Warum der zweitreichste Mensch der Welt von Big Brother träumt
Larry Ellison träumt von totaler KI-Überwachung. Der Oracle-Gründer will Kameras überall. Seine Vision verspricht Sicherheit, aber zu welchem Preis?
Larry Ellison, Gründer des US-Softwarekonzerns Oracle, entthronte vor wenigen Tagen Jeff Bezos als zweitreichsten Menschen der Welt.
Ellison nutzte ein Meeting der Finanzanalysten von Oracle, um vor den anwesenden Investoren seine Zukunftsvision zu verkünden, wie Künstliche Intelligenz dank Oracle zum Wohl der Menschheit eingesetzt werden solle.
Eine Welt von der besten Seite
Im Zentrum der neuen Ära der Menschheit, die Ellison vor wenigen Tagen verkündete, steht die Künstliche Intelligenz. (Oracle setzt in seinem Geschäft selbstverständlich massiv auf seine KI-Produkte).
Sein Plan: Die Künstliche Intelligenz soll genutzt werden, um konstant Überwachungssysteme (Sicherheitskameras, Bodycams von Polizisten, Kameras an Haustüren und Kameras in Autos) zu beobachten und analysieren.
Ellisons erklärtes Ziel:
Die Bürger werden sich von ihrer besten Seite zeigen, weil wir ständig alles aufzeichnen und berichten, was vor sich geht. Und das ist unanfechtbar.
Als quasi ausgleichende Gerechtigkeit sollen auch Polizisten rund um die Uhr überwacht werden:
Die Polizei wird sich von ihrer besten Seite zeigen, weil wir ständig alles aufzeichnen und beobachten, was vor sich geht.
Schutz für die Polizei? Kein Problem:
Jeder Polizist wird zu jeder Zeit überwacht, und wenn es ein Problem gibt, wird die KI das Problem melden und es an die zuständige Person weiterleiten.
Amokläufe an Schulen verhindern? Kein Problem:
Wir glauben, dass wir Schulen absolut abriegeln können, so dass der Fall, dass sich jemand auf dem Campus aufhält, der dort nicht hingehört, drastisch reduziert wird, und dass wir sofort Alarm schlagen können, sobald jemand eine Waffe zieht, und zwar sofort. Verwenden Sie KI-Kameras, um das sofort zu erkennen.
Gefährliche Verfolgungsjagden von Verdächtigen durch Polizeiwagen verhindern? Kein Problem:
Man lässt einfach eine Drohne dem Auto folgen. Im Zeitalter der autonomen Drohnen ist das sehr einfach.
Larry Ellison
Niemals ausgeschaltet
Die neu konzipierte Bodycams, "sind einfach Linsen, zwei Linsen, die an Ihrer Weste befestigt sind, die an dem Smartphone, das Sie tragen, befestigt ist." Konsequenzen für Privatsphäre sieht Ellison keine.
Um den gewünschten Zweck zu erfüllen, sind sie permanent eingeschaltet, sogar wenn man sich auf der Toilette erleichtert. Aber auch das ist kein Problem für Ellison:
Die Wahrheit ist, wir schalten es nicht wirklich aus. Wir zeichnen es auf, so dass niemand es sehen kann, aber niemand kann ohne Gerichtsbeschluss in die Aufzeichnung eindringen. Sie bekommen also die Privatsphäre, die Sie wollten.
Larry Ellison
Wohlgemerkt, das Gerät ist niemals ausgeschaltet und "übermittelt das Video zurück an die Zentrale. Die Zentrale und die KI überwachen also ständig das Video".
Die Wahrung der Privatsphäre gehört nicht unbedingt zu Oracles Stärken, wie Techspot berichtet. Oracle war bereits mit Vorwürfen der Massenüberwachung konfrontiert.
Vor zwei Jahren wurde gegen das Unternehmen eine Sammelklage erhoben. Die Beschuldigung: Oracle würde Online- und Offline-Aktivitäten von Einzelpersonen ohne deren Zustimmung verfolgen, auch unabhängig davon, ob sie Oracle-Kunden waren.
Oracle legte die Klage vergangenen Monat durch eine Zahlung von 115 Millionen Dollar bei. Als Teil des Vergleichs stimmte das Unternehmen zu, seine Datenerfassungs- und -verwendungspraktiken zu ändern.
Big Brother lässt grüßen
Inwiefern hierbei George Orwells Überwachungsklassiker "1984" Pate gestanden hat, muss dabei vorerst unbeantwortet bleiben. Eindeutig hingegen, dass Ellison selber seine Vision als die beste aller möglichen Welt ansieht.
Die ersten Schritte in exakt diese Richtung sind dieses Jahr auch vollzogen worden, so dass man Ellisons Darstellung kaum als Randnotiz abtun kann. Die automatisierten Systeme, von denen er spricht, waren einst Science-Fiction-Träume. In der Londonder U-Bahn und bei den Olympischen Spielen 2024 wurden sie jedoch schon erprobt.
Chinas Überwachung lässt grüßen
Bekanntermaßen setzt China schon seit Jahren automatisierte Systeme (einschließlich KI) zur Überwachung seiner Bürger ein. Vor zwei Jahren haben chinesische Unternehmen eine KI-Software entwickelt, um Daten zu ordnen und katalogisieren, die über ein weites Netz von Überwachungskameras gesammelt wurden, die im Rahmen der chinesischen Kampagne "Sharp Eye" von 2015 bis 2020 aufgestellt wurden (Reuters).
Diese Technologie organisiert die gesammelten Daten über einzelne chinesische Bürger in jeweils einer Datei und führt somit zu dem, was die Economic Times einen "Weg zum digitalen Totalitarismus" nannte.
Utopie oder Dystopie
Der US-amerikanische Journalist Scott Bicheno kommentiert die aktuelle Vision von Ellison:
Er hat das alles eindeutig als eine utopische Vision gemeint, die sein Unternehmen ermöglichen wird, aber es scheint ihm nicht in den Sinn gekommen zu sein, wie dystopisch dies für jeden erscheint, der nicht zu den reichsten Menschen der Welt gehört.
Ellison scheint nur die Kehrseite einer Welt der totalen Überwachung sehen zu können, selbst wenn man glaubt, davor sicher zu sein, und in der die künstliche Intelligenz ständig über jede seiner Handlungen urteilt.
Scott Bicheno
Gerade auch in Anbetracht der gegenwärtigen Ereignisse in Deutschland, die den Kampf zwischen zunehmendem Überwachungswunsch und dem Bedürfnis nach Privatsphäre verstärken, zeichnet sich die Notwendigkeit einer gesamtgesellschaftliche Diskussion über die vielleicht grundlegendste und wichtigste Frage der Politik ab: Wie wollen wir eigentlich leben?