Warum der Brexit gut für Europa wäre...

Seite 2: In der Vergangenheit liegt die Zukunft

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die EU muss sich neu gründen, neu erfinden und sie muss dabei vom Römischen Reich lernen. Es sind die "Römischen Verträge", die die EU begründeten, nicht die Londoner - und auch kein Warschauer Pakt. Das Römische Reich war das dauerhafteste Staatengebilde der europäischen Geschichte, schon institutionell, aber auch kulturell, spirituell und virtuell.

Nur: Über die Grundsätze einer Vereinigung entscheiden jene, denen beigetreten werden soll. In der Sprache der Römer gesprochen: Es kann nicht sein, dass die Sklaven über die Bedingungen ihrer Befreiung entscheiden.

Es mag sein, dass die technokratischen Eliten sowieso dafür sorgen, dass sich nichts Wesentliches ändert. Dieser Satz ist als zynisches Plädoyer gegen den Brexit lesbar. Aber eigentlich handelt es sich um ein weiteres Argument dafür. Denn umso besser, wenn sich nichts ändert, außer dass die Briten nicht mehr mitreden.

Das biedere Weiterwurschteln soll ein Ende haben

Zumindest wäre ein Brexit ein heilsamer Schock. Es wäre endlich nichts mehr so, wie es vorher war. Es wäre endlich etwas los. Nach einem Brexit müsste sich wirklich etwas ändern. Es ist nicht wahrscheinlich, aber immerhin möglich, dass das biedere Weiterwurschteln ein Ende hätte.

Den Argumenten gegen den Brexit liegt eine Wohlfühlvorstellung von Politik und Gesellschaft zugrunde, die irreal ist. Nach dieser Wohlfühlvorstellung ist Politik ein Verfahren, durch das es allen immer besser geht. Ein Prozess, der den Krieg abschafft und am Ende aller Zeiten einen "Ewigen Frieden" einführt. Ein Handeln, das mit historischer Notwendigkeit Freiheit und Wohlstand verbreitet, überall Demokratie einführt, und alle immer reicher werden, länger und gesünder leben lässt. Diese Vorstellung ist totaler Unsinn.

Welches Europa wollen wir eigentlich? Wohlverstanden ist die EU mindestens eine Interessensgemeinschaft. Im besseren Fall ist sie ein realpolitischer Akteur, eine Großmacht im Konzert der anderen Großmächte. Oder gar das idealistische Projekt der Vereinigten Staaten von Europa, eines Imperiums mit zivilisatorischer Ausstrahlung, ein "drittes Rom". Im besten Fall ist Europa darüber hinaus eine Utopie, also eine "regulative Idee" (Kant), an der Realpolitik abgeglichen werden kann.

Die Vereinigten Staaten von Europa sind mit Großbritannien nicht zu machen. Die EU muss sich daher neu erfinden. Es wird dabei auf "das perfide Albion" (Napoleon Bonaparte) für ein paar Jahrzehnte gut verzichten können.

Literatur:

John Savage: "England's Dreaming. Anarchie, Sex Pistols, Punk Rock"; Berlin 2016
Evelyn Roll: "Wir sind Europa! Eine Streitschrift gegen den Nationalismus"; Ullstein Vlg.; Berlin 2016
Claus Offe: "Europa in der Falle" Suhrkamp Vlg.; Berlin 2016
Etienne Balibar: "Europa: Krise und Ende?"; Westfälisches Dampfboot, Münster 2016
Tanja Petrovic: "Yuropa. Jugoslawisches Erbe und Zukunftsstrategien in postjugoslawischen Gesellschaften"; Verbrecher Vlg.; Berlin 2016
Peter Wagner: "Modernity. Understanding the Present"; Polity Press, Cambridge 2012
Reinhard Olschanski: "Ressentiment. Über die Vergiftung des europäischen Geistes"; Wilhelm Fink Vlg.; Paderborn 2015