Warum wir dringend mehr Philosophie brauchen

Seite 4: Warum die Ethik so wichtig ist

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Weiter oben habe ich aber auch einmal kurz die Ethik erwähnt, also die Teildisziplin der Philosophie, die sich mit dem richtigen Handeln beschäftigt. Um den breiten gesellschaftlichen Nutzen dieser Form von Philosophie zu verdeutlichen, will ich der Einfachheit halber den Dieselskandal "Made in Germany", also die Täuschungen des Volkswagenkonzerns diskutieren. Damit ist weder gesagt, dass nicht auch andere Firmen täuschen, noch, dass alle Mitarbeiter von Volkswagen täuschen würden.

Was ich an diesem Skandal psychologisch so interessant finde, ist die täuschende Intelligenz, vielleicht könnte man auch sagen: Täuschungsintelligenz, die Volkswagen in manche seiner Autos gebaut hat. Die im Abgastest niedrigeren Messwerte wurden ja dadurch erzeugt, dass das Auto "erkannte", dass es sich in einer Testsituation befand. Das konnte natürlich nur deshalb gelingen, weil diese gesetzlich reguliert, also hinreichend standardisiert ist. In dieser Situation verhielt sich das Auto dann anders als auf der Straße, sodass die Messwerte zwar niedriger ausfielen, aber nicht mehr realistisch waren.

Es geht nun nicht darum, dass im vorherigen Absatz Metaphern vorkamen. Autos können nichts erkennen und ob sie sich irgendwie verhalten, das ist auch noch eine offene Frage. Mir geht es darum, dass es sich hier um eine Täuschung höherer Ordnung handelte: Es wurden nicht nur irgendwelche Messwerte gefälscht, sondern die Autos wurden so programmiert, dass das Täuschungsprogramm zur rechten Zeit aktiviert wurde.

Natürlich steckt hinter diesen Vorgängen menschliche Intelligenz: Es muss Manager gegeben haben, wahrscheinlich mit Kenntnissen aus der Betriebswirtschaftslehre, die die Täuschung im Interesse der Gewinnerzielung entschieden haben. Und es muss Natur- oder Ingenieurwissenschaftler gegeben haben, also Angehörige der laut Degen so "nützlichen" Klasse, die die Täuschung so implementiert haben, dass sie funktionierte und über Jahre hinweg nicht auffiel. Bis irgendwelchen Prüfern dann doch einmal Unregelmäßigkeiten auffielen, die die Täuscher nicht vorhergesehen hatten.

Diese Angehörigen des Volkswagenkonzerns wussten während der gesamten Planungs- und Ausführungszeit und natürlich auch die ganze Zeit danach, dass sie nicht nur ihre zukünftigen Kunden, sondern auch ihre Kollegen täuschten und belogen. Die Kollegen, die die angeblich sauberen Dieselfahrzeuge mit Stolz zusammenbauen und schließlich verkaufen.

Die Täuscher wussten zudem oder mussten zumindest wissen, dass dem Vertrauen und Wert des Konzerns großer Schaden zugefügt würde, sobald die Sache auffliegt; dass daran Arbeitsstellen und Existenzen mutmaßlich tausender Menschen hingen, von den Gesundheitsfolgen durch die Schadstoffbelastung ganz zu schweigen.

Die verantwortlichen Personen wussten also, dass sie täuschen, und dass dies gravierende Folgen haben würde. Dennoch taten sie es.

Mein abschließender Punkt ist jetzt, dass diese Form der Täuschung vom Standpunkt der Ethik aus, ganz gleich, welche etablierte ethische Theorie man heranzieht, ein völlig inakzeptabler Vorgang ist. Es ist etwa schwer vorstellbar, dass ein Vertreter der schon in der Antike beliebten Tugendethik, die Falschheit dieses Handelns verstünde und es dennoch täte. Ein tapferer Tugendethiker bei Volkswagen hätte vielmehr den ganzen Beschiss auffliegen lassen, zumindest anonym. Mit Kants strenger Pflichtethik, für die Lügen ein absolutes No Go ist, brauchen wir hier gar nicht erst zu argumentieren.

Doch selbst ein plumper philosophischer Utilitarismus, der besser ist, als die alltagssprachliche Verwendung des Wortes vermuten lässt, könnte sich nicht zur Rechtfertigung dieser Täuschung heranziehen lassen: Denn die negativen Folgen für die Allgemeinheit stehen in keinem vertretbaren Verhältnis zum Nutzen. Das Handeln der Täuscher war keine utilitaristische Tat, sondern eine rein egoistische. Und reiner Egoismus ist das Gegenteil von Ethik.

Worauf die Wirtschaft hinausläuft

Nun hatten wir in den letzten Jahrzehnten schon so viele Skandale und Krisen, dass die Wirtschaft, auch die deutsche Wirtschaft, der Winfried Degen so das Wort redet, sich ihre eigene Lösung ausdenken durfte: Sie heißt nicht Ethik, sondern Compliance. Ausgedacht haben sie sich zweifellos gut bezahlte Personen, Personen also mit einer "nützlichen" Ausbildung. Und Compliance ist, das hat der frühere Bundesrichter Thomas Fischer einmal sehr schön dargelegt, nicht Ethik. Sie ist vielmehr die Kunst, im Wettbewerb so zu täuschen, dass man dafür hinterher nicht belangt werden kann.

Zweifellos hatte auch der Volkswagenkonzern eine gut funktionierende Compliance-Abteilung.

Das war jetzt nur ein Beispiel für die Funktionsweise der Wirtschaft, an deren Wohlergehen sich laut Degen junge Menschen heute bei der Studienwahl orientieren sollen. Allgemeiner formuliert ist die Moral meiner Geschichte aber: Macht nur weiter so, ihr gut bezahlten Betriebswirte, Ingenieure und Techniker, mit der wettbewerbs- und gewinngetriebenen Ausbeutung der Rohstoffe, Natur-, Tier- und Menschenwelt. Irgendwann gibt es dann schlicht keine Probleme mehr zu lösen, weil es dann keine lebensfähige Welt mehr gibt.

Wer jetzt noch nicht verstanden hat, warum Philosophie heute dringender denn je ist, bei dem weiß ich auch nicht mehr weiter. Ich versuche es aber gerne noch einmal persönlich im Diskussionsforum.

Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.