Warum wir dringend mehr Philosophie brauchen
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Replik auf Winfried Degens Polemik gegen das Philosophiestudium
Kann ein Bäcker die Arbeit eines Schusters beurteilen? Oder eine Fußballerin die einer Tennisspielerin? Vielleicht teilweise. Aber man sollte sicher nicht nur eine fachfremde Person fragen, um einen vollständigen Eindruck zu bekommen.
Kürzlich schrieb Winfried Degen, nach eigenem Bekunden Nichtphilosoph, hier einen "Brief an einen jungen Philosophen". Dieser richtet sich an einen jungen Mann in der Familie, vielleicht ist es ein Neffe oder ein Enkelsohn, der sich für ein Philosophiestudium entschieden habe. Deshalb sah sich Degen dazu veranlasst, mit seinem Brief "das Schlimmste zu verhindern" und seinem Familienmitglied wichtige Lebens- und Studiertipps zu geben.
Das Wohl des Arbeitsmarkts
Degens Brief steht unter der Prämisse, dass jeder "talentierte Mensch", der an Stelle einer Natur- oder Ingenieurwissenschaft ein Studium in einem Fach wie Philosophie wählt, "ein schwerer Verlust für unser Land" sei. Schließlich bedrohe doch der Mangel an guten Fachkräften die deutsche Wirtschaft. Der informierte Telepolis-Leser vermutet jedoch seit Längerem, dass das mit dem ewig beklagten Fachkräftemangel zumindest teilweise geschickte arbeitgeberfreundliche Propaganda ist:
Einerseits haben Arbeitgeber nämlich immer ein Interesse daran, dass sich auf ihre Stellen besser zehn, zwanzig oder gar hundert Menschen bewerben anstatt nur zwei oder drei. Ab wann können wir sinnvollerweise von einem Mangel sprechen? Andererseits lässt sich mit dem Horrorszenario eines Wirtschaftseinbruchs wegen unbesetzter Stellen womöglich auch ein späteres Renteneintrittsalter rechtfertigen (Fachkräftemangel: Mehr Schein als Sein?). Arbeiten bis 70 für den Wirtschaftsstandort Deutschland?
Ich will hier nicht die herrschende Arbeitspolitik diskutieren. Dafür bin ich auch gar nicht qualifiziert. Ich will nur darauf hinweisen, dass Degens Brief schon in seinen Voraussetzungen zweifelhaft ist. Ähnlich verhält es sich mit seinem Loblied auf das Taxifahren, das viel nützlicher sei als Philosophieren. Das passt schon allein aus dem Grund nicht gut in Degens Bild, weil die von ihm so hochgelobten Absolventen der Natur- oder Ingenieurwissenschaften mit ihren Apps wie Uber das traditionelle Taxifahrertum in den nächsten Jahren wahrscheinlich platt machen werden.
Wenn wir also den Philosophiestudenten als Verlust für die Wirtschaft ansehen, dann können wir neue Apps ebenso als Verlust für das traditionelle Personenbeförderungssystem ansehen. Worauf ich hinaus will: Es ist alles eine Frage des Standpunkts. Des Einen Nutzen kann schnell des Andern Schaden sein. Warum Degens Standpunkt der Beste ist und für junge Menschen, die ein Studienfach wählen, verbindlich sein soll, begründet der Autor jedenfalls nicht.
Halten wir daher fest: Was Winfried Degen voraussetzt, ist vielmehr eine Hypothese, die man erst einmal belegen müsste. Und mit den Beispielen hakt es auch ein wenig. Dabei sind wir noch nicht einmal auf seine stillschweigende Voraussetzung eingegangen, dass Wirtschaftswachstum wichtiger als Bildung und persönliche Entwicklung ist.
Und die Jugend mit dem Argument überzeugen zu wollen, bei der Studienwahl den Interessen der deutschen Wirtschaft dienen zu müssen, erinnert mich eher an düstere Zeiten. Zeiten, in denen der Wunsch des Individuums gegenüber einem wie auch immer verstandenen Allgemeinwohl nicht viel zählte. In Ländern wie China soll es ja heute noch so zugehen. Ich weiß nicht, ob es die Menschen dort viel glücklicher macht, sich für das Land aufzuopfern. Sie tun es wahrscheinlich vor allem, weil sie anders bestraft würden oder ihre Lebensgrundlage verlören.
Ist nun aber die Philosophie so ein "unnützes Unternehmen", wie Degen es behauptet? So unnütz, dass er sich dazu veranlasst sieht, seinen jüngeren Familienangehörigen S. von dem Wunsch abzubringen, in der Stadt B. Philosophie zu studieren. Und wenn der sich nicht ganz davon abbringen lasse, dann könne man vielleicht noch Schadensminimierung betreiben.
Autobiografisches Intermezzo
Dabei ist vielleicht interessant zu erwähnen, dass ich mich selbst einmal für das Fach Wirtschaftsingenieurwesen an der Universität Karlsruhe eingeschrieben hatte - und den Studienplatz auch bekam. Also ein äußerst "nützliches" Fach im Sinne Degens. Das war damals meine erste Wahl gewesen. Aus für mich unvorhersehbaren Gründen landete ich dann aber mit einer Einschreibung im Fach Philosophie an der Universität Mainz. Wahrscheinlich hätte ich nie für Telepolis angefangen zu schreiben, wenn ich Diplom-Wirtschaftsingenieur geworden wäre.
Aus dem erst als Überbrückung gedachten Semester wurden dann neun, die mit einem Magisterabschluss endeten. Es war Liebe auf den ersten Blick: In der Erkenntnistheorievorlesung der heute in Bonn lehrenden Elke Brendel beschäftigten wir uns etwa mit Fragen, was Wahrheit ist, was Wissen und unter welchen Umständen wir etwas von der Welt wissen können. Ich war beispielsweise fasziniert davon, dass sich schon Aristoteles Gedanken darüber gemacht hat, was eine sinnvolle Ontologie für die Unterteilung der Welt in verschiedene Kategorien ist.
Dieses Denken beeinflusst nicht nur alle Naturwissenschaften bis heute, sondern spielt beispielsweise auch beim objektorientierten Programmieren eine Rolle. Und bei künstlicher Intelligenz ist es eine große Herausforderung, die Eingabedaten auf die richtige Kategorie abzubilden. Das nennen wir dann Musterkennung. Dafür brauchen wir eine geeignete Taxonomie, also ein System von Kategorien. Und dies hängt wiederum von unseren Zielen ab, also dem, was wir als nützliche Problemlösung ansehen. Philosophen beschäftigen sich damit seit über 2000 Jahren.
Ein Jahr später kam dann der Bewusstseinsphilosoph Thomas Metzinger dazu. Es gab noch viele andere inspirierende Dozierende an meiner Fakultät. Das Schönste war aber, dass dort nicht nur Standardlehrpläne unterrichtet wurden, sondern sich die Lehrenden aus ihrem Fachgebiet Jahr für Jahr die Themen heraussuchen konnten, die sie auch selbst interessierten. Es gab so viel Abwechslung! Und dass die Geselligkeit der Fachschaft Philosophie, während der durchschnittliche Philosophiestudent doch eher ein einsamer Wolf ist, auch eine Rolle fürs Bleiben spielte, will ich nicht bestreiten.
Beispiel Deutscher Idealismus
Aber zurück zu Winfried Degens Text. Erkenntnistheorie, Bewusstseinsphilosophie - davon erfährt man in seinem Brief kein Wort. Als Beispiel für philosophisches "Geschwätz" - das Wort fällt in seinem Text achtmal - zieht er lieber den Philosophen Hegel heran. Dem hält er dann eine Kritik Schopenhauers entgegen. Wobei "Kritik" hier eigentlich das falsche Wort ist: Es ist vielmehr ein persönlicher Zerriss ohne inhaltliche Argumente.
Ich bin nun beileibe nicht dazu in der Lage, Hegel zu verteidigen. Dazu hätte ich auch gar keine Lust. Man sollte hier aber historisch hinzufügen, dass dieser Philosoph sich gerne auf die Seite der Mächtigen stellte. Das war im frühen 19. Jahrhundert der damals noch siegreiche Kaiser Napoleon, den Hegel in seiner Philosophie als "Weltseele" verherrlichte, später dann das aufstrebende preußische Königreich.
Der fast 20 Jahre jüngere Schopenhauer ließ es in seiner Berliner Zeit (1820-1831) dennoch auf einen Machtkampf mit dem schon sehr populären Hegel ankommen. So setzte er etwa seine Vorlesungen zeitgleich zu denen des berühmten Konkurrenten. Dass im Ergebnis fast niemand zu Schopi kam, während sich Hegel voller Hörsäle erfreute, überrascht dann eigentlich nicht. Jedenfalls handelt es sich bei dem Duell der beiden nicht nur um einen Streit der Philosophien, sondern auch der Männer. Oder sollte man besser sagen: Großer Egos? Das muss man bei Schopenhauers Äußerungen über Hegel berücksichtigen.
Wie dem auch sei, sich nach dem Prinzip pars pro toto - ein Teil steht für das Ganze - an einem schon lange verstorbenen Vertreter des angestaubten Deutschen Idealismus abzuarbeiten, also an Hegel, und damit die Philosophie insgesamt als unnützes Geschwätz zu brandmarken, ist kein Beispiel für gutes Argumentieren, also auch nicht für gute Philosophie. Vielmehr nennt man dieses Vorgehen einen Strohmann: Man sucht sich entweder einen schwachen Diskussionsgegner oder entstellt den Standpunkt des Anderen so sehr, dass er sich leicht abfackeln lässt. Das verrät aber viel mehr über die Denk- und Arbeitsweise des Abfacklers als des (scheinbar) Abgefackelten.