Warum die Ukraine niemals Mitglied der Nato werden darf (und wohl auch nicht wird)

Selenskyj und Stoltenberg in Vilnius. Bild: nato.int

Eine "Beitrittsperspektive" für Kiew hat es nie gegeben – alles andere wäre realpolitischer Irrsinn. Was bei der Debatte aus dem Blick gerät. Und welche Erkenntnis der Universität Uppsala wir beherzigen sollten. Ein Telepolis-Leitartikel.

Wir haben uns darauf geeinigt, die Ukraine mehr an die Allianz zu binden und die Unterstützung auf lange Sicht zu verstärken.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, 12.07.2023, Vilnius

Es war ein seltsames und zugleich vorhersehbares Schauspiel, das die Nato bei ihrem jüngsten Gipfel in Vilnius ablieferte. Man war bemüht, die Unterstützung für die Ukraine in ihrem Abwehrkampf gegen die russische Invasion zu bekräftigen, musste aber gleichzeitig dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj eine Absage erteilen.

Die Ukraine wird auf absehbare Zeit nicht Teil des Nordatlantikpaktes werden. Und auch nach der absehbaren Zeit wohl nicht.

Und das ist gut so. Denn die diffusen Forderungen nach einem Nato- und übrigens auch EU-Beitritt der Ukraine sind unreflektiert und basieren weitgehend auf Befindlichkeiten. Es ist eine politisch getriebene Debatte, in der die Ukraine im Vordergrund und Washington im Hintergrund den Ton angeben. Das ist in Vilnius wieder deutlich geworden.

Eine eigenständige Linie der EU, die europäische Interessen, europäische Sicherheit, europäischen Wohlstand in den Mittelpunkt stellt und gleichzeitig Sicherheit für die Ukraine und die Staaten von Osteuropa bis zum Baltikum garantiert, fehlte. Die Äußerungen der EU-Vertreter gerieten so weitgehend zu politischen Bankrotterklärungen.

Gleichzeitig verstrickt sich die Nato unter Führung der USA immer tiefer in den Konflikt. Sie eskaliert, statt einen Beitrag zur Beendigung des Krieges zu leisten, der über eine sture "Wir werden die Russen schon besiegen"-Attitüde hinausgeht. Denn, um ehrlich zu sein, Militärexperten in Brüssel sehen wenig Grund für diese Hoffnung.

Einzelne EU- und Nato-Staaten preschten derweil vor und sind de facto bereits in den Ukraine-Krieg involviert. Allen voran Polen: An den Angriffen von Paramilitärs in der russischen Region Belgorod waren nach dortigen Medienberichten auch polnische Söldner und Militärs beteiligt. Es handele sich um Kämpfer, die unter dem Namen "Polnisches Freiwilligenkorps" an der Seite der ukrainischen Armee kämpften, berichteten die Onlineportale Polsatnews.pl und Wprost.pl Anfang Juni.

Nato sorgt als militärischer Akteur für Zuspitzung

Unabhängig vom aktuellen Krieg in der Ukraine und der Tatsache, dass Russland das Nachbarland angreift, würde eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine diesen Konflikt an Intensität und Dauer verschärfen. Denn dann stünden sich das Atomwaffenbündnis Nato und die Atommacht Russland an der ukrainisch-russischen Grenze direkt gegenüber. Wie das zu Deeskalation und Frieden beitragen soll - das muss man erst einmal erklären.

Im Grunde reicht ein Blick auf die mediale Berichterstattung und die politische Debatte, um zu verstehen, dass eine verstärkte Rolle der Nato geeignet ist, den Ukraine-Krieg zu einem eurasischen Konflikt auszuweiten. Denn schon jetzt bemüht sich der Nordatlantikpakt proaktiv um Einfluss von Südosteuropa bis in den Kaukasus und tritt ohne demokratische oder völkerrechtliche Legitimation als geopolitische Ordnungsmacht auf.

Die regierungsnahe Stiftung Wissenschaft und Politik diskutiert bereits die Möglichkeit, die Ostsee für russische Schiffe zu sperren. Zwar habe Russland nach dem Seerechtsübereinkommen der Internationalen Seeschifffahrts-Organisation (IMO), einer Unterorganisation der Vereinten Nationen, "legitime Rechte, die lebenswichtigen Seeverbindungslinien in der Ostsee zu seinen Gebieten zu nutzen", schreiben zwei SWP-Autoren:

Im Falle eines bewaffneten Konflikts könnte sich das dramatisch ändern. Die Nato hätte einen großen Hebel in der Hand, um die russische Exklave Kaliningrad und den wirtschaftlich essentiellen Zugang zu Sankt Petersburg durch Blockaden und militärische Operationen zu erschweren oder diese Seeverbindungen sogar für russische Nutzung zu sperren. Der Seeweg endet nicht in Sankt Petersburg, sondern setzt sich über Flüsse, Seen und Kanäle nach Süden ins russische Kernland, nach Norden zum Weißen Meer fort. Der Sankt Petersburg passierende maritime Güterverkehr umfasst jährlich über 300 Millionen Tonnen.

SWP-Papier "Geopolitik im Ostseeraum"

Krisenpolitische Überlastung der EU

Reflektiertere Autoren und Beobachter in den USA sind sich der verfahrenen Situation durchaus bewusst. Ein Beitritt der Ukraine wird dort ohnehin parteiübergreifend nicht mehr ernsthaft erwogen. Die US-Diplomatin und Journalistin Tara Sonenshein weist auf die offensichtliche krisenpolitische Überforderung in Europa hin. In einem Gastbeitrag für die Washingtoner Online-Zeitung The Hill wirft sie die Frage nach der Verlässlichkeit des europäischen Bündnispartners auf.

- Sonenshein fragt, ob Deutschland einen weiteren Winter mit reduzierten Öllieferungen aus Russland überstehen könne und ob es die Ukraine weiterhin militärisch unterstützen werde.

- Ob Frankreich die wochenlangen innenpolitischen Unruhen im Zusammenhang mit der Polizeigewalt hinter sich lassen und sich auf die größeren internationalen Probleme rund um die Ukraine und Russland konzentrieren könne.

- Was der Zusammenbruch der niederländischen Regierung für die Migrationspolitik in Europa bedeutet.

- Ob sich die britische Wirtschaft von den katastrophalen Auswirkungen des Brexit erholen kann und London somit über den nötigen Spielraum verfügt, um die Ukraine zu unterstützen.

Europa als vom Ukraine-Krieg unmittelbar bedrohte Region muss sich endlich eingestehen, dass die bisherige Linie gegenüber dem angegriffenen Kiew und den Aggressoren in Moskau in eine Sackgasse geführt hat.

Um es klar zu sagen: Die Eroberung und Rückeroberung von ein paar hundert Quadratmetern Land, noch dazu mit einem hohen Blutzoll, wird diesen Krieg nicht beenden. Das Gegenteil ist wahrscheinlich.

Eine Studie des Center for Strategic and International Studies, die sich auf Daten der Universität Uppsala von 1946 bis 2021 stützt, zeigt, dass 26 Prozent der zwischenstaatlichen Kriege in weniger als einem Monat und weitere 25 Prozent innerhalb eines Jahres beendet wurden. Die Studie stellt aber auch fest: "Wenn zwischenstaatliche Kriege länger als ein Jahr dauern, dauern sie im Durchschnitt mehr als ein Jahrzehnt.

Keine gute Perspektive für Europa. Ebenso wenig für die Menschen in Russland. Und schon gar nicht die Ukrainerinnen und Ukrainer.

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