Warum eine allgemeine Impfpflicht sein muss

Mehr Impfen, weniger schimpfen - ein Blick in die deutsche Debatte

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Man kann sich auch darauf verständigen, dass man gewisse Risiken bewusst eingeht. Dieser Aspekt kommt mir gerade zu kurz.

Svenja Flaßpöhler, Philosophin

Der in Deutschland zum Teil mit staatlichen Forschungsgeldern entwickelte Corona-Impfstoff wird in Großbritannien, den USA, in Kanada, Mexiko, Saudi-Arabien, Bahrein und Singapur bereits angewandt. Deutschland selbst erhält bis Ende Januar aber nur vier Millionen Impfdosen. Das bedeutet, dass bis zum Februar maximal - höchstwahrscheinlich weniger - zwei Millionen Menschen geimpft werden können! Wenn es in diesem Tempo weitergeht, dann dürfte die zur Herdenimmunität nötige Mindestimpfquote von zwei Dritteln der Bevölkerung schon im April 2023 erreicht werden!

Muss das eigentlich sein? Ist es Ressentiment, dieses träge, zögerliche Vorgehen zu kritisieren und zu fragen, warum hier nicht Prioritäten gesetzt werden, warum alles nicht schneller geht und umfassender, und warum der Impfstoff nicht schneller auch in jenem Land ausreichend ankommt, das ihn maßgeblich mitentwickelt hat?

Es wäre völlig sinnlos, in einer globalisierten Welt nur ein bestimmtes Land impfen zu wollen - es aber so verspätet zu impfen, leuchtet umgekehrt auch nicht ein. Und dass die Hauptprobleme in der Produktion liegen sollen, insbesondere weil angeblich die dazu nötigen Rohstoffe fehlen, ist eine plumpe Ausrede. Denn in anderen Ländern fehlen die gleichen Rohstoffe ja offenbar nicht.

In erster Linie sind die Argumente gegen eine schnelle Impfstoff-Zulassung im EU-Bereich versicherungstechnische Argumente, nicht etwa gesundheitspolitische. Es geht vor allem ums Geld. Die Impfstoff-produzierenden Firmen lassen sich nur auf eine schnelle Lieferung ein, wenn sie von einer möglichen Haftung ausgeschlossen sind. Das heißt: Die Behörden müssten in diesem Fall das (höchst unwahrscheinliche) Risiko eines Impfschadens übernehmen, das natürlich übrigens auch im Fall einer Zulassung in der EU in erst ein bis drei Wochen weiterhin besteht.

Bisher ist es so, dass der Staat bei empfohlenen Impfungen haftet. Da eine Teilhabe am öffentlichen Leben ohne Impfung irgendwann nicht mehr möglich sein wird, impliziert das, dass die Impfung empfohlen ist. Haftet der Staat also auch bei Schäden, die durch eine Corona-Impfung entstehen (Allergie, Probleme bei Autoimmunerkrankungen oder langfristige, nicht bekannte Schäden)? Die Klärung dieser Frage ist wichtig für die Entscheidung, ob man sich impfen lässt - oder nicht.

So ticken die Impfgegner

Derweil wird in deutschen Medien eine nicht besonders differenzierte Debatte über das Impfen, seine Gegner und über eine mögliche Impflicht geführt. Das Thema der "allgemeinen Impfpflicht" ist dabei erkennbar das, was Amtsträger derzeit fürchten wie der Teufel das Weihwasser.

Warum? Die Fraktion der Impfverweigerer und aktiven Impfgegner ist schuld. Die gut organisierte Anti-Impf-Lobby arbeitet mit Shitstorms und Anti-Impf-Kommentaren in sozialen Medien.

Der Widerstand gegen Impfstoffe ist ein "Erste-Welt-Problem". Es ist ein Luxus für die Menschen der Wohlstandsgesellschaften der ersten Welt, überhaupt darüber entscheiden zu können, ob man sich oder seine Kinder impfen lassen will.

Kaum eine medizinische Errungenschaft hat so stark zur Gesundheitsvorsorge beigetragen wie die Schutzimpfungen gegen Seuchen. Doch die Pandemie lässt alte Ängste wieder aufleben. Die Angst vor einer Impfung gehört zu den Top-Themen aller "Querdenker"-Demos. Darum zögern nicht nur notorische Corona-Maßnahmen-Verweigerer, sich impfen zu lassen.

"So ticken die Impfskeptiker", erklärt nun die NZZ: Viele Esoteriker, Naturheiler und Homöopathen seien darunter. Deren Haltung speist sich aus der Verklärung des "Echten" und "Natürlichen": Schon 1877 wurde davor gewarnt, den Körper "mit thierischem Auswurfstoff, der nun einmal nicht in’s gesunde Blut gehört, zu verunreinigen".

Der Gedanke, wonach Impfstoffe unnatürlich seien, gilt als eigentliche Quelle für diese Impfskepsis. Die NZZ verweist auf den Schweizer Naturheiler Daniel Trappitsch vom Netzwerk Impfentscheid, auf dessen Website diverse Wortmeldungen von Verschwörungstheoretikern aus ganz Europa verlinkt sind, die zu den Stars der Szene gehören. Trappitsch war der Frontmann im Referendumskampf gegen das Epidemiengesetz.

Der NZZ-Autor unterscheidet fünf Einwände: Angst vor der Übermacht der Ärzte; Angst vor dem Staat; Widerstand gegen sozialen Druck; religiöse Gründe und schließlich radikale Impfgegner, die sich mit Maskenverweigerern und Lockdown-Kritikern vereinen.

Die Hauptwirkung eines Impfstoffs ist aber, dass er schützt. Dass er damit möglicherweise einen dritten Lockdown vermeidet.

Die Hauptwirkung ist, dass er die Infektionszahlen drastisch reduziert, dass weniger Leute sterben und das Virus sich bald nicht mehr weiterverbreiten kann.

Die Nebenwirkungen liegen dagegen im Promillebereich. Und trotzdem ist schon jetzt klar, dass es noch viele Debatten, Leitartikel und Talk-Show-Runden geben wird, die sich mit diesem Schmarrn beschäftigen und dass die Impf-Skeptiker wieder überall mobil machen, vor allem in sozialen Netzwerken.

Glasklare ethische Fragestellungen: Ideologie gegen Vernunft, Angst gegen Optimismus

Das Impfen führt wie wenige andere Vorkommnisse des modernen Alltags zu glasklaren ethischen Fragestellungen.

Ein konkretes Beispiel: Es gibt zwei Möglichkeiten, wie eine Person einen relativ hohen Schutz vor einer Infektionskrankheit wie Grippe oder Corona erhalten kann: Entweder wird sie isoliert. Oder sie wird geimpft. Wenn ein Mensch aufgrund von Vorerkrankungen oder eines schwachen Immunsystems nicht geimpft werden kann, und man sie nicht isolieren will oder kann, dann müssen sich die anderen in seiner Umgebung eben impfen lassen.

Tun sie das nicht, handeln sie unsolidarisch und stellen ihr eigenes Wohl über das der Mitmenschen. Tun sie das aber, ist dies eine konkrete moralische Tat: Sie stellen das (wahrscheinliche) Wohl des Mitmenschen über den (unwahrscheinlichen) Nachteil für sich selbst.

So geschehen in der extremen Grippesaison des Winters 2017/18. Damals ging der Fall einer Schule in Piemont durch die italienischen Medien. Alle Schüler und alle ihre Lehrer hatten sich zu einer Massenimpfung gegen Grippe entschlossen, trotzdem einige Schüler Angst vor der Nadel und vor möglichen Nebenwirkungen des Impfstoffs hatten. Die Gründe machten diese Geschichte zu einer besonderen: Ein Mitschüler - Simone - befand sich zu diesem Zeitpunkt in einer Krebstherapie und war immunsupprimiert, sein Immunsystem war vorübergehend geschwächt. Während die Grippe für die meisten gesunden Menschen kaum mehr als eine Unannehmlichkeit ist, konnte sie für Simone lebensbedrohlich werden. Simone durfte die Grippe nicht bekommen.

In diesem Fall stellte ein Kollektiv individuelle Bedenkenträgerei und persönliche Empfindlichkeiten hintan. Ein "Akt der Solidarität" wie es die Schule selbst beschrieb - und ein vorbildliches Verhalten.

Das Beispiel führt anschaulich vor Augen: Sich impfen zu lassen ist die Erfüllung einer grundlegenden moralischen Verpflichtung. Wenn Individuen dieser moralischen Verpflichtung nicht nachkommen, haben Institutionen die politische Verpflichtung und das moralische Recht, Zwangsmaßnahmen durchzusetzen, um bestimmte öffentliche Gesundheitsziele zu erreichen.

Der Tagesspiegel versucht die Debatte mit einem Pro/Contra auszugleichen. Für Pro steht der zurzeit unvermeidliche und entsprechend nervtötende Corona-Philosoph Markus Gabriel. Er fordert mehr Rechte für Corona-Geimpfte, denn (1) "Die Gesellschaft teilt Menschen laufend in Kategorien ein - wieso also nicht auch infolge einer Corona-Impfung?"; (2) "Wenn Geimpfte das Virus nicht weiterverbreiten können, ist ein Corona-Impfausweis nicht nur vertretbar, sondern sogar geboten."

Impfen als Bürgerpflicht

Wen man auch fragt: Alle Politiker aller Parteien sind sich einig, dass es keine Impfpflicht geben solle. Aber warum eigentlich nicht?

"Impfpflicht! Was denn sonst?" fragt erkennbar ungeduldig Nikolaus Blome im Spiegel. Bund und Länder hätten in den letzte Monaten nicht gespart mit Ge- und Verboten, mit dringenden "Empfehlungen" und mit Lockdown-Maßnahmen. Doch ausgerechnet in der Frage einer Impfpflicht "ziert sich die Obrigkeit und will regulatorisch außen vor bleiben, wiewohl absolut unbestritten ist: Wenn alle geimpft sind, die es gesundheitlich vertragen, sind Lockdown und hohe Infektionszahlen Geschichte. ... Aber nein, die Politik fürchtet die Impfpflicht."

Dabei ist, so argumentiert nicht nur Blome, das Impfen eine Art Bürgerpflicht, mit moralischen, zivilbürgerlichen und ökonomischen Komponenten.

Moralisch, weil Impfen auch der Gesundheit der Mitmenschen dient, und die Vereinsamung großer Gruppen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt insgesamt.

Zivilbürgerlich wie man Mitmenschen in Bedrängnis hilft oder Zivilcourage zeigt. Und ökonomisch angesichts von Arbeitslosigkeit, Verschuldung und der Gefährdung zahlloser Existenzen infolge des Lockdown-Jojos der Regierung.

Ich hingegen möchte an dieser Stelle ausdrücklich um gesellschaftliche Nachteile für all jene ersuchen, die freiwillig auf eine Impfung verzichten. Möge die gesamte Republik mit dem Finger auf sie zeigen.

Nikolaus Blome

Wenn es das wert sein sollte - wie jetzt die überwiegende Zahl der politisch Handelnden und der Bürger glaubt -, das komplette kulturelle, gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben quasi auf null zu stellen und zukünftige potentielle Tote in Kauf nehmen zu müssen, weil heute "jedes Leben zählt", und wir jetzt zusätzliche Tote im einstelligen Prozentbereich vermeiden wollen, dann wird man auch für das gleiche Ziel die sehr geringe Möglichkeit einzelner Impfschäden in Kauf nehmen müssen.

Eine Scheindebatte

Andererseits ist dies eine Scheindebatte. Denn natürlich ist es richtig, dass man erstmal alle die impft, die das selber wollen. Dies werden bis in den Sommer hinein mehr als genug sein. Es wird bis in den Sommer hinein Schlangen vor den Impfzentren geben und das berechtigte Genörgel all jener, die noch immer auf die erwünschte Impfung warten.

Es wird über lange Zeit immer zu wenig Impfstoff geben. Hinzu kommt: Immer mehr Menschen werden dann von ihrer erfolgreichen Impfung berichten - die Impfkritiker und ihre Ängste werden demgegenüber nur eine marginale Rolle spielen.

Wo jemand - etwa beim Pflegepersonal - allerdings eine angeratene Impfung verweigert, sollten diese Impfgegner dann auch unterschreiben, dass sie die Kosten einer möglichen Behandlung selbst tragen, oder gleich komplett darauf verzichten - dann hätte man für alle Übrigen schon mal mehr Platz im Krankenhaus. Und wenn es dann irgendwann für den allgemeinen Ansteckungschutz nötig wird, auch andere zu impfen, sollte man wieder eine allgemeine Impfpflicht einführen.

Defizite der modernen Gesellschaft

In einer perfekten Welt würde der Einzelne durch autonome Entscheidungen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit und anderer lohnenswerter Anliegen beitragen, nicht durch äußere Zwänge. Er würde von selbst das Richtige tun.

Dass dies nicht geschieht, zeigt wie überhaupt die ganze Haltung der Wissenschaftsskepsis und des Alternative-Facts-Glaubens grundsätzliche Defizite der modernen Gesellschaft auf. In den Worten des australischen Medizinethikers Angus Dawson:

"[r]ather than seeing the justifiability (or not) of compulsion as the central issue in vaccination ethics, we can almost take the fact that this is an issue for public policy as a sign that something has gone wrong with the sense of values in such a population"1

Übersetzung:

"Anstatt die Vertretbarkeit (oder Nichtvertretbarkeit) von Zwang als die zentrale Frage der Impfethik aufzufassen, können wir die Tatsache, dass dies ein Thema für die öffentliche Politik ist, fast als ein Zeichen dafür nehmen, dass etwas mit dem Wertesinn in einer solchen Bevölkerung schiefgelaufen ist."

Zu diesen (möglichen) Nebenwirkungen, die in der hiesigen Debatte - typisch deutsch - breit diskutiert werden, und die (erwiesene) Hauptwirkung in den Hintergrund drängen, ist zu entgegnen, dass Zweifel am Impfstoff nicht berechtigt sind. Der neuentwickelte Impfstoff ist an vielen Probanden untersucht worden, mit guten Ergebnissen in Bezug auf das Erwerben von Immunität und auf seine Verträglichkeit.

Das Einzige, was naturgemäß im Gegensatz zu sonstigen Zulassungen fehlt, ist Zeit. Man kann nicht feststellen, ob Menschen, die geimpft wurden, später Probleme entwickeln. Diese Restunsicherheit bleibt. Aber für eine öffentliche Gesundheitspolitik ist dies am Ende eine Frage der Abwägung: Auf der einen Seite steht ein Impfstoff mit einem Restrisiko für Einzelne, auf der anderen Seite steht eine Pandemie, die schwer zu beherrschen ist und Auswirkungen mannigfaltigster Art hat. In dieser Abwägung muss Politik entscheiden.

Praktizierter Gemeinsinn

Davon abgesehen ist die ganze Impfgegnerschaft schon jetzt ein verlorener Kampf - wir sprechen uns im Sommer, liebe verpeilte Impfgegner: Dann wird man nämlich seine Immunität mit einem Immunitätsausweis oder ähnlichem nachweisen müssen. Im Flieger, in Gaststätten, bei Großveranstaltungen. Das ist die Impfpflicht durch die Hintertür.

Daraus folgt: Ehrlichkeit wäre besser, kein Drumherumgerede, sondern man sollte sofort eine allgemeine Impfpflicht für Erwachsene einführen. Das wäre mehr praktizierter Gemeinsinn und mehr Solidarität, als alle wohlfeilen unverbindlichen Floskeln à la "jede Leben zählt" und "wir müssen die Alten schützen".