Was die Krise des deutschen Fußballs über den Zustand unserer Gesellschaft verrät

Bild: Victoria Prymak/Unsplash

Fehlt ihr die Bereitschaft zu mehr Leistung? Werden der Jugend falsche Signale gesetzt? Ein Kommentar.

Natürlich wollen wir Weltmeister werden. Wir sind Deutschland.

Jürgen Klinsmann, 2004 zu Beginn seiner Amtszeit als Bundestrainer

Natürlich müssen wir Europameister werden wollen. Wir sind Deutschland.

Omid Nouripour im DLF, 17.09.2023

Vom kranken Mann Europas schrieb der Economist über Deutschland – im Jahr 1999. Dann kamen die Reformen der rot-grünen Regierung und ein neuer Wirtschaftsboom, von dem vor allem Angela Merkel profitierte.

Über 23 Jahre später hat die FAZ in ihrem Archiv gekramt, den Artikel entdeckt und kurzerhand eine Schlagzeile zum Standort-Wettbewerb daraus gemacht. Natürlich nicht in Bezug darauf, dass es das Recyceln eines alten Artikels ist.

Die Geschichte des deutschen Systemabsturzes

"All or nothing" heißt die erhellende Amazon-Serie über die deutsche Nationalmannschaft. Wir wissen schon, dass "nothing" herauskam bei der WM in Katar, aber immer wieder schreit Hansi Flick die Mannschaft schon im Trailer zusammen. Und je öfter er das tut, umso hilfloser sieht er dabei aus, und umso mehr versteht man, warum es heute vor einer Woche mit ihm Schluss sein musste.

Man sieht, wie überfordert ganz besonders Joshua Kimmich ist mit der Aufgabe, sich in der Öffentlichkeit zu äußern:

"Gefühlt in diesem Jahr muss man ja schon fast ein schlechtes Gewissen haben, wenn man sich auf die WM freut. Ich weiß nicht, ob das in anderen Ländern auch so ist."

Erhellend ist diese vierteilige Dokumentarserie, weil sie verräterisch ist. Man sieht sie alle: Joshua Kimmich, für den die Schuld immer bei den anderen liegt, nie bei ihm selbst. Man sieht Leon Goretzka, dessen Fazit von der WM in Russland vor allem ist, "dass nicht die gespielt haben, die von der Leistung her spielen müssten", also er selbst.

Man sieht Manuel Neuer, der schon vor allem den Chefdiplomaten spielt, einen Scheich besucht und über Armbinden redet statt über die Mannschaftsaufstellung. Man sieht Antonio Rüdiger, der darauf keine Lust hat. Und Thomas Müller, der den unsterblichen Satz sagt: "Der Rest war dann Fußball."

Damit meint er, was passierte, nachdem er beim Stand von 1:0 gegen Japan ausgewechselt wurde, "alles läuft gut, man denkt ans nächste Spiel", aber das Spiel gegen Japan ging ja noch 1:2 verloren. Das war Fußball.

Erzählt von Bela Rethy wird das Ganze als "die Geschichte einer Tragödie" beschrieben, aber die Götter, auch der Fußballgott wohnen längst nicht mehr in Deutschland. Eher müsste man von der "Geschichte eines Systemabsturzes" sprechen.

Es ist nicht weniger als die gute alte Deutschland AG, die mit Hansi Flick endgültig dicht gemacht hat.

Repräsentativer Ausdruck der Lage der Gesellschaft

Denn man muss, wenn man über deutschen Fußball redet, auch über die deutsche Gesellschaft reden.

Verräterisch ist "All or nothing" auch, weil es die Kombination aus Überheblichkeit und Vagheit, aus Dummheit und Esoterik sichtbar werden lässt, die den deutschen Fußballauftritt der letzten Jahre zu einem repräsentativen Ausdruck für die Lage der Gesellschaft macht.

Wenn Oliver Bierhoff sich von den Spielern "Glauben" wünscht, "tiefen Glauben" und ein "Die Zeit ist reif" hinterherschickt, wenn jeder Spieler ein Papierschiffchen mit Kerze in den Pool von Katar stupst und das so ein pseudopoetischer Kitschmoment wird, dann überlegt man nach dem Fremdschämen, ob wohl die Argentinier so etwas auch gemacht haben.

Überhaupt dieser ganze Psycho-Quatsch irgendwelcher Teampsychologen ums Training herum, diese Filme von Graugänsen, die sie sich zusammen angucken, um wie in einem schlechten Managerseminar ihren Teamspirit und ihre Motivation zu stärken - das wird alles ganz gut schon von Leon Goretzka gekontert, der kühl skeptisch feststellt:

"Wer bei der WM ein Motivationsproblem hat, der hat es noch nicht ganz begriffen."

Es geht auch um das Mindset der deutschen Gesellschaft, die sich während der Katar-WM vor allem mit Menschenrechten im Wüstenemirat beschäftigte, im Gegensatz zu ziemlich allen anderen Nationen.

Auch hier gibt es Einsichtige, die gegen die eigenen Teamführer klarstellen:

Egal was man tut, auch, wenn man bestmöglich trainiert – wenn der Kopf nicht mitspielt, wenn der Stress einen überwältigt, dann hat der Körper fast keine Chance. Diesen Glauben an den Sieg, das schafft man nur, wenn eine Mannschaft sich auch hundertprozentig auf den Fußball konzentriert und nicht im Abgleich irgendwelcher politischen Dinge.

Mit schwäbischer Dominanz ist es vorbei

Hansi, Jogi, Klinsi, Rudi, Berti – es ist ein Phänomen, aber vielleicht ist es für sich genommen auch schon ein Problem, dass deutsche Bundestrainer offenbar alle einen niedlichen Knuddelnamen brauchen wie sonst nur Mainzelmännchen.

In jedem Fall aber ist es nicht zufällig, dass fast alle von ihnen aus Baden-Württemberg, jedenfalls aus dem deutschen Südwesten stammen. Auch die Süddeutsche Zeitung stellt fest:

Mit Flick endet, was mit Klinsmann begann. Das südwestdeutsche Herrschergeschlecht der Botnanger und Bammentaler hat den deutschen Verbandsfußball (...) regiert, und man mag es für ein unwürdiges Ende halten, dass die Botnanger und Bammentaler ausgerechnet in Wolfsburg kapitulierten.

SZ

Es habe sich "ein südwestdeutsches Beziehungsgeflecht übers Fußballland gelegt, das sich am Ende in sich selbst verhedderte." Aus Hoffenheim übernahm der DFB zwischenzeitlich auch den Teampsychologen und einen ehemaligen Hockeytrainer als Berater sowie "weitere Ideen, die immer 'Innovationen' hießen."

Mit den Schwaben ist es nun aber genauso vorbei, wie mit Mercedes-Benz und Porsche und Bosch und SAP und anderen.

"In der Breite fehlt uns Spitze"

Die jetzt anstehende Bundestrainer-Diskussion, die auch eine Diskussion um den deutschen Stil, deutsche Tugenden, also letztendlich deutsche Identität und deutsche Seele ist – denn die deutsche Seele lässt sich von der Fußballseele nun mal nicht trennen –, diese Diskussion wiederum bekommt eine neue Dimension durch die Breite des deutschen Fußballversagens.

Das Scheitern der Frauen-Nationalmannschaft in der WM-Vorrunde und die schlechten Ergebnisse der verschiedenen Nachwuchsteams. Hier immerhin hat der DFB bereits begonnen zu handeln: Als Chef der Nachwuchsförderung wurde der überaus begabte Hannes Wolf ("In der Breite fehlt uns Spitze") verpflichtet und hat tatsächlich eine echte Rundumerneuerung angekündigt.

Wolf ist immer sehr konkret und bleibt dermaßen bei der Sache, dass Stammtischthesen an seinen Ideen abprallen:

Wie viel ist denn wirklich im Argen? Die Menschen lieben den Fußball. Die Stadien sind voll. Wir haben zwei Themen: Viele fangen als Kind an, aber hören bis zur A-Jugend auf. Manche Vereine haben vier B-Jugend-Teams und keine A-Jugend. Im Talentpool U21 gibt es mit Abstand am wenigsten Einsatzminuten in den Ligen. Hannes Wolf

Mit anderen Worten gibt es vor allem ein Ziel: Deutsche Jugendfußballer müssen besser motiviert sein, indem sie mehr spielen und öfter an den Ball kommen.

Es geht um Wiederentdeckung der Freude an Leistung, um viele Ballkontakte, einfache Regeln, Intensität in Wiederholung.

Fußball geschieht in Wellenbewegungen. In alten Zeiten war Fußballtraining erstmal drei Runden um den Platz drehen. Die so ausgelaugten Kicker mussten danach Elfmeterschießen und Freistöße üben. Dann kamen in den 1990er-Jahren innovative Nachwuchstrainer wie Hermann Gerland, die strenge Disziplin forderten, aber ansonsten vor allem auf Einzelbedürfnisse Rücksicht nahmen. Gerland trainierte Bastian Schweinsteiger, Thomas Müller, Philipp Lahm.

Später hat sich Deutschland dann aber auf den neuen Erfolgen ausgeruht. Die Erfolge, die mit Jogi Löw kamen, spätestens der WM-Titel 2014, der genau genommen schon ein wenig zu spät kam, der 2010 hätte kommen müssen, wurden erzielt von einer Generation, die beim FC Bayern München ausgebildet worden waren. Viele von ihnen in der Jugendabteilung groß geworden und früher oder später unter die Fittiche von Hermann Gerland gekommen.

Gerland gilt als "harter Hund", er ist der eigentliche heimliche Vater des WM-Erfolgs von 2014 und der guten Leistungen der Fußballnationalmannschaft in der Zeit zwischen 2006 und 2016, wo die Mannschaft bei der WM und bei der Europameisterschaft immer mindestens bis ins Halbfinale kam.

Seitdem ist der deutsche Fußball in der Krise. Er ist schlechter geworden, weil nur noch Teamprozesse in den Vordergrund gerückt wurden, nicht mehr auf die individuelle Entwicklung der einzelnen Spieler Rücksicht genommen wurde.

Anstatt einen eigenen Spielstil zu entwickeln, wurde reaktiv gespielt. Seit es Videoanalysen gibt, wurde der Gegner studiert, und auch der Jugendfußball taktisiert.

Deutschland hat schon sehr lange keinen klassischen Mittelstürmer mehr in einem Land, das lange von seinen Mittelstürmern gelebt hat. Ein Kane wird für 100 Millionen geholt, ein Lewandowski ist ein Jahrzehnt lang der gefühlte Torschützenkönig der Liga, aber in Deutschland gibt es solche Leute nicht.

Hinzu kommen in der jungen Generation Probleme mit Persönlichkeitsentwicklung – ist diese Vollzeitversorgung der Profis aber auch schon im Nachwuchsbereich überhaupt richtig? Warum müssen alle ein Fernstudium machen? Professionalisierung vorantreiben heißt, Spieler in eine Blase zu packen.

Warum sind andere Länder offenkundig weiter? Das, was jetzt Hannes Wolf anstößt, das ist ja nicht ausgedacht, sondern andere Nationen, die weitaus erfolgreicher sind, praktizieren das schon längst.