Warum der Brexit gut für Europa wäre...
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Das Ende von Cherry-Picking und Business Class: Die EU muss sich neu erfinden - mit den Briten ist das nicht zu machen
Natürlich gehört Großbritannien zu Europa. Wer könnte das infrage stellen? Die Briten haben Europa mehr als einmal gerettet. Zuletzt und am heroischsten vor 76 Jahren, als Winston Churchill Premierminister wurde und den Kampf gegen den Hitlerfaschismus, der bereits den halben Kontinent unterworfen hatte, weiterführte, gegen alle Vorzeichen. Das wird Europa den Briten hoffentlich nie vergessen. Nur sollte man die EU nicht mit Europa verwechseln oder gar gleichsetzen - auch wenn diese Gleichsetzung chronisch ist und im Augenblick nicht wenige genau dies tun. Es gibt daher gute Gründe, auf einen Sieg der EU-Gegner am heutigen Donnerstag und einen anschließenden Brexit zu hoffen. Er wäre eine Zäsur und darum eine große Chance für Europa.
"No plans for final day, stay in bed, drift away..."
The Lightning Seeds
Europa ist eine uralte Tatsache, die von der Frage "Brexit? Ja oder nein?" überhaupt nicht berührt wird. Oder gehört etwa die Schweiz nicht zu Europa, obwohl sie der EU noch nie angehörte?
Trotzdem entsteht in den Medien des Kontinents gerade der Eindruck, als drohte am heutigen Donnerstag der Untergang des Abendlands. Der Unionjack und das Georgskreuz stehen nun auf allen Gazetten, der "Spiegel" bettelt "Bitte geht nicht!" und versucht mit 23 Seiten auf Englisch Auflagenerfolge zu erzielen und die anderen tun es ihm nach. Als wäre ein "Brexit" das Ende Europas.
Die Briten stehen also mal wieder im Mittelpunkt. Das tun sie gern. Und dieser gekränkte Narzissmus der Briten ist nicht der geringste Grund für die hohe Zustimmungsrate der Briten für einen Austritt - wie auch für die klammheimliche Freunde, die viele Europäer empfinden werden, wenn Großbritannien heute seinen EU-Austritt erklären sollte.
Das Elitenprojekt EU und die schrillen Töne
Zugegeben: Das Pro-Brexit-Lager ist vulgär und ressentimentgeladen, es ist nationalistisch, populistisch, fremdenfeindlich, ja: kryptofaschistisch - Antieuropäer. Das kann und will man nicht unterstützen. Und obwohl es viele Globalisierungsgegner und EU-kritische Linke gibt, die den Brexit unterstützen, würde ein Brexit als ein Sieg der EU-kritischen Rechten wahrgenommen.
Allerdings: Solche Leute gibt es in unterschiedlicher Intensität, Radikalität und Färbung in allen europäischen Ländern. Die erste Frage, die sich jedem Bürger von Europa stellt, ist daher vor allem die, ob man diese Antieuropäer lieber innerhalb der EU hat, als Bremser, Verhinderer, Feinde, oder ob es nicht besser wäre, wenn sie außerhalb der EU stehen, und wenn sie für ihr Reden endlich Verantwortung übernehmen müssen. Erst wenn die Briten die Folgen und Kosten eines EU-Austritts auch am eigenen Leib erfahren und mit ihnen alle anderen Europäer, die zu Zeugen der Ereignisse werden, wird die Hohlheit und Widersprüchlichkeit der antieuropäischen Argumentation und die Doppelmoral ihrer Vertreter offenbar werden.
Allerdings ist die Anti-Brexit-Kampagne ist nicht weniger schrill und panisch wie die der Austrittswilligen. Und, wichtiger: Sie ist weit mehr interessengeleitet. Denn es sind die Rechtsliberalen Europas, die Weiterwurschtler und Schäubles, die konservativen Sozialdemokraten und die gemäßigten Konservativen, die besonders laut vor einem Brexit warnen.
Noch mehr Angst haben die Wirtschaftseliten.
Wenn die Financial Times und der Economist vor einem Brexit warnen, ist dies ein Grund mehr, auf ihn zu hoffen.
Zudem verwundert es, dass die entsprechenden Kommentatoren es immer noch nicht begriffen haben, dass solche Warnungen in der Sache kontraproduktiv sind. Denn sie bestärken nur den Eindruck der Massen: Die EU ist ein Elitenprojekt. Es bestärkt zudem das diffuse, aber deutliche Gefühl, dass das, was gut für die Wirtschaft, für die Börse, für die Konzerne und für die Reichen ist, gerade nicht gut ist für den ganzen Rest.
"Divided we fall?" Eben darum bye bye
"Das ist keine philosophische Rasse - diese Engländer. ... Der Engländer, düsterer, sinnlicher, willensstärker und brutaler als der Deutsche - ist eben deshalb der Gemeinere von Beiden."
Friedrich Nietzsche
Gestehen wir es uns ein: Die Briten haben sich noch nie wirklich zur EU zugehörig gefühlt. Die meisten Briten wollen die EU gar nicht. Jedenfalls nicht die EU, so wie sie existiert, und schon gar nicht die Idee der EU als Zwischenstufe auf dem Weg in ein komplett vereinigtes Europa. Die britische Vorstellung von Europa ist die einer Hilfskonstruktion zur Weiterexistenz des britischen Nationalstaats.
Europa wird als Selbstbedienungsladen gedacht, in dem man immer wieder neu aussuchen kann, was einem gerade nicht passt, die Kirsche von der Sahne schnabulieren oder auch die ungeliebten Rosinen herauspicken und unter den Tisch fallen lassen. Die Briten wollen ein Europa à la Carte. Schön. Dürfen sie. Problem: Das wollen die meisten Europäer aber gar nicht. Wenn ganz Europa über den Austritt der Briten entscheiden dürfte, wäre der Brexit heute Abend eine Tatsache. Denn die Briten gehen den übrigen Europäern seit Jahren auf die Nerven.
Natürlich ist das noch kein zureichendes politisches Argument. Dieses politische Argument geht so: Wenn ein so starker, sich gern als Führungsmacht stilisierender Staat wie Großbritannien nicht führt, sondern seine Macht vor allem dazu nutzt, um sich Sonderrechte auszuhandeln, ist das ein schlechtes Signal. Wie will man von Bedürftigeren dann mehr Gemeinsinn erwarten?
Es wäre daher gut, wenn mit dem heutigen Tag das Leben in der Business Class für die Briten vorbei ist. Da von den europäischen Institutionen in dieser Hinsicht aber nur das Schlimmste zu erwarten ist, da man befürchten muss, dass die Briten für ihre Obstruktionshaltung auch noch belohnt werden und das immer wieder und wieder, wäre ihr Austritt aus den Institutionen die einzige Chance auf einen Neuanfang.
"Divided we fall" titelt jetzt der Economist. In der Tat! Aber das hättet ihr Euch vorher überlegen müssen, liebe Londoner Marktliberale. Wer hat den gespalten? Die Briten wollten alles Mögliche von der EU. Vor allem immer "my money back!" (Margaret Thatcher) Aber auch im Krämerladen von Thatchers Eltern konnte man nicht Plumpudding kaufen, ihn genüsslich verspeisen und dann sein Geld zurückfordern.
Die Briten wollten aber auch alles Mögliche nicht. Sie sind nicht Mitglied der Euro-Zone, nicht Mitglied der Fiskalunion, nicht Mitglied des Schengen-Raums.
Das trojanische Pferd Amerikas
Schlimmer noch: Zuletzt hat Großbritannien politisch immer wieder am liebsten als Trojanisches Pferds der USA in Europa agiert, als Anwalt von Manchesterliberalismus und Sozialabbau, von US-geführten Kriegen, und sich in einer "special relationship" mit Washington gefallen.
Die Freiheitlichkeit des Rheinischen Kapitalismus, die das EWG-Europa seit De Gaulle und Adenauer bis zu Mitterand und Kohl verbunden hatte, geriet erst in Gefahr, als Thatcher mit chauvinistischer Europapolitik den Kontinent lähmte und dann endgültig, als die von über 15 Jahren Thatcherismus traumatisierte britische Sozialdemokratie sich selbst unter dem Banner des "Dritten Wegs" neoliberalisierte - und damit unter Tony Blair die Wahlen gewann. Nun machte "New Labour" einfach weiter und Politiker wie Gerhard Schröder machten es nach. "Reform" lautete das Codewort, das in keinem Wirtschaftsleitartikel mehr fehlte - gerade in Zeitungen, die bis dahin immer gegen die "Reformwut der 68er" gewettert hatten.
Großbritannien ist sowieso so etwas wie die FDP unter den europäischen Nationen: Klein und fein, mit großer, längst verblasster Vergangenheit, hält sich das Land immer noch für etwas Besonderes, Besseres, das glaubt auf Extrabehandlung und Bedienung am Platz eine Art naturgegebenen Anspruch zu haben. Sie wollen immer Sonderwege und Sonderrechte.
Es ist nur ein kleines, allzusprechendes Detail, dass es die Briten sind, die bei der derzeitigen Fußball-Europameisterschaft seit jeher mit vier Teams antreten (und damit natürlich die Chancen der anderen vermindern): England, Schottland, Wales, Nordirland. Warum eigentlich? Warum stellt das niemand infrage? Warum treten die Spanier nicht mit einer kastilischen, katalanischen und baskischen "Nationalmannschaft" an? Die Deutschen nicht mit einer bayerischen, einer westdeutschen und einer ostdeutschen? Divided we fall?
Polen, Ungarn, Slowaken folgen den Briten - hoffentlich!
Der Brexit hätte Signalwirkung. Der Brexit würde andere Antieuropäer anderer Länder zu Austrittskampagnen ermuntern. Dies ist gerade kein Argument gegen den Brexit. Denn es würde der EU guttun, wenn es Alternativen zu ihr gäbe, so wie der Kalte Krieg die politischen und wirtschaftlichen Eliten des Westens disziplinierte und historisch einmalige sozialpartnerschaftliche Modelle herbeiführte - allein aus der Angst heraus im globalen Klassenkampf mit dem Ostblock zu unterliegen.
Es sollte daher Gegengewichte zur EU geben, ob nun die Visegrad-Staaten oder ein Großbritannien, das sich seit jeher in einer Splendid Isolation gefällt oder als Konstrukteur eines kontinentalen Gleichgewichts, in dem es selbst dann als Zünglein an der Waage fungiert. Die Briten sollen zeigen dürfen, aber auch zeigen müssen, dass ihre politischen Ideen der bessere Weg für ganz Europa sind.
Die bestmögliche Folge, die ein Brexit haben könnte, wäre der Dominoeffekt: Ungarn und Polen würden nachziehen, vielleicht noch die Slowaken und die Tschechische Republik. Etwas Besseres könnte der EU gar nicht passieren. Mit einem Federstrich wäre man die Querulanten und Verhinderer los, mit einem Schlag würde durch eine demokratische Abstimmung das erreicht, was die angeblich so mächtigen Brüsseler Technokraten in 30 Jahren nicht vermocht haben: die Schaffung eines "Kerneuropa".
Man muss an dieser Stelle vielleicht einmal daran erinnern, dass der heutige Brexit-Gegner Wolfgang Schäuble vor 22 Jahren der Verfasser eines der wichtigsten Grundsatzpapiere zur europäischen Einheit gewesen ist, in dem er gemeinsam mit seinem Parteifreund Karl Lamers offen der Idee "Kerneuropa" das Wort redete.
Egal ob man hier nun den Ausdruck "Europa der zwei Geschwindigkeiten" bevorzugt oder den Begriff der "konzentrischen Kreise", einer "variablen Geometrie" oder ähnliches - es geht um eine Überschreitung der Real-Bedingungen der EU hin zu einer vertieften Zusammenarbeit einiger EU-Staaten mit dem Ziel der kompletten Abschaffung des Nationalstaatsmodells, hin zu den Vereinigtem Staaten von Europa.
Ein Brexit würde den Kardinalfehler der europäischen Politik der letzten Jahrzehnte korrigieren: Die Erweiterung. Ab Mai 2004 musste die EU auf einen Schlag zehn neue Mitglieder verkraften, ab Mai 2004 stagniert das europäische Projekt. Seitdem wurde die mehrfach begonnene, aber nie konsequent verfolgte Debatte über eine zunehmende Integrationsdichte der EU auf Eis gelegt.
Die EU hat seit 2004 kaum noch etwas mit jener "Europäischen Gemeinschaft" zu tun, wie sie Charles de Gaulle, Robert Schuman, Alcide De Gasperi und Konrad Adenauer, aber auch deren europapolitischen Enkeln Francois Mitterand, Jacques Delors und Helmut Kohl vorgeschwebt hat: eine Union der Staaten und Völker, die im gemeinsamen Interesse auf Souveränitätsverzicht bereit sind, und die mittelfristig eine immer stärkere Integration, langfristig einen Bundesstaat ("Vereinigte Staaten von Europa") anstreben. Die EU hat die Chance verpasst, den politischen Rahmen Europas und seine Grenzen - nicht ihre geographischen wohlgemerkt - klar zu fixieren.
Solch ein Rahmen würde zum einen das klare und verpflichtende Bekenntnis zu gemeinsamen Werten und politischen Grundsätzen bedeuten. Zum zweiten eine unhintergehbare Souveränitätsübertragung (es wäre eben kein Souveränitäts"verzicht", wie es die Antieuropäer suggerieren) auf die Institutionen des vereinten Europa.
Es ist nichts gegen eine Erweiterung des "politischen Europa" zu sagen. Im Gegenteil: Langfristig werden zu solch einem neuen europäischen Imperium auch die Türkei dazugehören, die Maghreb-Staaten in Nordafrika, Israel und der Libanon und wahrscheinlich eine Handvoll Staaten als privilegierte Partner, als Satrapen.