Warum wir einem Kollaps des russischen Staats nicht zujubeln sollten
Seite 2: Werden Hurra-Patrioten wirklich einen schweren Stand haben?
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Ähnliche Vorhersagen gibt es zuhauf. Sollte Putins Herrschaft zusammenbrechen, so Carl Bildt, Co-Vorsitzender des Europäischen Rates für Auswärtige Beziehungen, "werden die Hurrapatrioten einen schweren Stand haben", während demokratische Forderungen an Kraft gewinnen werden.
Ein klarer ukrainischer Sieg könnte eine neue Führung herbeiführen, die "die Tür zu einer wiederbelebten wirtschaftlichen Partnerschaft mit dem Westen öffnet", so William Drozdiak vom Wilson Center, Gründungsdirektor vom Transatlantic Center des German Marshall Fund.
Andere haben ehrgeizigere Pläne. William Courtney, Senior Fellow bei der einflussreichen und vom Pentagon finanzierten Rand Corporation, schlägt vor, die Sanktionen nur dann zu lockern, wenn Russland seine Truppen sowohl aus der Ukraine als auch aus Weißrussland abzieht.
Anstatt wie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die US-Streitkräfte in Europa abzubauen, sollten die Vereinigten Staaten erwägen, "ihre Streitkräfte in Mittel- und Osteuropa zu verstärken" und die Tür für eine weitere Nato-Erweiterung offenzuhalten, während sie Russlands neue Führung zu demokratischen Reformen verpflichten.
Überraschenderweise ist das Center for Strategic and International Studies (CSIS), ein prominenter Think-Tank des Establishments, versöhnlicher gestimmt, erkennt dennoch die ernsten Risiken von Gewalt und Instabilität in einem russischen Machtvakuum an und fordert einen "vorsichtigen vertrauensbildenden Prozess" sowie die Aufrechterhaltung des Versprechens, Russland in Europa "wieder willkommen zu heißen", wenn es sich reformiert. (Eine weniger überraschende Wendung ist, dass CSIS nach wie vor auf der Aufrechterhaltung von Sanktionen, der Fortsetzung der Militärhilfe für die Ukraine und der Verfolgung russischer Kriegsverbrecher im Falle eines völligen Zusammenbruchs Russlands besteht.)
In einigen Fällen scheinen die Vorhersagen und politischen Vorschläge im Widerspruch zueinanderzustehen. Auf einer vom German Marshall Fund gesponserten Veranstaltung im vergangenen Jahr waren sich die Analysten wohl einig, dass "ein Russland nach Putin schlimmer wäre als heute", mit der Möglichkeit eines "noch stalinistischeren Staats", eines Bürgerkriegs und "des Zerfalls und der Zersplitterung Russlands mit von Milizen und Warlords kontrollierten Gebieten".
In jüngster Zeit hat Bart M. J. Szewczyk, der Senior Fellow des Fonds, argumentiert, dass die Nato-Regierungen in erster Linie "ihre Anstrengungen verstärken müssen, um der Ukraine zu helfen, den Krieg zu gewinnen", ohne diese auf der letztjährigen Veranstaltung ausgesprochenen düsteren Warnungen zu erwähnen.
Er hält es für einen "Irrtum" anzunehmen, dass gegenseitige Sicherheitsgarantien in Hinsicht auf einen tragfähigen Frieden für Russland unerlässlich sind, und fordert, eine militärische Niederlage Russlands zu nutzen, "den sogenannten eingefrorenen Konflikt in Moldau zu beenden, den russischen Marionettenstaat Transnistrien aufzulösen und Belarus bei der Demokratisierung zu helfen" sowie für die neue Generation einen Michail Gorbatschow zu finden, einen "russischen Nachfolger, mit dem sie Geschäfte machen können".
Einige gemeinsame Motive bei diesen Analysen fallen auf. Nur wenige denken daran, dass auf Putin nicht nur Gewalt und die Auflösung des Landes folgen könnten, wie mehrere Experten gewarnt haben, sondern eine noch härtere Regierung unter der Führung von Falken, die eher zu einer Eskalation des Krieges neigen und noch weniger für eine Annäherung an den Westen offen sind.
Und diejenigen, die diese Möglichkeit einbeziehen, befassen sich kaum mit ihr und betrachten die möglichen negativen Folgen manchmal als akzeptables Risiko.
Und das, obwohl fast alle russischen Kritiker Putins heute extremer, ja sogar ultranationalistisch sind, wie uns Prigoschins Meuterei eindringlich vor Augen geführt hat. Der Atlantic Council erwähnt diese Falken nur, um die russischen Eliten aufzufordern, "über den heutigen fehlgeleiteten Imperialismus hinauszugehen", als ob es schlicht eine Frage des Willens wäre.
Einige sehen den Zusammenbruch Russlands weniger als Risiko denn als Chance, entweder um Moskau Zugeständnisse zu entlocken, die über einen Rückzug aus der Ukraine hinausgehen, oder um Russland weiter zu schwächen und einzudämmen.
Man geht davon aus, dass jede Instabilität dem Westen zum Vorteil gereichen wird, sei es durch die Schaffung einer liberalen Demokratie in Belarus oder durch die Schwächung der chinesischen Regierung, die, so die Annahme, den Ereignissen einfach tatenlos zusehen würde.
Am auffälligsten ist vielleicht, dass nicht einmal erwähnt wird, wie der Westen versuchen könnte, die seit Langem schwelenden Missstände zu beseitigen, die zur gegenwärtigen russischen Aggression geführt haben. Man betont, dass dieser Weg nicht beschritten werden sollten.
Einige sprechen sich dafür aus, die russischen Bedenken gegen die Nato-Erweiterung weiterhin zu ignorieren. Es wird der Eindruck erweckt, dass diese Bedenken nur von Putin geäußert werden, obwohl CIA-Direktor William Burns ausdrücklich erklärt hat, dass die Nato-Erweiterung in Russland auf breite Ablehnung stößt. Auch haben Gorbatschow und andere russische Liberale viele von Putins Kritiken an der westlichen Außenpolitik aufgegriffen.
Man kann sich zu Recht fragen, ob die USA und Europa in ihrer Außenpolitik die Fehler im Irak wiederholen wollen, als sie aufgrund allzu rosiger Vorhersagen über die Folgen eines Regimewechsels von den tatsächlichen Auswirkungen nach Husseins Sturz überrascht wurden.
Dazu gehörten ein Bürgerkrieg und ein langanhaltender ethnischer Konflikt, die Wiederbelebung von korrupter, autoritärer Herrschaft, die Stärkung des regionalen Einflusses von US-Gegnerschaft sowie Gewalt und Instabilität, die sich innerhalb und außerhalb der Grenzen des Landes ausbreiteten, was ein unbefristetes militärisches Engagement erforderte, das Ansehen der USA in der Welt untergrub und hohe humanitäre und wirtschaftliche Kosten verursachte.
Im Falle Russlands, das um ein Vielfaches größer ist als der Irak, eine zentralere Rolle in der Weltwirtschaft spielt, über das größte Atomwaffenarsenal der Welt verfügt, vor den Toren Europas liegt und sich praktisch über ganz Eurasien erstreckt, wären die Folgen um ein Vielfaches katastrophaler.
Wir können nur hoffen, dass es im Pentagon ernsthaftere Analysen gibt als das, was in westlichen Denkfabriken entsteht.
Der Artikel erscheint in Kooperation mit dem US-Magazin Responsible Statecraft und findet sich dort im englischen Original. Übersetzung: David Goeßmann.