Was Weltklimarat und Weltsozialrat verändern könnten

Seite 3: Klima und Faschismus

Wenn Kritik an Klimazerstörung und Klimapolitik etwas differenzierter wird, verweist sie auf verbohrte Wachstumsideologie, auf die weltweite Finanzmafia, in den konsequentesten Fällen auf das kapitalistische System, ökonomische Globalisierung oder die neoliberale Entfesselung der Märkte. Die Opfer dieser Ausbeutungsexzesse westlicher Konzerne und ihrer politischen Verbündeten werden zur Kenntnis genommen, ihre Lebensumstände angeprangert – aber überwiegend mehr bedauernd, mitfühlend als analytisch konsequent und praktisch gewendet.

Es fehlen in der Regel Einsicht und Gewissheit, dass die K-I-R-Agenda6 unser aller Leben seit 500 Jahren tagtäglich prägt, ihm seine materiellen, zum Teil auch seine geistigen, kulturellen und andere lebenswichtige Grundlagen liefert. Diese Gewissheit ist nicht nur als missing link in der Klimaforschung auffällig, sie ist in unser Alltagsleben, das von Klimastörungen bislang eher peripher tangiert worden ist, nicht vorgedrungen.

Ausgeblendet wird, dass "die anderen" von uns doppelt gequält, also von zwei Katastrophen getroffen werden, die wir alle zu verantworten haben: Sie müssen dem westlichen Publikum das "Futter" für die Mästung von "Wirtschaftswachstum" und beliebige konsumtive Verfügbarkeit von nahezu allem, was sein Begehr ist, liefern, um dann durch die Erderwärmung mit ihren Folgen, die alsbald Hunderte von Millionen in die Flucht, in Elend und tödliche Krankheiten treiben wird, gestraft zu werden.

Wenn es um "die offenen Adern Lateinamerikas"7 und Afrikas und Südostasiens und Südamerikas geht, um die wirklichen Krankheitsherde des Globus, stockt der analytische Atem. Die fragende Hartnäckigkeit verliert sich, wenn es um die grausamen Formen der Ausbeutung von Menschen und Natur, die Zerstörung von klimatischen Steuerungszentren wie den Regenwäldern, um die Vernichtung von Lebensräumen ganzer Völker für den Abbau von Bodenschätzen, für beschleunigte technologische Aufrüstung und ihre substanzielle Bedeutung für unser Dasein geht.

Gemessen an der Klima-Zerstörungs-Konstante und ihrem K-I-R-Nervenzentrum, das nach wie vor mit einer befremdlichen – oder, wie Marx treffender sagt, entfremdeten – Gleichgültigkeit zur Sicherstellung des alltäglichen Wohlbefindens hingenommen wird, darf die Moral ins Spiel kommen8: Es ist nicht bekannt, dass etwa der deutsche Ethik-Rat mit aufrüttelnden Appellen zu einer moralischen Haltung aufgerufen hätte, die Ausbeutung und Unterdrückung als unverantwortlich und verbrecherisch anprangern.

Wissen über diese barbarischen Zustände anzueignen ist, systemisch gesehen, abgekoppelt von den globalen Rahmenbedingungen, Wissenschaft in Theorie und Praxis fügen sich ein in die gegebenen Umstände.

Wenn Basaglia der Gruppe der medizinischen und sozialen Expert:innen vorhält, sich selbst ihren Domestizierungsprojekten und Anpassungsritualen auszuliefern, ohne zu fragen, welchen Herren und welchen Zielen ihre Befriedungsverbrechen eigentlich dienen9, und Chomsky ihnen vorwirft, als die neuen Mandarine dazu beizutragen, Menschen an sie kränkende und zerstörende Zustände und Verhältnisse anzupassen10, sagen sie, dass Selbstreflexion und systemische Verortung dessen, was sie tun, nicht zum selbstverständlichen methodischen Inventar von Bildung und Wissenschaft gehören.

Dieser Mangel ist stilbildend für das gesellschaftliche Bewusstsein. Mit stoischer Selbstverständlichkeit halten die meisten Menschen auf der Nordhalbkugel an ihren Privilegien und Lebensstilen – angesichts des kollektiven Selbstbetrugs quasi so "naturgemäß" – unerschütterlich fest, dass ein auch nur rudimentäres Nachsinnen über das zusammengestohlene Gerüst, das sie trägt, keine reale Chance hat.11

Vorschläge und Initiativen dringen nicht zu der Tatsache vor, dass primär nicht etwa ihr "Lebensstil", sondern ihre lapidare K-I-R-Lebenslüge nach wie vor das eigentliche Fundament für den Klimawandel ist. Diese Einschätzung gilt auch für jene Angehörigen der links-liberalen Mittelschicht, die aufgrund ihres theoretischen und empirischen Wissens eigentlich zu konsequenter und radikaler Aufklärung berufen wären, aber an hitrorischer Amnesie und argumentativer Verkürzung leiden.

Die Nazis waren noch weit weg, aber das rassistische Gewebe faschistischer Ideologie und Vernichtungsstrategie begann schon im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert zu wachsen, allerdings diente es jahrhundertelang vor allem der Nutzung und Ausrottung der "Lebensunwerten" jenseits des Zivilisationsäquators.

Neben Voltaire lieferten etwa Francis Galton und Arthur de Gobineau vermeintliche wissenschaftliche Begründungen für rassistische Gräuel. Erst im auslaufenden 19. Jahrhundert mündete das Selbst-Bewusstsein pseudo-intellektueller und gewaltbereiter Starrköpfe, die "Krone der Schöpfung" zu sein, in ein rassentheoretisches Herumstochern in der bunt gemischten gesellschaftlichen Fülle, aus dem schließlich, schein-wissenschaftlich eingezäunt, das Konzept des rassisch Lebenswerten hervorkroch und zur Waffe der Ab- und Aussonderung von nicht-lebenswerten Menschengruppen auch in Europa wurde.

Die Tatsache, dass die K-I-R-Grundlagen des prosperierenden Lebens im Norden und Westen systematisch verdrängt werden, als wären sie nicht das Skelett unseres Lebens und der Puls unserer Existenz, hat nicht nur desaströse klimatische, sondern könnte grauenhafte zwischenmenschliche Folgen haben. Die Ignoranz gegenüber der ausbeuterischen und unterdrückerischen Dreifaltigkeit K-I-R hat dem faschistischen "Ausreißer" fast zwangsläufig die Wege in gedankliche, emotionale und ganz praktische faschistoide Aktionsszenarien geebnet.

Aus der historischen Erfahrung ist zu lesen, dass dynamische gesellschaftliche Entwicklungen – wie jede andere auch – ihre Extreme haben, dass faschistischen Ideen und Handlungen nichts Wahnwitziges oder Teuflisches innewohnt, sondern dass sie faktischer und prognostizierbarer Ausdruck der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise sind: "Wer aber vom Faschismus nicht reden will, soll auch vom Kapitalismus schweigen", mit diesem Satz machte Max Horkheimer12 jedem, der es wissen wollte, klar: Faschistische Ideologie und perfektionierte Tötungsmaschinerie reizen die Grundlagen kapitalistischer Wirklichkeit bis zur erbarmungslosen Perfektion aus, sie sind ihr nicht wesensfremd, sondern entfalten ihre Kristallisationskerne Ausbeutung und Profitmaximierung in extenso, bis heute und morgen und übermorgen.

Wenn Kolonialismus, Imperialismus und Rassismus im Norden und Westen des Erdballs nicht in ihrer Funktion als ideologisches Gerüst des gelebten Alltags, das in allen seinen Facetten sichtbar und spürbar, also auch durchschaubar ist, in Erkenntnisprozesse und Handlungsansätze eingebunden werden, wachsen nicht nur die Gefahren durch weitere und bedrohlichere Klimaveränderungen.

Zugleich, systematisch verbunden mit dieser Weigerung, die Wahrheit über unsere ökonomische und politische Hybris zu sehen, zu hören und sich ihr zu stellen, lauert die Gefahr der faschistischen Kipppunkte neben, vor und hinter uns. Sie rechtzeitig zu erkennen, verlangt anstrengende und unerlässliche Wachsamkeit, denn faschistoide Ausdrucksformen kleiden sich gern liberal, neoliberal, legal, demokratisch, angepasst, also kapitalistisch-normal.13

Auf sie gegenwärtig hinzuweisen, ist unerlässlich, denn ein historisch und gesellschaftspolitisch verankerter Faschismusbegriff lässt keine Wahl: Klima schützen heißt, die menschlichen Beziehungen weltweit nicht etwa nur auf den Prüfstand zu stellen, sondern sie zu revolutionieren, also vom Kopf auf die Füße zu stellen und so das K-I-R-Monstrum aus dem menschlichen Zusammenleben zu vertreiben. Erst mit dieser Klappe wird auch die zweite Fliege erschlagen: Faschistischen Exzessen wird der ökonomische, ideologische und emotionale Boden entzogen.14

Epilog

Eine Ahnung von dem, was mit den Defiziten der Anti-Klima-Zerstörungs-Bewegung gemeint ist, vermittelt ein Blick auf das Wirken von Bertrand Russell. Als "Vater" der nach ihm benannten Tribunale bestand sein öffentliches Anliegen darin, Wissenschaft und Politik zu kämpferischer Intervention, zu aktiver Gestaltung von ungerechten und gewalttätigen Lebensverhältnissen zur verschmelzen.

Seine Stärke war, fachspezifische Horizonte auszuloten und zugleich zu überwinden, um zu versuchen, Bedrohungen und Gefährdungen von einzelnen Menschen, ganzen Gesellschaften und nicht zuletzt der global involvierten Menschheit zu verhindern. Russell nannte Unterdrückung beim Namen, wie Repression, Ausgrenzung, Vernichtung von menschlichem Leben für die Interessen Einzelner. Er wusste, was strukturelle Gewalt mit Menschen macht, woher sie kommt und wem sie dient.

Seine Einsichten und Aktionsmuster wurden von der Wissenschaft überhaupt, auch von der Klima-Wissenschaft, und der vom Mainstream getragenen aktive, Gegenöffentlichkeit, durch analytische Kurzsichtigkeit, praktische Kurzatmigkeit und politische Unbekümmertheit ersetzt.

Erst wenn die – wissenschaftliche – Kritik an der drohenden klimatischen Implosion diese Grundpfeiler und die aus ihnen resultierenden Einsichten in die Grundlagen gesellschaftlicher Ungleichheit explizit benennt, kann sie aufdecken, dass die Hauptwurzel des Übels Klimaveränderung auch die des imperialistischen Lebensstils ist, und dass die in ihm verborgene Anspruchshaltung, alles haben zu müssen, weil alles zu haben ist, einer fundamentalen Revision bedarf.

Egal, welche Worte oder Begriffe im Einzelnen gewählt werden, analytisch führt kein Weg in eine menschenwürdige Zukunft, die nicht vom Kollaps der natürlichen Lebensbedingungen zerrüttet wird, an einer entschiedenen und unerbittlichen Kritik am kapitalistischen System vorbei, das nicht nur gewissermaßen im Blindflug in die Klimakatastrophe mündet, sondern in einen globalen Überlebenskampf, für den die Erfahrungen zwischen 1933 und 1945 vielleicht nur ein präludierendes Pandämonium gewesen sein könnten.