Warum sich das Fernsehen überlebt hat
Seite 2: "Das Fernsehen" braucht viele der Bürger nicht mehr
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- "Das Fernsehen" braucht viele der Bürger nicht mehr
- Selbstreferentialität einer Vorstellungskultur – mit realen Folgen
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Umgekehrt "braucht" offenbar aber auch das Fernsehen viele Zuseher nicht mehr – jedenfalls nicht dort, wo es noch frei zugänglich ist. Das Bezahlfernsehen hat sich zur hochpreisigen und höchst effizienten Business-Servicemaschine entwickelt. Es schneidet Bilder in größtmöglicher Schärfe auf einen Bedarf zu, den es selbst immer neu kreiert.
Währenddessen haben sich die öffentlich-rechtlichen Fernseh-Anstalten an die Abwendung von (mindestens) einem Drittel der Bevölkerung gewöhnt – und feiern die verbleibenden Zuseher als Erfolg, obwohl sie sich doch für alle Bürger zuständig fühlen müssten.
Das deutet auf eine weitere Entwicklung hin: Die Öffentlich-Rechtlichen haben sich vom angeblichen "Populismus" eines Teils der fernsehenden Durchschnittsbevölkerung emanzipiert – geschweige denn von dem derer, die nicht fernsehen. Sie sehen sich als gebildeter und kreativer als die Privaten, vor allem aber als viele der Fernsehenden vor "der Glotze".
Sie meinen deshalb, diesen passiven, also wahrscheinlich lernfeindlichen und von demokratiefernen Mächten leicht verführbaren Bürger "erziehen" zu müssen, um ihn "integrieren" zu können – obwohl gerade sie selbst es sind, die das Passivmedium auf diese Passivität hin ausrichten.
Die – gut gemeinte, aber so in der Geschichte des Fernsehens kaum dagewesene – Selbstüberschätzung, die damit verbunden ist und für die wir im folgenden Beispiele anführen, darf einerseits als Folge der kulturellen und sozialen Individualisierung im Allgemeinen gelten.
Sie ist andererseits der Effekt des chronischen Narzissmus der Boomer-Generation der 1960er-Jahre im Besonderen. Dieser neigt zum Elitenbewusstsein in selbst-referenziellen Blasen – und fühlte sich schon immer zu Größerem berufen. Das Mindeste des moralisierenden Berufenheitscredos heutiger Fernseh-Eliten ist die "Verteidigung der Demokratie", die "Bewusstseinsklärung in der Zeitenwende" und – immer öfter – nichts weniger als die "Rettung der Welt". Eine Art Thunberg-Effekt hat hier gegriffen; dieser wurde ja auch vom Fernsehen mit erzeugt.
Damit ist ein (in seiner Eigenwahrnehmung weltumspannender) moralischer Missionarismus gemeint, der offenbar auch vor den Leitern und Machern heutiger Bildermedien nicht Halt macht.
Statt Interaktivität: "Reaktivität aufrufen"?
Ein Beispiel: Fernsehleiter und ihre Sendungen zeigen Unsicherheit über die Demokratiereife ihrer "Empfänger" – längst nicht mehr nur in den USA, sondern immer öfter auch im deutschen Sprachraum. Sie wollen deshalb "Bewusstsein bilden" mittels "Interaktivität", das heißt: Reaktionen herausfordernden Aktionen. "Hervorgerufene Interaktivität" liegt auch deshalb im Trend, weil die Fernsehmacher um die Konkurrenz des Internet wissen.
Das "Reaktivität-Aufrufen" provozieren Sender mittlerweile auch mit offen politischen Aktionen. So wie beim vom WDR 2019 verursachten "Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad"-Skandal. Der Sender mobilisierte – offenbar weitgehend ohne Wissen der Eltern – Kinder des "WDR-Chors", um die ältere Generation pauschal des fehlenden Umweltbewusstseins zu bezichtigen und damit Debatte und Reaktionen zu erzeugen.
Das WDR-Lied konzentrierte sich auf den Refrain: "Meine Oma ist 'ne alte Umweltsau". Das kam mutmaßlich nicht von den Kindern selbst, sondern von ihren "Vordenkern" – und wurde als witzig und innovativ verkauft.
Gleichzeitig wird von denselben Machern jedoch immer öfter gegen "nicht integrierten" Witz mobil gemacht. Wer politisch inkorrekte Witze macht, wird, auch wenn sie oder er ein Profi-Comedian ist, leichter als noch vor einigen Jahren "gecancelt".
Nur auf der richtigen Seite des zur "Verlebendigung" Gewünschten stehende – und dabei oftmals wie politische Aktivisten agierende – Comedians wie Jan Böhmermann, der allerdings in Mediendiskussionen die Meinungsfreiheit in Frage stellt, dürfen unbeirrt weitermachen – und werden folgerichtig in gleichgesinnten Spätnachtshows in den USA gefeiert.
Dies unabhängig vom Fakt, dass sich heutige politische Fernsehcomedians grundlegend von vorausgehenden Persönlichkeiten wie etwa Harald Schmidt, der auch ein Intellektueller war, unterscheiden. Es ist ein wenig wie bei Slavoj Žižek: solange man sich nichts dabei denkt, ist alles gut. Aber wenn man die Ideologiebrille aufsetzt, sieht man auf einmal überall Ideologie – hinter dem "Oma-Umweltsau"-Lied, den Comedians, den Moderatoren, den behaupteten Bildern.
Die Diskriminierung der Älteren "um der Zukunft willen" wurde rasch – wie nur allzu oft in Deutschland mit seiner "böser Willen"-Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – mit "gutem Willen" gerechtfertigt – und letztlich mit einer schmalen "Entschuldigung" erledigt.
Reale Konsequenzen für Karrieren, Lebensläufe oder Einfluss gab es trotz öffentlicher Polemiken wenig. Ein überzogener Kantianismus ("es zählt die Absicht") obsiegte wie nur allzu oft über den gesunden Hausverstand (common sense) – so, als wäre die Beeinflussung von Millionen Bürgern mit ebenso einseitigen wie diskriminierenden Unterhaltungs-Botschaften nichts Wichtiges. Diejenigen, die kritisierten, gab man der Lächerlichkeit preis. Das Land habe schließlich größere Probleme. Wirklich?
Ein Effekt der Kombination von politischer Korrektheit (wokeness) mit "provokanter Mobilmachung" war in den vergangenen Jahren jedenfalls der Niedergang der politischen Komödie – in erster Linie im Fernsehen, aber zunehmend auch im Medienbereich insgesamt.