Warum nicht über Seenotrettung diskutieren?
Wie eine linksliberale Moralisierungsstrategie den Rechten in die Hände arbeitet
"Private Helfer retten Flüchtlinge und Migranten im Mittelmeer aus Seenot. Ist das legitim? Ein Pro und Contra" - diese Einleitung einer Debatte über die europäische Flüchtlingspolitik in der Wochenzeitung "Die Zeit" beschäftigt die liberalen Gemüter der Republik. Doch reagierten sie nicht mit Argumenten, sondern mit Moral und Entsetzen.
Manche waren auch schockiert und getriggert, dass mal ausformuliert wurde, was schon längst praktische Politik ist. Dabei waren die Debattenbeiträge nun längst nicht so zugespitzt, wie es die Einleitung suggerierte. Das ist ja auch nicht verwunderlich. Es ist schließlich bekannt, dass die Überschrift und die Einleitung dazu dienen, mit pointierter Zuspitzung Aufmerksamkeit zu erregen.
Im Kern formuliert die langjährige Taz-Journalistin Mariam Lau, die schon vor einigen Jahren zur "Zeit" gewechselt ist, die Maxime der Politik in fast allen europäischen Staaten. Die besagt schließlich, um die ganz Rechten nicht noch größer werden zu lassen, müssen die etablierten Parteien selbst Anstrengungen in der Abwehr von Migranten unternehmen.
Dafür steht nicht nur in Deutschland aktuell der Innenminister Seehofer, dafür stehen auch führende Politiker aller anderen im Parlament vertretenen Parteien, vielleicht mit Ausnahme der meisten in der Linksfraktion. Lau bringt dieses Credo gut auf den Punkt:
Italien hat all dem über Jahre hilflos zugesehen. In den zwei Wochen, in denen ich mal an Bord eines privaten Rettungsschiffes mitgefahren bin, hat keiner der Helfer auch nur einen Gedanken daran verschwendet, wie die sozialdemokratische Regierung von Matteo Renzi ihren Bürgern erklären soll, dass sie Tausende von Menschen einkleiden, beherbergen und ernähren sollen, die gekommen sind, um zu bleiben - legal, illegal, ganz egal. Wie lange sich demokratische Parteien und Institutionen halten können, wenn sie in entscheidenden Fragen machtlos wirken - das ist nun einmal nicht das Problem von Leuten, die das absolut Gute tun. Nun weht ein anderer Wind in Italien. Die Regierung Renzi ist kaputt, der stellvertretende Ministerpräsident Salvini sagt: "Wir wollen nicht zu Europas Flüchtlingslager werden", und noch immer liest man in deutschen Zeitungen, Salvini errege sich über ein "Pseudo-Problem". Ein Spaziergang durch Rom müsste eigentlich jeden eines Besseren belehren. Auf den Straßen ist das Elend der Flüchtlinge nicht zu übersehen.
Miriam Lau, Die Zeit
Im letzten Satz ihres vieldiskutierten Beitrags fasst Lau die Intention ihres Beitrags noch mal einem Satz zusammen.
Wer mit dem Verweis auf Menschenrechte jede Sicherung der Grenzen zu verhindern versucht, wird am Ende denen in die Hände spielen, die gar kein Asylrecht mehr wollen.
Mariam Lau, Die Zeit
Das sind Positionen, wie sie von fast allen Parteien jenseits der AfD ebenso formuliert und auch immer wieder in Politik umgesetzt wird. Lange bevor es die AfD gab, waren es andere ultrarechte Parteien, die als Argument herhalten mussten, um die Migrationsgesetze zu verschärfen.
Die "Zeit-Debatte" hätte Anlass sein können, genau darüber zu reden. Stattdessen verwandelte sie sich in eine Zurschaustellung von Betroffenheit. Es wurde die Frage gestellt, ob man überhaupt diskutieren darf, was die Zeit unter Pro und Contra abhandelte.
Damit haben diese Liberalen, wie so oft, den Rechten die Argumente in die Hand gegeben, die ja immer davon ausgehen, dass es in unserer Gesellschaft Tabus in den Debatten gibt. Zudem verstricken sich aber die Liberalen selbst den Fallstricken des Humanitätsdiskurses.
Warum haben Menschen im globalen Süden nicht ein Recht, so sicher zu reisen, wie es heute vom Stand der Technik möglich ist?
Zur "Zeit-Debatte" erklärt der Journalistikprofessor Klaus-Jürgen Altmeppen im Deutschlandfunk: "Man kann diese Frage natürlich stellen, aber dann muss sich die 'Zeit' auch die Frage gefallen lassen, was das denn soll, diese Frage zu stellen."
Es sei ganz einfach eine Frage von Humanität und Menschenwürde, Leben zu retten und da gebe es kein Contra, formuliert Altmeppen ein liberales Credo, das aber in sich nicht schlüssig ist. Denn es ist keine Naturkatastrophe, die die Migranten ins offene Meer treibt. Es ist meist die Suche nach besseren Arbeits- und Lebensbedingungen, die die Menschen auf die Boote treibt.
Wenn es darum ginge, das Leben und die Gesundheit der Menschen zu retten, müsste man eine transnationale Bewegung initiieren, die sichere Transitwege für diese Menschen erzwingt. Warum sollen Menschen im globalen Süden nicht mit genau dem Maß an Sicherheit sich in der Welt bewegen, das der heutige Stand der Technik erlaubt und von dem die Menschen im globalen Norden, vorausgesetzt, sie haben genug finanzielle Mittel, in der Regel partizipieren?
Es gibt bekanntlich keine absolute Sicherheit, wie die Flugzeugabstürze zeigen. Doch es ist die Regel, dass Menschen, die heute aus Europa oder den USA in den globalen Süden reisen, ohne große Fährnisse ankommen. Die meisten Menschen aus dem globalen Süden haben diese Sicherheit nicht.
Darin besteht die grundlegende Verletzung ihrer Menschenrechte. Es ist seltsam, dass von den Liberalen, die sich die bedingungslose Verteidigung der Menschenrechte auf die Fahne geschrieben haben, darüber gar nicht geredet wird. Für sie heißt bedingungslose Verteidigung der Menschenrechte, dass Menschen, die sich auf Grund der ungerechten Ordnung der Welt schon in Lebensgefahr begeben haben, wenigstens die Hoffnung auf Rettung haben.
Das ist aber keine bedingungslose Verteidigung der Menschenrechte, sondern ein absolutes Minimalprogramm, das in der Zeit-Debatte auch Mariam Lau nicht außer Kraft setzen will, wohl aber die europäischen Rechten aller Parteien.
Für ein Recht auf würdiges Leben in den Heimatländern
Wenn aber selbst die selbsternannten bedingungslosen Verteidiger der Flüchtlingsrechte vom Recht auf einen Transfer auf dem Stand der heutigen Technik nicht einmal reden und dieses Recht auch kaum gefordert wird, dann müsste sich doch verstärkt die Frage stellen, warum es nicht auch für die Menschen im globalen Süden ein Recht gibt, ein würdiges Leben in ihren Herkunftsländern zu führen, ohne sich in Lebensgefahr zu begeben?
Es ist tatsächlich eine offene Frage, warum die Streiter für die globalen Menschenrechte in Deutschland darüber kaum diskutieren. Warum haben die Menschen nur als Refugees Rechte und nicht als Menschen, egal, wo sie leben wollen?
Die Frage gehört zu den starken Stellen im vor einigen Jahren vieldiskutierten und mittlerweile verramschten Buch Der neue Klassenkampf des slowenischen Philosophen Slavoj Zizek.
Schon der reißerische und generalisierende Untertitel "Die wahren Gründe für Flucht und Terror" verweist auf die vielen Schwachstellen des Buches, das sich so liest, als hätte Zizek ein Extrakt seiner Arbeiten der letzten Jahre für Spiegelleser in dem Buch versammelt.
So ist es auffallend, dass in den Fußnoten überwiegend auf seine eigenen Bücher verwiesen wird. Wenn ein Buch damit beworben wird, die wahren Gründe für irgendetwas zu entlarven, sollte man generell Misstrauen hegen, wenn nicht gegen den Autor, dann gegen die Werbeabteilung eines Verlags, der mit solchen platten Aussagen Leser ködern will.
Auch der manische Israel-Bezug ist verstörend. In fast jedem Kapitel wird an einer Stelle die israelische Politik als Beispiel für Erscheinungen genannt, die der Autor ablehnt. Das geschieht auch, wo ein Vergleich an den Haaren herbeigezogen ist.
Stark ist das Buch aber da, wo Zizek das Recht fordert, dass Menschen im globalen Süden auch das Recht auf ein würdiges Leben haben und den Vorschlag macht, ihre Kämpfe gegen Ausbeutung und Unterdrückung durch multinationale Konzerne, Wirtschaftsverträge mit dem globalen Norden aber auch gegen eine korrupte und diktatorische Herrschaftsschicht in "ihren" Ländern zu unterstützen.
Gemeinsame Kämpfe statt Respekt anbieten
Das können Kämpfe um Land, um Freiheiten oder um Arbeitsrechte sein. Diese Art von transnationaler Unterstützung ist tatsächlich eine Leerstelle in der Flüchtlingsbewegung vor allem in Deutschland. Und stark ist Zizek da, wo er fordert, dass man den Migranten nicht Respekt, sondern den gemeinsamen Kampf um ihre Rechte anbieten sollte.
"Respektiert die anderen nicht einfach nur, bietet ihnen einen gemeinsamen Kampf an, da unsere Probleme heute gemeinsame Probleme sind", zitiert sich Zizek im letzten Kapitel selbst. Deutlich wird hier und an vielen anderen Stellen, dass Zizek mit seiner Kritik an der oft liberalen Flüchtlingsbewegung keineswegs die Migranten und die Migration kritisiert und infrage stellt.
Er legt vielmehr die Wunde in die Schwachstellen einer liberalen Pro-Migrationsbewegung, die die Menschen nur als Schutz- und Hilfesuchende wahrnimmt und sich schon als Vertreter der bedingungslosen Menschenrechte hinstellt, wenn sie die Menschen nicht ersaufen lassen wollen. Die Reaktion auf die "Zeit-Debatte" hat die Schwächen dieser Position nur wieder einmal offengelegt und die besten Seiten in Zizeks Buch bestätigt.
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