Warum die Hirnforschung die Psychologie braucht

Seite 2: Gehirn als Denkorgan

Das Gehirn wird nun gemeinhin als "Denkorgan" angesehen. Schon im 19. Jahrhundert zogen Physiologen den Vergleich, wie Nieren den Urin, so würde das Gehirn die Gedanken erzeugen. Doch was nutzt uns dieses Bild, wenn man so nicht Bewusstsein oder den Menschen erklären kann? Und: Was heißt das überhaupt?

In den Kognitionswissenschaften spricht sich gerade herum, Kognition (als Oberbegriff für: Wahrnehmen, Denken, Fühlen, Entscheiden…) müsse gemäß dem 4E-Ansatz erforscht werden. Das steht für verkörpert (embodied), eingebettet (embedded; manchmal auch: situiert), in Interaktion mit der Welt (enacted) und erweitert (extended). 2018 erschien hierzu ein neues Lehrbuch unter Mitwirkung des Bochumer Philosophieprofessors Albert Newen.

Gemeint ist damit, dass wir nun einmal keine reinen Gehirne sind, die in einer Nährlösung schwimmen. Wir haben einen ganzen Körper, in einer bestimmten Situation für eine bestimmte Interaktion. Mit dem "erweiterten Geist" (extended mind) meint man, dass auch Werkzeuge Teil unseres kognitiven Systems sind.

Letzteres kommt auch Cyborg-Fans und Biohackern entgegen, die allerlei Chips mit uns verschmelzen lassen wollen. Man braucht aber nur an sein Smartphone zu denken: Seit etwa die Zugverbindungen auf einen Blick und in Echtzeit abrufbar sind, kann ich mir die Abfahrtszeiten kaum noch merken; und wie man sich ohne Maps in einer fremden Stadt orientierte, kann ich mir kaum noch vorstellen.

Es geht hier nun nicht darum, ob das gut oder schlecht für einen Menschen ist. Übrigens war der alte Philosoph Sokrates vor rund 2.500 Jahren sogar ein Kritiker der Schriftsprache, weil er fürchtete, dass unsere Gedächtnisfähigkeiten darunter leiden. Was hätte er wohl von Online-Suchmaschinen und -Enzyklopädien gehalten?

Phänomenologie

Aus historischer Sicht kann man sich über 4E übrigens wundern: Schließlich reflektiert dies schlicht Grundannahmen, die schon vor 100 Jahren für die Phänomenologen selbstverständlich waren. Mit Formulierungen wie "In-der-Welt-Sein" oder dem "Leib" (als erfahrender Körper) gegenüber dem Körper als materielles Ding haben sie dies bereits ausgedrückt.

Solche deutschen (manchmal auch französischen) Wörter und Wendungen werden übrigens heute noch in englischen Fachaufsätzen verwendet, weil man sie nicht eins zu eins übersetzen kann. Oder um es einmal anders zu sagen: Um das "neue" 4E für innovativ zu halten, musste man erst einmal vergessen, was Phänomenologen schon lange wussten.

Wie der Name dieser Schule schon andeutet, halten Phänomenologen (man denke an Edmund Husserl oder Maurice Merleau-Ponty) die Phänomene, das, was uns erscheint, für grundlegend. Im Grunde sind auch die Ergebnisse eines physikalischen Teilchenbeschleunigers, die ein Physiker auf einem Computerbildschirm abliest, diesem erst einmal nur als Erscheinungen gegeben.

Ein Physiker könnte seine Methode damit verteidigen, dass die Messung von ihm unabhängig durchgeführt wird, durch das Instrument; und dass andere Physiker dieselben Messungen wiederholen und dann idealerweise auch dieselben oder ähnliche Ergebnisse erhalten. Das sei das entscheidende objektive – oder besser: intersubjektive – Element der Wissenschaft.

Und diesem – im 19. und 20. Jahrhundert sehr erfolgreichen – Weg folgte auch die Psychologie. Hier hat sich vor rund 100 Jahren der Behaviorismus durchgesetzt, mit seiner Annahme, dass nur das, was sich objektivieren lässt, einen wirklichen Platz in der Wissenschaft verdient.

Demnach sollte sich die "Seelenlehre" – wörtlich für "Psychologie" – mit dem Verhalten von Menschen und Tieren beschäftigen und nicht mit etwas Subjektiven wie Erscheinungen oder Bewusstsein. Also Seelenleere statt Seelenlehre?

In dieser starken Form rückte man später zwar wieder vom Behaviorismus ab – doch bis heute halten sich in Psychologie (und Psychiatrie) viele Vorurteile, nur das, was sich "objektiv" nachweisen lasse, sei real. Dementsprechend sind bis heute die quantitativen Verfahren, das nie aufhörende Messen, Zählen und statistische Rechnen, die dominanten Methoden.

Subjektivität

Doch lässt sich damit wirklich das Wesen der psychologischen Vorgänge verstehen? Lässt sich Bewusstsein entschlüsseln? Philosophen sprechen von der Subjektivität des Bewusstseins und meinen damit, dass sich manche seiner Eigenschaften nur vom Bewusstsein selbst erkennen lassen.

Und man kann sich umgekehrt fragen, was es wirklich erklärt, wenn man die neuronalen Mechanismen findet, aus denen Bewusstseinsvorgänge hervorgehen. Hirnforscher und Vertreter anderer Disziplinen suchen bereits seit Jahrzehnten nach dem sogenannten neuronalen Korrelat des Bewusstseins.

Stellen wir uns einmal vor, Außerirdische mit einem Superscanner kämen auf die Erde und begegneten dort einem Menschen. Mit ihrem Scanner könnten sie den Zustand von jedem Molekül, Atom, jeder elektrischen Ladung des Gehirns dieses Menschen im Bruchteil einer Sekunde auslesen und dann vollständig in einem Supercomputer simulieren.

Würden sie auf ihrem Computerbildschirm "sehen", was für Erlebnisse dieser Mensch hat? Würden sie dadurch überhaupt irgendetwas Wesentliches über Erlebnisse erfahren? Würde gar die Computersimulation ein Bewusstseinserlebnis haben, nämlich dasselbe des Originals?

Überraschenderweise schrieb ausgerechnet Christoph Koch, einer der bekanntesten Jäger nach dem neuronalen Korrelat des Bewusstseins, Bewusstsein lasse sich nicht berechnen: Ebenso wenig wie die Simulation eines Schwarzen Lochs keine Gravitationskraft hätte, hätte die Simulation eines Gehirns Bewusstseinserlebnisse.

Welche "Zutat" fehlt dann aber fürs Bewusstsein, was tun die Neuronen und anderen Zellen des Nervensystems anderes als Information in Form von elektrischen Reizen zu verarbeiten? Kann Bewusstsein vielleicht doch nur subjektiv, nur aus der Perspektive der ersten Person, die die Bewusstseinserlebnisse hat, verstanden werden?

So weit geht Koch allerdings nicht. Doch meint er, Bewusstsein müsse in die Struktur des Systems eingebaut sein – also seinen Körper? Demnach könne es keine bewussten Computersimulationen, dafür eines Tages aber bewusste Roboter geben.