Warum die Hirnforschung die Psychologie braucht

Seite 3: Bewusstseinsverwirrung

Dazu kommt auch noch, dass in der Forschungswelt alles andere als klar ist, was mit "Bewusstsein" überhaupt gemeint ist. Koch und andere zielen auf den Erlebnisgehalt ab und vermuten die dafür notwendigen neuronalen Strukturen gar nicht im großen Frontallappen unseres Gehirns, auf den wir Menschen so stolz sind, sondern eher im hinteren Teil der Großhirnrinde.

Andere Forscherinnen und Forscher, die Bewusstsein eher als Informationsverarbeitung und Verfügbarmachen von Information für das ganze System auffassen – beispielsweise gemäß der Global Neural Workspace Theory –, finden dann aber doch konsistent Aktivierungsmuster im Frontalhirn. Das neuronale Korrelat hängt also entscheidend davon ab, wie man Bewusstsein versteht und wie man es misst.

Insofern lässt sich die subjektive Komponente nicht aus der Wissenschaft eliminieren. Und das, wo sie doch so objektiv sein will! Vielleicht hat es dann aber gar keinen Sinn, ein Phänomen wie Bewusstsein erforschen zu wollen, wenn man seine entscheidenden Eigenschaften von vorneherein ausschließt.

In diesem Sinne geht auch der 4E-Ansatz nicht weit genug. Zwar braucht man eine holistischere Vorgehensweise, um Kognition zu verstehen. Eine, die Verkörperung, Verhalten und Umwelt mit einschließt.

Und für die subjektive Komponente braucht man eine Methodik, die subjektiven Sachverhalten gerecht wird. Genau das versucht die Phänomenologie. Francisco Varela, Evan Thomson und Eleanor Rosch haben schon in den 1990ern vorgeschlagen, mit einer "Neurophänomenologie" eine Brücke zwischen den Welten zu bauen.

Komplexität

Theorien sollen zwar so einfach wie möglich, also mit so wenig Annahmen und Entitäten wie möglich auskommen; sie nutzen uns aber auch nichts, wenn sie zu einfach sind. Daher müssen sie auch so komplex wie nötig sein.

Hierin bestünde ein echter Schritt nach vorne: anzuerkennen, dass man Menschen eben nicht mit denselben Methoden verstehen kann, mit denen man Elementarteilchen beschreibt. Neben dem angemessenen methodischen Pluralismus kommt dann auch noch die nötige begriffliche Reflexion hinzu.

Hirnforscher können sich nun ewig streiten, ob "das" neuronale Korrelat des Bewusstseins eher im vorderen oder hinteren Teil der Großhirnrinde zu finden ist. Wenn sie verstehen, dass sie den Begriff "Bewusstsein" unterschiedlich verwenden, dann löst sich der Widerspruch auf.

So wird deutlich, dass die Hirnforschung Psychologie oder Philosophie weder ablösen noch ersetzen kann. Umgekehrt setzt das Verständnis neurowissenschaflicher Daten voraus, dass man weiß, was so ein Gehirn, so ein Nervensystem, so ein Körper in einer bestimmten Umwelt tut.

Man kann natürlich Vorgänge des Nervensystems so beschreiben, wie man beispielsweise Wetterphänomene beschreibt: rein deskriptiv als Zustände, als Veränderungen und als Wenn-dann-Beziehungen. So wird man aber nicht verstehen, was der Mensch ist oder was es mit seinen Bewusstseinserlebnissen auf sich hat.

In einer neueren Überblicksarbeit beschreiben der Neurowissenschaftler Camilo Signorelli vom Institut für Informatik der Oxford Universität und Kollegen nun schon über 20 Ansätze zum Verständnis von Bewusstsein. Verstehen wir das Phänomen aber desto besser, je mehr Ansätze und Theorien es zu seiner Beschreibung gibt? Oder müssen wir nicht doch erst auf der Ebene der Erscheinungen und Sprache gründlich arbeiten, wie es die Phänomenologen versuchten?

In einem rund zweistündigen Gespräch mit Hannes Wendler und Alexander Wendt von der Universität Heidelberg haben wir dem Zusammenhang von Sprache, Psychologie und Hirnforschung auf den Zahn gefühlt. Interessierte können es sich im Podcast der Arbeitsgruppe Philosophie & Psychologie auf Youtube oder Spotify anhören.

Hinweis: Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.