen des Kanzleramts.
Ganz anders Macron. "Wir müssen wieder eine europäische Ambition entwickeln, wir brauchen eine souveräneres, einigeres und demokratischeres Europa", forderte der liberale Franzose. Macron schwebt eine "souveräne" Währungsunion, ein "einiges" Kerneuropa der Euro-Staaten und ein "demokratisches" Euro-Parlament vor, wie er in seiner Sorbonne-Rede kurz nach der Bundestagswahl präzisierte.
Ist das mit Merkel noch machbar? Zweifel sind erlaubt, wenn man sich die europapolitische Bilanz der letzten drei Monate anschaut. In den gescheiterten Sondierungen für "Jamaika" ließ Merkel jede Ambition vermissen, nur für Christian Lindners europapolitische Bedenken hatte sie ein offenes Ohr. Und in den nun beginnenden Gesprächen mit der SPD überhört die Kanzlerin geflissentlich alle jene Forderungen, die an Macron erinnern.
Nicht einmal ein "Reförmchen" der EU-Kommission findet Merkels Zustimmung
Dabei müssten es ja nicht gleich die Vereinigten Staaten sein. Schulz und Macron würden es gewiss auch eine Stufe niedriger machen. Ein bisschen "mehr Europa" dürfte schon reichen, um den SPD-Chef in eine neue GroKo zu locken und den Präsidenten zufrieden zu stellen, jedenfalls fürs Erste. Doch Merkel hält alle hin. Erst im März, so kündigte sie beim letzten EU-Gipfel Mitte Dezember an, soll es gemeinsame deutsch-französische Vorschläge geben.
Das ist spät, sehr spät. Vielleicht sogar zu spät, wenn man noch die "Leader's Agenda" umsetzen will, mit der EU-Ratspräsident Donald Tusk im neuen Jahr glänzen will. Denn nach dieser Agenda sollen bereits im Juni 2018 weitreichende Beschlüsse fallen. Tusk will dann nicht nur die heftig umstrittene Flüchtlingspolitik reformieren und neue Regeln zur Umverteilung von Asylbewerbern einführen. Er will auch die seit der Eurokrise vollmundig angekündigte (und nie umgesetzte) "Vollendung" der Euro-Währungsunion einleiten.
Die Stichworte dazu hat Macron geliefert: Euro-Budget, Euro-Finanzminister, Euro-Parlament, möglicherweise auch Eurobonds, mit denen neue Aufgaben (nicht alte Schulden) finanziert werden könnten. Für Merkel waren das bisher alles No-Gos. Auch die EU-Kommission kann sich dafür nicht so recht begeistern. Als die Brüsseler Behörde Anfang Dezember ihre eigenen Pläne für eine Euro-Reform vorstellte, waren die Eurobonds gestrichen, das Euro-Budget geschrumpft - und der Euro-Finanzminister hatte sich in einen stinknormalen EU-Kommissar verwandelt.
Doch selbst dieses Reförmchen, an dem Merkels Parteifreund Günther Oettinger federführend mitwirken durfte, ging der Kanzlerin schon zu weit. Beim Dezember-Gipfel setzte sie durch, dass keinerlei Beschlüsse zur Währungsunion gefasst wurden. Der Vorschlag der EU-Kommission wurde in den Schlussfolgerungen der Staats- und Regierungschefs nicht einmal erwähnt. Wie soll es da möglich sein, bis Juni eine Reform auf die Beine zu stellen?
Viele Stolpersteine auf dem Weg der EU
Zweifel sind auch bei den anderen Vorhaben der "Leader" angebracht. Bei der Flüchtlingspolitik sind die alten Fronten zwischen Ost und West wieder aufgebrochen, eine Einigung bis Juni scheint völlig ausgeschlossen. Beim EU-Budget wird - wegen des britischen Austritts - das Geld knapp. Wenn Budgetkommissar Oettinger im Mai wie geplant einen Entwurf für den mehrjährigen "Finanzrahmen" ab 2021 vorlegt, dürfte es mehr Verlierer als Gewinner geben.
Selbst wenn EU-Hilfen künftig von europapolitischem Wohlverhalten abhängig gemacht werden, wie es Oettinger offenbar vorschwebt, reichen die Mittel hinten und vorne nicht. Nur wenn Merkel bereit wäre, mehr Geld nach Brüssel zu überweisen und das EU-Budget kräftig aufzustocken, könnte dieses Problem gelöst werden. Doch darüber will sie bisher ebenso wenig reden wie über ein eigenes, aus Steuern und Abgaben finanziertes Euro-Budget à la Macron.
Selbst beim vermutlich letzten großen Thema des neuen Jahres, dem Brexit, zeichnet sich keine Lösung ab. Die britische Premierministerin Theresa May hat im Dezember zwar auf ganzer Linie kapituliert und alle Konditionen der EU für eine "gütliche" Scheidung akzeptiert. Doch in der nun beginnenden zweiten Verhandlungsphase dürfte sie nicht so nachgiebig sein. Ob man sich bis Herbst - wie geplant - auf einen Scheidungsvertrag einigt und den Grundstein für eine neue Partnerschaft liegt, ist offen.
Nimmt man dann noch die Wahl in Italien im März und das Ende des dritten Bailouts für Griechenland im August hinzu, so erscheint das europäische "Schicksalsjahr" 2018 plötzlich in einem ganz anderen Licht. Dann treten Macrons viel zitierte Ambitionen in den Hintergrund - und die zahlreichen Stolpersteine in den Vordergrund. Sogar Merkel, die einst gefeierte "Führerin der freien Welt" könnte sich als Problem für die EU erweisen.
Als Problemlöserin tritt sie jedenfalls schon jetzt nicht mehr auf, auch wenn "Le Monde" und andere Leitmedien dies immer noch glauben machen wollen.