Warum sich das Fernsehen überlebt hat

Seite 3: Selbstreferentialität einer Vorstellungskultur – mit realen Folgen

Aus alledem kam folgerichtig eine neue Selbstreferenzialität einzelner Fernseh-Führungskräfte, die sich zunehmend wie Manager der Großindustrie gaben. Man emanzipierte sich – eben auf der Grundlage der Kombination von Einbahnstraßen-Bildermacht mit selbst zugewiesenen moralischen Überlegenheit – zusehends von den Regeln gewählter Politik, darunter der Mäßigung, Transparenz und Sparsamkeit. Fernsehmacher und Fernsehräte protzen mit Ausgaben für sich selbst und ihre Freunde.

Sie bauten sich neue Fernsehpaläste, ließen sich im Luxus kutschieren und verschwendeten Millionen an Steuergeldern. Fernsehmacher und ihre Kontrolleure überschnitten sich personell – und taten sich informell zusammen. Sie gingen gemeinsam teuer Abend essen, kontrollierten sich gegenseitig.

Meldungen wurden nach politischen Inklinationen redigiert, Unliebsames umgeschrieben oder politisch beeinflusst. Nach Aussagen der Betroffenen selbst und ihrer Ankläger war das seit Jahren keine absolute Ausnahme mehr, sondern ständige Verführung – natürlich nur "um des Guten willen".

Während dieser – dem Geld allerdings nicht abgeneigten – Selbstüberhöhung signalisierten die meisten der Betroffenen gleichzeitig öffentlich "stark progressive" politische Haltungen. Denn diese schienen ihnen in der umgebenden Kultur paradigmatisch unangreifbarer als konservative – kommen doch die meisten intellektuellen Eliten in Deutschland heute eher aus dem Linksspektrum, was sich auch in Universitäten und Erziehungsbereich spiegelt. Der Eifer der Fernsehmacher, sich unter ihnen zu profilieren, erzeugte immer öfter auch direkt politische Folgen.

So forderte der ZDF-Fernsehrat unter dem Deckmantel seiner "Unabhängigkeit" und angeblichen "vierten Macht"-Funktion 2019 öffentlich, man müsse gegen bestimmte Parteien – und nur gegen diese – in Wahlkämpfen "kritischer berichten".

Ein solch selektives Vorgehen widerspricht der Demokratie, aber niemand schien das zu bemerken und zog daraus Konsequenzen. Ähnliches galt, wenn etwa auf den Deutschlandfunk-Seiten 2021 "kritischere Berichterstattung" gegen einzelne Parteien gefordert wurde – gegen andere aber nicht. Offenbar fand das kaum jemand verwunderlich.

Die Folge: In den "klassischen" Zeiten des progressiven Intellektualismus à la Jürgen Habermas Ende des 20. Jahrhunderts dachte man zumindest theoretisch, dass Fernsehen ein kritischer Universalismus nach allen Seiten hin sei, der die Gesellschaft spiegele. Fernsehen müsse verschiedenste Positionen berücksichtigen und sie im Idealfall, aber nicht notgedrungen, auf eine vernünftige Mitte hin ausbalancieren.

Rundfunk und Fernsehen müssten vor allem Sichtweisen und Stimmen miteinander ins Gespräch bringen – gerade in ihrer radikalen Unterschiedlichkeit, oder, um es mit dem wichtigsten Demokratietheoretiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Jean-Francois Lyotard (1924-1998), zu sagen, in ihrer radikalen "Inkommensurabilität".

Gemeinsam war deutschen und französischen Sprach- und MedienvordenkerInnen über Jahrzehnte: Das Prinzip "kommunikativen Handelns", nicht der Inhalt von Positionen, ist dafür entscheidend, "den Anderen" in seiner Andersheit anzunehmen – und zwar gerade ohne mit ihm übereinzustimmen, sondern um den offenen "Widerstreit" zum Wohl von Demokratie zu kultivieren.

Das scheinen die progressiven Eliten des Fernsehens aber vergessen oder aufgegeben zu haben. Ja, sie scheinen es unter dem Druck wiederholter Systemkrisen geradezu in das Gegenteil umkehren zu wollen: sie agieren eher als Propagatoren, Helfer und Stabilisatoren für den politischen Mainstream, den sie für sich als system- und damit auch selbst-"stabilisierend" erfahren.

Habermas mag diese Wende gegen sein Denken durch seine neoprogressiven Schüler und Nachfahren in den öffentlichen Bilderwelten noch nicht in vollem Umfang bemerkt haben: Sie ist trotzdem in den unterschwelligen Ideologien verfügbarer Fernsehwelten spür- und sichtbar.

Fernsehen ist allzu oft zu einer anderen Art "Hintergrundmusik" geworden, die integrierend am Bewusstsein knetet – so dauerhaft und selbstverständlich, dass die Resultate ins Unterbewusste gehen und nicht mehr aktiv reflektiert werden. Sie wirken deshalb aber umso eher im Sinne der Fernseh-Doppel-Maxime: "Das Medium ist die Botschaft" und "Das Medium ist die Massage".

Eignet sich Passivmedium Fernsehen gut für selektive Woke culture?

Das Passivmedium Fernsehen scheint sich aus einem Grund besonders gut für "Erziehungsphantasien" im Sinn des Mainstreams zu eignen, die noch vor einem Jahrzehnt nicht – wie heute – als "kritisch-progressiv" gegolten hätten, weil kritische Medien eigentlich speaking truth to power und nicht Verteidigung eines bestimmten Mainstream sein sollten.

Der Grund ist: "Kleine Gesten im Fernsehen wirken groß". Das bedingt den anthropologischen Grundvorgang des Fernsehens, der die mit ihm verbundene menschliche Qualität ausmacht. Er besteht darin, dass sich die innere Aktivität des "Fern-Sehers" fast unwillkürlich auf die innere "Vertiefung" des Dargereichten richtet, weil ihr – eben wegen der vor dem Fernseher notwendigen Passivität – die Ich-geleitete Interaktivität und Kreativität fehlt. Die daraus resultierende unterbewusste Kompensationsarbeit vertieft die Wirkung "kleiner" Fernseh-Gesten.

Wohl nicht zuletzt im Wissen um diesen Mechanismus werden die "kleinen" politischen Gesten im Fernsehen immer mehr: von den Nachrichten und ihrem mittlerweile allgegenwärtigen Betroffenheitsgestus bis hin zu strenger Spracherziehung und Bannung politisch inkorrekter Inhalte. So etwa im August 2022 in Gestalt der Bannung der "Winnetou"-Indianer-Filme aus der ARD – was immerhin eine offen zur Diskussion gestellte Ausgrenzung von Inhalten war, nicht ihre stillschweigende "Stilllegung" und Beseitigung, die es auch gibt.

Der Hintergrund: Woke culture – das heißt laut Definition die von aktivistischen Minderheiten-Gruppen per Akklamation aufgedrängte politische Überkorrektheit, die anderen Meinungen und Narrativen die Geltung grundsätzlich abspricht und daher den Dialog faktisch abbricht – ist unter Fernseh-Eliten als Zweck der Meinungsentwicklung über die Jahre salonfähiger geworden.

Davon ausgehend scheint mittlerweile auch Cancel culture – also: Verbots- und Zensurkultur, von Beobachtern wie NZZ-Chefredakteur Eric Gujer als "neue Form des Extremismus" bezeichnet – deutlicher auf dem Siegesmarsch. Eben die Entscheidung der öffentlich-rechtlichen, mit Steuergeldern finanzierten ARD, auf Druck einer kleinen Minderheit von Netzaktivisten keine Winnetou-Filme mehr zu zeigen, kann dafür als ein Hinweis gelten.

Dass in Zeiten von Ukraine-Krieg-Schock, Post-Covid-Folgen mit Inflation und Verdopplung der Energiepreise zur "zweiten Miete", Klimakrise und Übergang von einer Globalisierung in zwei getrennte, zwischen Demokratien und autoritären Staaten konkurrierende Globalisierungen mit massiven Folgen für die deutsche Export- und Innovationswirtschaft deutsche Politiker im August 2022 parteiübergreifend einen "Winnetou"-Gipfel forderten, wäre noch vor einigen Jahren undenkbar gewesen. Es zeigte die wachsende Bedeutung der "Woke-Kultur"-Debatte auch in Europa – mit der Bilderindustrie in seiner Mitte.

Ziel des Gipfels: die ausufernde "Erziehungskultur" in der öffentlichen Sphäre und ihre indirekte Begleiterscheinung: die Schrumpfung der Meinungsvielfalt in Fernsehen, Medien und Öffentlichkeit in die Schranken zu weisen. Dass "Indianer" selbst sich gegen die andere Meinungen ausgrenzende Art und Weise der "Kulturkorrektheits"-Diskussion aussprachen und sie als "Schwachsinn" bezeichneten, könnte die Eliten letztlich jedoch nur zu einem neuen Erziehungsauftrag inspirieren – nämlich nun auch gegenüber den Indianern selbst, denen man doch aufgeklärt helfen müsse, ihre eigene Kultur zu verstehen.

Die Mehrheit fühlt sich gegängelt

Die kulturelle Arroganz, die sich in alledem spiegelt und die im Kern selbst genau das tut, was sie zu bekämpfen vorgibt: nämlich fehlende Diversität mit Ausgrenzung zu beantworten, bleibt für ihre eigenen Widersprüche blind, weil sie ihre Aufmerksamkeit nur auf "die Anderen" richtet. Das hat in dieser Form historisch wenig Parallelen. Es wirkt sich aber, vom Fernsehen mitgetragen, auf das gesamte Ökosystem demokratischer Debatte aus.

Nicht zufällig erhob die Allensbach-Umfrage zur Meinungsfreiheit 2021 den schlechtesten Wert für die Meinungsfreiheit in Deutschland aller Zeiten, nämlich seit Beginn der Nachkriegszeit: eine Mehrheit der Deutschen fühlt sich in ihren Meinungen "gegängelt".

Das ist ein katastrophales Zeugnis für die Wirkungsweise und den Zustand der einst gefeierten "kritischen Öffentlichkeit" – auch und gerade im Fernsehen. Denn angesichts seiner Marktanteile hat das Fernsehen an der Lage mutmaßlich mit einen entscheidenden Anteil.

Es ist zu bezweifeln, dass das in anderen Ländern des deutschen Sprachraums grundlegend anders ist als in Deutschland. Der auch dort nachweisbare Trend zur Unzufriedenheit mit der Demokratie dürfte hier einen ihrer Gründe haben: in der umgebenden "zweiten Haut" einer Bildersphäre, deren politische Neutralität und Objektivität nicht wenigen zweifelhaft geworden ist.

Roland Benedikter, geboren 1965, ist Soziologe und Politikwissenschaftler.