Warum die Hirnforschung die Psychologie braucht

Rätsel Bewusstsein, Gedankenlesen, Gehirnschreibmaschine – was kann die Hirnforschung hier leisten? Kommt sie ohne Psychologie und Philosophie aus oder setzt sie sie umgekehrt zwingend voraus?

Wie Bewusstsein entsteht, wie unser Wahrnehmen, Denken und Fühlen funktioniert, wie wir Entscheidungen treffen und was unser Verhalten bestimmt – all das sind Fragen, die Forscherinnen und Forscher rund um den Globus beschäftigen. Regelmäßig melden sich auch Fachleute aus der Philosophie zu Wort. Manchen gilt die Entstehung des Bewusstseins gar als eines der größten ungelösten Rätsel der Menschheit.

Diese Fragen sind aber nicht nur im rein wissenschaftlichen Sinn von Bedeutung. Tatsächlich geht es auch um unmittelbar lebensrelevante Themen: Wie organisieren wir unser gesellschaftliches Miteinander? Wie unsere Arbeit? Wie müssen Verhaltensregeln – denken Sie an die Pandemie oder den Klimaschutz – gestaltet sein, damit sie funktionieren?

Gemäß dem Reduktionismus funktioniert Wissenschaft so, dass sie allgemeine Erklärungen auf grundlegendere Prinzipien zurückführt.

Demnach würde es irgendwann eine Weltformel geben, eine "Theorie für alles", die jeden nur denkbaren Sachverhalt erklärt. Manche halten dann die Physik für die grundlegendste aller Wissenschaften, erwarten also von ihr letztlich diese Weltformel.

Bei den hier genannten Beispielen aus dem Bereich des Bewusstseins, Denkens und so weiter wurden spätestens seit der "Dekade des Gehirns" (den 1990ern) und in Deutschland dem "Manifest führender Hirnforscher" aus dem Jahr 2004 die Erklärungsansprüche der Neurowissenschaften hervorgehoben.

Dieses Manifest wird bald 20 Jahre alt. Die damals formulierten Erklärungsansprüche – beispielsweise zur nahtlosen Erklärung des Bewusstseins oder Entwicklung besserer Behandlungen für psychische Störungen – wurden bekanntermaßen nicht erfüllt.

Neurotraum und Neurotechnologie

Aber auch bei konkreteren technischen Anwendungen, denken wir an den Bereich des "Gedankenlesens", hat sich nicht viel getan. Von dem Enthusiasmus, mithilfe der Hirnforschung unschlagbare Lügendetektoren zu entwickeln, ist wenig übrig geblieben.

Der "Chef-Gedankenleser" John-Dylan Haynes von der Humboldt-Universität in Berlin veröffentlichte dazu erst letztes Jahr ein Buch und zog das Fazit, solche Anwendungen befänden sich noch in einem sehr frühen Stadium. So früh sogar, dass sich die Anwendungsreife nicht einmal sinnvoll beurteilen lasse.

Hier soll aber nicht unter den Tisch fallen, dass es in bestimmten Bereichen durchaus große Fortschritte gibt. Denken wir etwa an Gehirn-Computer-Schnittstellen. Diese erlauben manchen gelähmten Patienten die Kommunikation mit anderen. Ähnliche Systeme könnten in naher Zukunft die Steuerung von Prothesen verbessern. (Hier ein Forschungsprojekt) von Gernot Müller-Putz vom Institut für Neurotechnologie der TU Graz.

Bei solchen Verfahren sollte man aber nicht den Eindruck erwecken, es handle sich um "Gehirnschreibmaschinen". Oft muss der Mensch sich vorstellen, eine bestimmte Bewegung durchzuführen, etwa Öffnen und Schließen der Hand. Ein Computeralgorithmus lernt dann, die damit verbundenen Gehirnaktivierungen in einem bestimmten Sinne zu interpretieren: etwa als Knopfdruck.

Die "Sprache der Neuronen", so es sie denn gibt, hat also noch niemand verstanden. Um Laien einen Eindruck zu vermitteln, wie das funktioniert, sei hier ein konkretes Beispiel genannt:

In der Studie von Mariska Vansteensel und Kollegen von der Universitätsklinik Utrecht bekam eine wegen der schweren Muskelkrankheit amyotrophe Lateralsklerose (ALS) in ihrem Körper gefangene Patientin Elektroden direkt auf die Gehirnoberfläche gelegt. Dafür musste ein kleines Loch in ihren Schädel gebohrt werden. Dann ist die Qualität der Messungen aber viel besser als mit der herkömmlichen Elektroenzephalographie (EEG), die die Signale auf der Kopfhaut aufzeichnet.

Die Patientin lernte nach der Operation 38 Wochen lang mit einem Computer, damit bestimmte Aufgaben auszuführen. Um einen "Brain Click" zu signalisieren, sollte sie sich etwa eine Sekunde lang vorstellen, ihre Hand zu bewegen.

Im Endeffekt konnte sie dann mit einer Geschwindigkeit von 52 Sekunden pro Zeichen Wörter buchstabieren. Wenn man den Buchstabieralgorithmus verbesserte, wie wir es von unseren Smartphones kennen, konnte man die Rate auf 33 Sekunden pro Zeichen verbessern.

Die Studie ist nun zugegebenermaßen aus dem Jahr 2016, hat also schon ein paar Jahre auf dem Buckel. Solche Details muss man aber wissen, um die Anwendbarkeit einer Technologie zu verstehen.

Die Patientin verwendete übrigens vorzugsweise ein System, das ihre Augenbewegungen erkannte. Doch das funktioniert nicht unter allen Lichtverhältnissen. Daher der alternative Versuch mit der "Gehirnschreibmaschine".