Was der Debatte um die Schuldenbremse fehlt
Die Debatte um die Schuldenbremse ignoriert gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge und die veränderte Rolle der Unternehmen. Muss das Kind erst in den Brunnen fallen?
Das Gezerre um den Bundeshaushalt 2025 nimmt kein Ende. Die FDP hat sich der Einhaltung der Schuldenbremse als ihrem Markenkern auf Biegen und Brechen verschrieben, auch in Hinblick auf die anstehenden Landtagswahlen. Weil alle drei Koalitionäre vorgezogene Neuwahlen im Bund fürchten, haben es SPD und Grüne aufgegeben, eine Reform oder gar Abschaffung der Schuldenbremse in dieser Legislaturperiode anzustreben.
Stattdessen tragen sie ihre Streitigkeiten um die öffentlichen Finanzen mit den Liberalen fast täglich über die Medien aus. Letztere füllen ihr Sommerloch bereitwillig mit diesem Dauerthema und diskutieren mit und ohne Fachleute eifrig, welche einzelnen Haushaltsposten unabweisbar sind und welche weniger Priorität verdienen in den konjunkturell schlechten Zeiten.
Was der Debatte praktisch vollständig fehlt, ist eine angemessene gesamtwirtschaftliche Perspektive. Die Haushälter in Bund und Ländern sowie ihre Kritiker befassen sich vorrangig mit der Frage, welche öffentlichen Ausgaben eher konsumtiven und welche eher investiven Charakter haben.
Letzteren sollte bei dem Bemühen, die Schuldenbremse so gut wie möglich einzuhalten, Vorrang eingeräumt werden, sagen die einen. Denn öffentliche Investitionen stärkten den Wirtschaftsstandort Deutschland und zahlten sich für die Privatwirtschaft aus, während konsumtive öffentliche Ausgaben keine langfristig positiven Effekte nach sich zögen.
Die anderen verweisen darauf, dass Kürzungen im Sozialhaushalt, der den Großteil der konsumtiven Staatsausgaben beinhaltet, Sparen auf Kosten der Schwächsten bedeute und damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt aushöhle.
Auf der Einnahmenseite geht die Argumentation genauso weiter: Die einen halten die Erhöhung von Steuern und Sozialabgaben für wirtschaftsschädigend und daher kontraproduktiv, die anderen sehen darin den wichtigsten Hebel für mehr soziale Gerechtigkeit.
Finanzielle Fesseln an der falschen Stelle
In seinem Beitrag "Die Schuldenbremse funktioniert noch besser als erwartet" vom 11. August 2024 auf Telepolis befürwortet der Ökonom David Stadelmann die Schuldenbremse vornehmlich mit dem Argument der generellen Gefahr ineffizienten Mitteleinsatzes durch die öffentliche Hand und der speziellen Gefahr, dass langfristig sinnvolle Vorhaben hinter kurzfristig Wählerstimmen versprechende Prestigeprojekte zurückgestellt würden.
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Die Schuldenbremse funktioniert noch besser als erwartet
Doch beide Kritikpunkte werden durch die Schuldenbremse keineswegs gelöst, wie man anhand der seit 2009 nicht geringer gewordenen, sondern eher gesteigerten Vernachlässigung der öffentlichen Infrastruktur und der Klimaschutzmaßnahmen sehen kann.
Fehlanreize beim Einsatz öffentlicher Mittel sind ein altbekanntes Problem jeder repräsentativen Demokratie, mit Legislaturperioden, die im Vergleich zu den zu lösenden langfristigen Herausforderungen kurz sind. Die Schuldenbremse verzerrt den demokratischen Prozess lediglich, indem sie den Handlungsspielraum der Gewählten massiv einschränkt, sie verbessert ihn nicht.
Vielmehr besteht die Gefahr, dass das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik massiv Schaden nimmt. Denn die Schuldenbremse ist – auch dank ihrer harten Interpretation durch das Bundesverfassungsgericht – so angelegt, dass Krisen letzten Endes durch eine Reduktion des öffentlichen Güterangebots und eine Verschiebung der Belastungen auf Beitragszahler und Leistungsempfänger in der Sozialversicherung "bewältigt" werden.
Es sei daran erinnert, dass es nicht übermäßige, an Wahlgeschenke grenzende öffentliche Ausgaben der Regierung und eine dafür empfängliche Wählerschaft waren, die zur Einführung der Schuldenbremse führten.
Vielmehr mündete eine seit Jahren weltweit und auch in Deutschland betriebene Deregulierung des Finanzsektors in Kombination mit Verantwortungslosigkeit und rücksichtsloser Gier von Bankern, Finanzspekulanten und Ratingagenturen in eine globale Krise des Finanzwesens. Um ihre Folgen abzufedern und Schlimmeres zu verhindern, wurden enorme Mengen öffentlicher Kredite eingesetzt.
Um das der Öffentlichkeit schmackhaft zu machen, meinte die überwältigende Mehrheit des Bundestages, eine in damals recht weiter Zukunft liegende Sparsamkeit (2016 für den Bundeshaushalt, 2020 für die Länderhaushalte) geloben und durch Verankerung der finanziellen Fesseln im Grundgesetz untermauern zu müssen.
Wie wenig die Einführung dieser staatlichen Zwangsjacke mit den damaligen Krisenursachen zu tun hatte, scheint weitgehend in Vergessenheit geraten zu sein. Die eigentlichen Triebkräfte, ein die Realwirtschaft beherrschender Finanzsektor, sind nämlich nach 2009 nur unzureichend in ihre Schranken verwiesen worden. Das lässt sich auch heute wieder im Zusammenhang mit der durch den Ukrainekrieg verursachten Energiekrise beobachten: Spekulanten (auch außerhalb Deutschlands) haben an realen Engpässen enorm verdient.
Doch statt sich an dieser Stelle um bessere institutionelle Vorkehrungen zu bemühen, diskutieren Neoliberale lieber, ob der Inflationsausgleich beim Bürgergeld wieder reduziert werden sollte.
Die gesamtwirtschaftliche Perspektive
Die Diskussion unterschlägt völlig, dass der Staat in ein wirtschaftliches Umfeld eingebettet ist, dessen Rückwirkungen er sich nicht einfach entziehen kann. Die öffentliche Hand hat unter den vier volkswirtschaftlichen Sektoren – Unternehmen, private Haushalte, Staat und Ausland – grob gerechnet ein Gewicht von einem Viertel. Der Einfluss dieses Sektors auf die Gesamtwirtschaft ist also erheblich.
Wie viele Schulden in einer Volkswirtschaft insgesamt gemacht werden müssen, hängt maßgeblich vom Versuch der Sektoren ab, durch die Begrenzung ihrer eigenen Ausgaben einen Teil ihres Einkommens zu sparen. Denn die Einnahmen aller Wirtschaftsakteure insgesamt stellen exakt die Ausgaben aller Wirtschaftsakteure insgesamt dar.
Will niemand sparen, muss sich niemand verschulden, um einen Wirtschaftseinbruch zu verhindern. (Es gibt dann allerdings auch keine positive Dynamik. Die kommt erst zustande, wenn produktive Sachinvestitionen durch Schulden vorfinanziert werden.)
Will ein Sektor jedoch sparen, müssen sich andere Sektoren in gleicher Höhe verschulden, also mehr ausgeben, als sie einnehmen. Tun sie das nicht freiwillig, kommt bei allen aufgrund der Sparbemühungen das Signal an, dass ein Teil des Angebots unverkäuflich ist – die inländischen Unternehmen bleiben auf einem Teil ihrer Produkte sitzen, das Ausland auf einem Teil seiner Exportgüter und letzten Endes die privaten Haushalte auf einem Teil ihrer Arbeitskraft; es entsteht Arbeitslosigkeit.
Dann haben sich die ursprünglichen Sparwünsche in der Summe zwar nicht erfüllt, aber genau das regt nun die Sparbemühungen aller Privaten erst recht an.
Der Staat erhält in einer solchen Situation automatisch weniger Steuereinnahmen und Sozialversicherungsbeiträge und muss mehr für Transferleistungen ausgeben, sich also verschulden.
Sparen ohne entsprechend hohe Schulden gibt es nicht, weil die Wirtschaft sonst in kurzer Zeit zusammenbrechen würde. Die Schuldenbremse ignoriert diesen Zusammenhang. Die Dynamik, die er im Verhalten der privaten Akteure erzeugt, ist tendenziell immer instabil, weil die Privaten ihre Ausgaben weiter einschränken, wenn sich die Wirtschaftslage verschlechtert.
Die Abwärtsspirale ist dann vorprogrammiert. Die Staatsausgaben nach Kassenlage zu gestalten, bedeutet, diese Dynamik anzuheizen, statt sie zu glätten. Die im Grundgesetz Artikel 109 Absatz 3 vorgesehene Möglichkeit für Bund und Länder, "Regelungen zur im Auf- und Abschwung symmetrischen Berücksichtigung der Auswirkungen einer von der Normallage abweichenden konjunkturellen Entwicklung … vor[zu]sehen", ist völlig unzureichend.
Das liegt zum einen daran, dass umstritten ist, was unter der "Normallage" zu verstehen und wie sie zu berechnen ist. Ganz abgesehen davon, dass der Staat unter dieser Maßgabe im Falle eines lahmenden Wirtschaftsmotors kaum zu vorausschauendem Handeln, das heißt, einem hinreichend kräftigen und rechtzeitigen Ausgabenimpuls befähigt ist.
Die veränderte Rolle des Unternehmenssektors
Zum anderen und entscheidend ist, dass sich der Stabilisierungsauftrag des Staates seit über zwei Jahrzehnten deutlich verändert hat, und das nicht nur in Deutschland, sondern in den meisten Industrieländern: Die Notwendigkeit, die Volkswirtschaften staatlicherseits zu stabilisieren, ist zu einer Art Daueraufgabe geworden, weil der Unternehmenssektor selbst zum Sparer geworden ist. Er hat aufgehört, durch eigene Verschuldung und entsprechende Investitionen das traditionelle Sparen der privaten Haushalte auszugleichen.
Dadurch gibt es seit zwei Jahrzehnten ein permanentes Ausgabendefizit bei den Privaten. Das hätte in Deutschland längst zu einer ununterbrochenen Rezession geführt, wenn nicht das Ausland durch seine Verschuldung die Nachfragelücke geschlossen hätte.
Die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse zeigen genau diesen Zusammenhang. Die schwarze Null im deutschen Staatshaushalt zwischen 2012 und 2019 hätte ohne die jährliche Neuverschuldung des Auslands von im Schnitt 240 Milliarden Euro bei uns in ein Desaster für die Gewinn- und Arbeitseinkommen und damit die Beschäftigungslage geführt.
Diese merkantilistische Lösung ist nun verbaut, weil unsere auf Exportüberschüsse hin getrimmten Wirtschaftsstrukturen nicht mehr zur Nachfrage aus dem Ausland passen: Das liegt zum Teil an verschlafenen Entwicklungen (Beispiel Elektromobilität), zum Teil aber auch daran, dass die Investitionstätigkeit anderswo ebenfalls nicht so stark boomt, wie das zu unseren exportorientierten Investitionsgüterkapazitäten passen würde.
Zudem kommt das Ausland, namentlich die USA, seinerseits auf die Idee, merkantilistische Überschüsse anderer Länder nicht mehr widerspruchslos hinzunehmen. Wer kein Mittel für eine positive Wirtschaftsentwicklung außer Impulsen durch steigende Handelsüberschüsse kennt, darf sich nicht wundern, dass diese Strategie eines Tages am Widerstand der Defizitländer scheitert.
Die Debatte, um die es eigentlich gehen sollte, muss sich um die veränderte Rolle des Unternehmenssektors drehen: Was hat dazu beigetragen, dass die Unternehmen das Risiko der Verschuldung für private Sachinvestitionen nicht mehr in dem Maße übernehmen wollen wie im letzten Jahrhundert?
Macht sich der Verfall der öffentlichen Infrastruktur bei den privaten Renditen auf Sachanlagen negativer bemerkbar als anderswo? Lässt sich auf den weiterhin unzureichend regulierten Finanzmärkten durch Spekulation schneller und mehr Geld verdienen als in der Realwirtschaft? Schöpfen die durchschnittlichen Lohneinkommen auf Dauer nicht mehr die durchschnittliche Produktivitätssteigerung aus, sodass es in der Binnenwirtschaft systematisch an Nachfrage fehlt?
Das Stichwort Bürokratieabbau, das in diesem Zusammenhang recht schnell genannt wird, liefert keinen wesentlichen Schlüssel zum Verständnis der Investitionsschwäche. Denn in den für Bürokratieberge weniger bekannten USA oder in Großbritannien hält sich der private Unternehmenssektor über längere Zeiträume gesehen ebenfalls mehr zurück als früher.
Die USA sind Europa in Sachen Wachstum hauptsächlich deswegen so weit enteilt, weil dort der Staat ohne jede Begrenzung durch eine Schuldenbremse mit hohen Defiziten dafür sorgt, dass Vollbeschäftigung möglich ist.
Die ideologischen Scheuklappen des ökonomischen Mainstreams hierzulande verstellen den Blick auf das Problem, dass sich der Staat mit der Schuldenbremse selbst gefesselt hat: Er kann nicht schnell und vom Umfang her adäquat reagieren, wenn die Privatwirtschaft aufgrund einer Krise ins Straucheln gerät und immer mehr zu sparen, statt zu investieren versucht.
Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um Finanzkrisen, Pandemien, Kriege oder Naturkatastrophen handelt. Eine ökonomische Krisensituation wendet sich nicht von allein ins Positive, sondern kann sich gesamtwirtschaftlich sogar verschärfen. Die Schuldenbremse erzwingt, dass das Kind erst tief in den Brunnen gefallen sein muss, bevor der Staat eingreifen darf.