Warum bauen wir nicht mehr so, wie wir leben wollen?

Seite 3: Technik beim Wohnen darf kein Selbstzweck sein

Natürlich ist Technik aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Schleichend hat sie über einen Zeitraum von vielen Jahren Einzug in unser Leben gehalten. Gleichwohl darf sie nicht dem Selbstzweck dienen. Vielmehr geht es um die Verschmelzung von Technik und menschlichen Bedürfnissen.

Verglichen mit anderen Bereichen vollziehen sich in der Architektur technische Entwicklungen sehr viel langsamer. Denn Hardware hat eine andere Halbwertzeit als Software. Gleichwohl muss man festhalten: Wann immer die Produktion ihr Paradigma wechselt – vor 1800 durch die Dampfmaschine, vor 1900 durch den Elektromotor, vor 2000 durch den Computer –, steht auch die Architektur vor einer Revolution. Jedes Mal trifft Karl Friedrich Schinkel die Stimmung der Profession: "Wehe der Zeit, wo alles beweglich wird, selbst, was am dauerndsten sein sollte, die Kunst zu bauen." Und jedes Mal gibt es mit der Angst vor der Zeit auch die Flucht aus der Zeit.

Mit Blick auf die Tradition kann man als Essenz zweierlei festhalten:

  • Wenn man Evolution als ständig gesteigerte Differenzierung, als Entfaltung von Unverwechselbarkeit versteht, dann steht das, was man heute beobachten muss – nämlich einen kontinuierlichen Prozess der Vermischung, Nivellierung, einen kontinuierlichen Verlust von Unverwechselbarkeit – dem diametral entgegen. Mit Blick auf die Architektur wäre daraus zu folgern, dass Unverwechselbarkeit eben nicht Einmaligkeit und Novität um jeden Preis bedeutet. Wenn alle auf dem Individualitätstrip sind, ist dies ein Verlust von Individualität: Überall das gleiche Gemisch extremer Unikate.
  • Im Kern ist das architektonische Entwerfen zu einer eigenartigen Mischung aus Konservatismus und Kreativität verdammt. Es ist konservativ in dem Sinn, dass es auf Lösungen zurückgreift, die sich in langen Prozessen stillschweigenden Austestens bewährt haben. Zugleich ist es zur Kreativität verdammt, weil die Lösungen an einen ständigen Wandel von Bedingungen angepasst werden müssen.

Damit soll nun weder einem romantisierenden Traditionsverständnis das Wort reden noch der Eindruck erwecken, dass dies unmittelbar übertragbar wäre. Was man indes zur Kenntnis nehmen sollte, ist, dass der Blick auf ein Ganzes in unserer zur (Über-) Spezialisierung neigenden Welt tendenziell verloren geht. Gewiss, die Moderne und ihre gestalterische Revolution ist und war ohne die technischen Errungenschaften der Industrialisierung nicht vorstellbar.

Das Hochhaus aus Glas und Stahl mag zwar noch immer eine prägende Manifestation unserer Konsumkultur darstellen, spiegelt aber keineswegs die heute notwendigen Leitmotive, wie Angemessenheit oder die Reflexion über Suffizienz. Viele zeitgenössische Ikonen der Architektur sind mit einem Übermaß an Technologie ausgestattet, um etwa den Energiebedarf zu reduzieren. Doch bei zunehmender Technisierung nimmt das Fehlerrisiko ebenso zu wie ein inadäquates Nutzerverhalten. Hightech-Gebäude verbrauchen in der Realität oftmals weit mehr Energie als auf dem Papier geplant und errechnet.

Liegt es da nicht auf der Hand, auf eine Architektur zu setzen, die sich wieder stärker in ihren gesellschaftlichen Kontext rückbindet? Die sich regionalisiert in Bauweisen, Formen und Konstruktionen? Die sich besinnt auf einfache, möglichst wenig technisierte, gut durchdachte Konzepte? Mitunter gibt es ja entsprechende Signale ins Diesseits: So befreite sich der Holzbau in den 1990ern aus den konservativen, dörflichen Fesseln; gerade aus dem Vorarlberg kamen erste Signale, dass man mit lokalem Wissen und regionalen Baustoffen Architektur fernab von Alpinkitsch betreiben kann.

Dem englischen Philosophen und Humanisten Thomas Morus wird der schöne Satz zugeschrieben, dass Tradition nicht das Halten der Asche sei, sondern das Weitergeben der Flamme. Es ist wenig fruchtbar, Tradition schon deshalb mit überholten konservativen Wertvorstellungen gleichzusetzen, weil es zwangsweise zu ihrem Wesen gehört, älter als wir zu sein. Das adressiert weniger ein überkommenes Stil- und Formenrepertoire als vielmehr haushaltendes Wissen und kongeniale Kreativität im Umgang mit Ort, Klima und Material.

Implizit verbindet er damit die Botschaft, dass wir den Begriff "Tradition" zum besseren Gebrauch von seinen assoziativen Verunreinigungen befreien und bewusst reduziert als das Herbeischaffen und Ausliefern von historischem Tatsachenmaterial verstehen sollten. Nicht mehr und nicht weniger.