Warum wir dringend mehr Philosophie brauchen
Seite 2: Nützliche Philosophie
Überhaupt bezieht sich Degen im ganzen Text nur einmal auf einen Philosophen von außerhalb des deutschen Sprachraums, nämlich kurz auf John Locke. Repräsentativ ist das sicher nicht. Das ist ein zweites schwerwiegendes Problem in der Polemik gegen die Philosophie. Dass aber von Degen im Prinzip nur Hegel, die Logik und Sprachphilosophie - zu letzteren beiden komme ich noch - herangezogen werden, ist aber doch recht schräg:
Denn damit sind in einem Artikel, der wohlgemerkt die Nutzlosigkeit der Philosophie beweisen soll, gerade die nach allgemeinem Verständnis nützlichsten Teile der Disziplin ausgeklammert: nämlich Lebensphilosophie, die an heutigen Unis kaum noch gelehrt wird, dem bereits erwähnten Schopenhauer aber mit seinen "Aphorismen zur Lebensweisheit" schon zu Lebzeiten einige Popularität bescherte, Politische Philosophie und vor allem die Ethik beziehungsweise Moralphilosophie! Wenn Degen also schlussfolgert, die Philosophie sei nutzlos, liegt das vielleicht auch schlicht an seiner beschränkten Auswahl.
Doch damit nicht genug. Als Beispiel für gute Philosophie zieht der Autor dann nämlich ausgerechnet die Logik heran. Diese setzt er seinem Familienangehörigen, wenn der sich schon nicht vom Philosophiestudium abbringen lässt, so doch ganz oben auf die Empfehlungsliste. Dieser Schachzug überrascht nun in zweierlei Weise: Erstens weiß Degen nämlich von der begrenzten mathematischen Begabung des jungen S., während die Logik - zusammen mit der Philosophie der Mathematik - ausgerechnet der mathematischste Teil der Disziplin ist. Zweitens ist die Logik, ebenso wie die reine Mathematik, gerade nicht für ihre Nützlichkeit bekannt.
Damit ist beileibe nicht gesagt, dass die Vermittlung logischen Denkens oder reiner mathematischer Kenntnis kein wichtiges Bildungsziel sein kann. Gerade wegen ihrer Schönheit und Nutzlosigkeit im wirtschaftlichen Sinne könnte sie eine l'art pour l'art sein, ein reines Vergnügen als Selbstzweck. Und in diesem Sinne entspräche das Logikstudium der ursprünglichen Bedeutung des Wortes Schule (altgriechisch scholé), nämlich zweckfreier Mußestunden aus purer Leidenschaft. Für den jungen S. wäre es aufgrund seiner Begabungen aber wohl eher eine Tortur.
Warum ist aber Logik nicht nützlich? Vielleicht kann man hier von einer Unschärferelation sprechen: Je mehr man sich dem Bereich der Logik annähert, desto mehr muss man von konkreten Inhalten abstrahieren. Reine Logik ist schlicht Manipulation von im wahrsten Sinne des Wortes bedeutungslosen Symbolen nach vorgegebenen Regeln. Das heißt, man gewinnt logische Wahrheit um den Preis der Inhaltsleere. Als nützliches Anhängsel der Logik könnte man allenfalls die Argumentationstheorie bezeichnen.
In der Praxis kommt man damit aber meistens zu dem Ergebnis, dass heutige Reden, etwa von Politikern, gerade nicht sauber argumentieren. Degen tut das ja selbst nicht, wie wir schon gesehen haben. Und mit ihnen auch ein Großteil der vom Autor so hochgehaltenen Natur- und Ingenieurwissenschaften, die vor allem statistische Korrelationen berichten, die irgendetwas nahelegen sollen. Mit gutem Willen könnte man das vielleicht noch als "Schluss auf die beste Erklärung" bezeichnen. Dafür müsste man sich aber mal eingehender mit Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie beschäftigen, denen Degen keine einzige Zeile widmet.
Zur Sprachphilosophie will ich mich hier im Interesse der Kürze nicht näher äußern. Nur so viel sei gesagt: Degen widmet der Diskussion der Bedeutung des Satzes "Der Ball ist rund" gut ein Drittel seines langen Artikels. Damit ist er selbst philosophisch tätig, also Philosoph. Wenn sein junger Familienangehöriger schon vor Studienbeginn von Degen als "Philosoph" bezeichnet wird, dann ist der auf hohem Niveau philosophierende Autor Winfried Degen sicher auch einer.
Somit handelt er sich das Problem eines Selbstwiderspruchs ein: Entweder ist Philosophie nutzloses Geschwafel, dann steht aber auch sein eigener Text unter Schwafelverdacht. Oder Degens sprachphilosophischer Teil ist nützlich, dann widerspricht er aber seiner Kernthese von der Nutzlosigkeit der Philosophie. Das nennt man dann einen "performativen Selbstwiderspruch": Indem man etwas tut, widerspricht man gerade dem, was man eigentlich belegen will. Im Übrigen empfand ich die Diskussion der Bedeutung von "Der Ball ist rund" als ein gutes Beispiel für die Erklärung der Funktion von Sprache und in diesem Sinne als nützlich.
Philosophie und Hirnforschung
Da sich Winfried Degen dafür entschieden hat, in seinem Brief mit der Autorität seines Alters beziehungsweise seiner Erfahrung zu argumentieren, will ich diese eher persönlichen Ratschläge hier nicht völlig außen vor lassen. So schreibt er Autor dem jungen S. wegen dessen mangelnder Sprachkenntnisse beispielsweise: "Du hast nicht nur zwei linke Hände, sondern, wie ich glaube bemerkt zu haben, auch zwei linke Gehirnhälften, oder mindestens ein hypertrophiertes Sprachzentrum."
So formuliert ist die Diagnose so pädagogisch zweifelhaft wie bereits der Vorschlag, einem in Mathe nicht begabten Studenten ausgerechnet viel Logik ins Stammbuch zu schreiben. Oder war das vielmehr eine Guerillataktik des Autors, um dem Familienangehörigen den Spaß am Fach zu verderben? Aber fragen wir uns einmal, was hier eigentlich gesagt wird: Der junge Mann habe ein hyper-trophiertes, also übermäßig ausgebildetes Sprachzentrum. Das spräche aber doch gerade für gute Sprachkenntnisse.
Vielleicht meinte Degen im Gegenteil hypo-trophiert, also unterentwickelt. Doch dann wäre das schon ein recht peinlicher sprachlicher Patzer in einem so oberlehrerhaft daherkommenden Gesamtgefüge. Davon abgesehen halte ich es für übertrieben, von jemandem schon vor der ersten Stunde Philosophieunterrichts ein besonders trophiertes, also weit entwickeltes Sprachzentrum zu erwarten. Das wird sich - bei fleißiger Arbeit und vielleicht auch etwas Talent - schon im Laufe des Studiums von selbst richten.
Doch wo wir schon bei der Neurologie sind, also dem Teil der Medizin, der sich mit den Erkrankungen des Nervensystems befasst: Wahrscheinlich meint der Autor, wo er zum Verstehen des Denkens eher das Studium der "kognitiven Neurologie" als das der Philosophie empfiehlt, eigentlich die kognitiven Neurowissenschaften. Und wo es wirklich um die Störung von Denkprozessen geht, wären vielmehr die Psychiatrie und klinische Psychologie gefragt.
Es ist aber doch so, dass die Neurowissenschaften noch gar nicht über die richtigen Kategorien verfügen, den Menschen als fühlendes und denkendes Wesen zu beschreiben, geschweige denn hier viel Neues beizusteuern. Und wo sie es versuchen, da ergänzen sie psychologische Theorien in aller Regel um ein paar statistische Korrelationen mit Gehirndaten, die für sich selbst nichts erklären, sondern vielmehr wieder der Psychologie bedürfen, um erklärt zu werden. Und zur Analyse der Beziehung dieser Erklärungsebenen zueinander kommt schließlich die Wissenschaftstheorie und Philosophie des Geistes ins Spiel.
Im Übrigen war die für die Hirnforschung äußerst peinliche Willensfreiheitsdiskussion der letzten zwanzig bis dreißig Jahre das beste Beispiel dafür, dass sich der Mensch auf dieser Ebene noch gar nicht verstehen lässt, wenn das überhaupt jemals der Fall sein wird. Mit historischer Kenntnis, die Degner wiederum für nutzlos hält, hätte man auch gewusst, dass ähnliche Argumente in ähnlicher Weise schon im 19. Jahrhundert angeführt - und überzeugend zurückgewiesen wurden. Führende Hirnforscher haben uns schlicht alten Wein in neuen Schläuchen verkauft. War das nützlich? Vielleicht für ihren Geldbeutel.