Was geht uns der Hindukusch an?
Es ist an der Zeit, "unsere Jungs" aus Afghanistan endlich zurückzuholen
Die Ankündigung des neuen, designierten spanischen Regierungschef José Luis Rodriguez Zapatero, im Sommer die spanischen Truppen aus dem Irak abzuziehen, könnte in Bälde auch für die Bundeswehr in Afghanistan Beispiel gebend sein Auch sie könnte sehr rasch der Ruf: "Kommt nach Hause, Jungs!" ereilen, vor allem, wenn sie oder Deutschland Opfer und Schauplatz eines vergleichbaren Anschlags wie dem in Madrid werden würden. Der deutsche Michel könnte sich bestärkt fühlen zu fragen, was seine Soldaten - fernab der Heimat und in unwirtlichem Gelände - eigentlich am Hindukusch unter Opiumschmugglern und Warlords zu suchen haben.
Verteidigt die Bundeswehr tatsächlich dort, wie ihr oberster Dienstherr Peter Struck vorgibt und nicht müde wird öffentlich zu betonen, die Freiheit und Sicherheit Mitteleuropas? Warum bislang nur dort und nicht auch in Haiti, in Sierra Leone, im Irak oder anderswo in der Welt?
Wird die Welt sicherer, stabiler und friedlicher, wenn die Bundeswehr künftig all over the world präsent ist und an der Seite von Willigen um unser aller Freiheit kämpft? Oder wird durch ebensolche Missionen nicht gerade die Sicherheit des Landes aufs Nachhaltigste bedroht und leichtsinnig aufs Spiel gesetzt? Ist der Preis, der für Heimatschutz, für ständige Überwachung und Beobachtung der Bürger von den Bürgern zu zahlen ist, dann nicht zu hoch? Ist ein Leben unter permanentem "Ausnahmezustand", wie Giogio Agamben die Lage der liberalen Staaten beurteilt, mit westlichen Werten und Ansprüchen noch vereinbar? Oder verwandeln sich die freien Länder peu à peu in "benevolente Despotien", wie Richard Rorty jüngst in Potsdam zu bedenken gab (Bye, bye, Democracy)?
Diese prinzipielle Frage, die auch Antworten nach den geografischen, territorialen und kulturellen Grenzen Europas und mithin Deutschlands einschließt und berührt, ist die Mutter aller Fragen, die es nach dem Anschlag auf drei Vorortzüge in Madrid alsbald zu klären und zu lösen gilt.
"Das Einsatzgebiet der Bundeswehr ist grundsätzlich die gesamte Welt" (Peter Struck)
Seien wir mal ehrlich! Einem anonymen Terror ist weder mit Shock and Awe und preemptive strikes noch mit der Errichtung von Militärprotektoraten wie im Irak oder in Afghanistan beizukommen. Ein solcher permanenter, möglicherweise Jahrzehnte andauernde Abwehrkampf strapaziert nicht bloß die Geduld und die Aufmerksamkeit der Menschen, sie überfordert auch die finanziellen Mittel, die mentalen Kräfte und die militärischen Ressourcen der jeweiligen Länder. Nach den Spaniern werden das alsbald auch die Italiener und Polen sowie - in einigen Jahren - auch die Amerikaner einsehen und sich entnervt, erschöpft und ausgebrannt aus Bagdad zurückziehen. Bereits jetzt fordern die Veteranenverbände in den USA vehement die Rückholung ihrer Kameraden. Außer Spesen nichts gewesen - diese Rechnung wird der künftige Präsident seinem Volk sehr bald zu präsentieren haben.
Andererseits sind Anschläge durch skrupellose Terroristen kaum zu verhindern, gleich wie viel Technik und Sicherheitskräfte die Staaten auch dagegen einsetzen werden. Schon hält der oberste Polizeichef in GB ein Attentat solchen Ausmaßes dort nur noch für eine Frage der Zeit. Gewiss lassen sich Wirtschaftskonferenzen, Weltmeisterschaften und Gipfeltreffen militärisch schützen und auswärtige Botschaften, Konsumtempel und Flughäfen in Hochsicherheitstrakte und exterritoriale Räumen verwandeln, nicht aber Schulen und Kindergärten, Krankenhäuser und Supermärkte.
Sollte es eine Lehre aus den Anschlägen und Sicherheitsbedürfnissen der letzten Jahre gegeben haben, dann diese: Seitdem es gelungen ist, Terrorakte auf "harte Ziele" durch strengste Kontrollen, IT-Technik und Sicherheitszäune quasi zu verunmöglichen, stehen zunehmend "weiche Ziele" auf der Agenda der Terroristen. Als Anschlagsziele gelten nun nicht mehr Staatsmänner, Thronfolger oder Wirtschaftsführer, sondern Menschen wie du und ich. Mit wahllosem Bomben aus dem Hinterhalt lässt sich (wie jetzt in Spanien) politischer Druck auf Regierungen erzeugen und Angst und Schrecken unter der Bevölkerung verbreiten. Die Demonstrationen der Millionen Spanier auf den Straßen Madrids und Barcelonas, ihre hilflosen Reaktionen darauf und die weltweiten Beileidsbekundungen sprechen Bände.
Mit Kreuzzügen, Universalismus und schlauen Sprüchen über Demokratie, Marktfreiheit und Rechtsstaat ist die arabische Welt nicht an den westlichen Marktkapitalismus anschließbar
Die Kulturrevolution, die die Bushies angezettelt haben, um die arabische Welt in ihrem Sinne zu erziehen, ist gescheitert, noch ehe sie überhaupt in die Gänge gekommen ist. Die Hearts and Minds der Araber und Muslime werden die Amerikaner niemals für sich gewinnen. Weder mit Mode-Schnickschnack und BurgerKing noch mit HipHop-Radio oder Sex and the City. Im Zweifelsfall wird die muslimische Frau, die vielleicht Vogue liest und bei La Perla einkauft, um ihren Mann mit heißen Dessous in der Nacht zu überraschen, lieber die Burka tragen und ihren Kindern den Dschihad predigen. Und der palästinensische Junge aus Gaza Stadt, der für David Beckham schwärmt, Nike-Schuhe trägt und den neuesten Song von Eminem auswendig kann, wird, wenn er von Hisbollah zur Tat "gerufen" wird, den Sprengstoff an seinem Gürtel zünden und dabei Koranverse aufsagen. Das Paradies ist in diesem Fall näher als der Rock.
Wer mit Muslimen nachbarschaftlich verbunden ist oder beruflich mit ihnen zu tun hat, wird wissen, dass sie in ihrer Mehrheit zwar die Blutopfer, die der Terror fordert, rundherum ablehnen, im Herzen aber viele von ihnen mit islamistischen Ideen sympathisieren, vor allem, wenn diese gegen das arrogante, selbstgewisse und dekadente Amerika gerichtet sind. Anders als deren US-freundliche Regierungen geben Islamisten ihnen nämlich das Gefühl, "etwas wert zu sein".
Sam Huntington hat Recht. Mit Kreuzzügen, Universalismus und schlauen Sprüchen über Demokratie, Marktfreiheit und Rechtsstaat ist die arabische Welt nicht an den westlichen Marktkapitalismus anschließbar. Die "Blairsche Ökologie" ist auf ganzer Linie gescheitert. Der Irak-Feldzug hat den Clash of Civilization eher befeuert und dem Land Chaos und Anarchie statt Ordnung, Sicherheit und Stabilität gebracht. Der Krieg hat nicht bloß ein sicheres und stabiles Land (unnötigerweise) zu einem "geopolitischen Pulverfass" gemacht. Er hat auch die vormals rivalisierenden Terrorgruppen im Kampf gegen den "amerikanischen Satan" geeint und al-Qaida (die Basis) in viele kleine al-Qaidas multipliziert. Es scheint, als ob die Botschaft von Deleuze und Guattari, Rhizome zu bilden statt Wurzeln zu schlagen, ausgerechnet im muslimischen Viereck angekommen und verstanden worden wäre. Die Islamisten machen jetzt auf rosaroten Panther, lieben sich wie Wespe und Orchidee und machen statt Fotos und Zeichnungen nur noch Karten.
Friedliche Koexistenz
Allumfassenden Schutz vor solchen Taten kann es ebenso wenig geben wie vor übergeschnappten Autobahndränglern, die aus ihrem 500 SL eine Waffe machen. Wie "fürsorglich" sich auch immer der "Vorsorgestaat" (Francois Ewald) um das "Wohlergehen" seiner Bürger sorgen wird: Überall und jederzeit kann Terror, Tod und Gewalt lauern. Weswegen es allenfalls um eine Minimierung der Risiken nicht aber um deren Abschaffung gehen kann, darum, die Kulturen schiedlich-friedlich voneinander zu trennen.
Zu dieser Art "Waffenstillstand" und Leben in "friedlicher Koexistenz" gibt es, soweit man das schon abschätzen kann, keine Alternative. Er hat den Ost-West-Gegensatz unter Deckel gehalten und Europa immerhin über ein halbes Jahrhundert Frieden und Sicherheit gebracht. Warum sollte das mit dem muslimischen Viereck nicht zu machen sein. Zudem wird diese Politik auch von den meisten Islamisten favorisiert. Folgt man der Ideologie Bin Ladens, dann geht es dem Netzwerk vor allem darum, die Ungläubigen von den heiligen Orte des Islam fernzuhalten.
Für die Idee des globalen Universalismus, die Vernetzung von allem mit allem unter der Bedingung des Free Flow, würde diese Politik allerdings einen derben Rückschlag bedeuten. Im Vordergrund stünden nämlich nicht mehr Wettbewerb, Konkurrenz und Survival of the Fittest, sondern die kulturelle Besonderheiten, Vorlieben und Eigenheiten Andersgläubiger, die stärker als bisher geachtet, toleriert und anerkannt werden müssten.
Auch mit der westlichen Vormundschaft wäre es dann vorbei. Weil sie stets zu wissen vorgibt, was gut für den anderen ist, ist sie ein ständiger Quell für Demütigung, Missachtung und Erniedrigung. Das Gerede vom Modernitätsrückstand, die Beschwörung des Rückfalls ins Mittelalter, der der arabischen Welt immer wieder unterstellt wird, schürt solche Emotionen. Sie misst einen Teil dieser Welt an einem Maßstab, den diese vorher selbst definiert hat.
Wer aber sagt, dass Individualismus, Laszivität und Säkularisierung moderner, fortschrittlicher oder besser für die Menschen sind als der Glaube an Tradition und autoritäre Strenge, an Spiritualität und Gemeinschaftlichkeit? Beobachtet man all die Konsumkrüppel, Porno-Touristen und SM-Aktivisten, all die Schaumschläger, Wichtigtuer und Doppelmoralisten, die sich auf den öffentlichen Plätzen und Räumen, Prints oder Screens tummeln, so kann man darüber schon mal ins Grübeln kommen. Sogar Jürgen Habermas, die Lichtgestalt deutscher Vernunftaufklärung, zweifelt zunehmend daran, dass die Vernunft die Mängel einer durch die Imperative des Marktes und der Biotechnik entgleisende Modernisierung jemals wird kompensieren können.
Um keinen Irrtum aufkommen zu lassen: Es geht nicht um die Rehabilitierung von Religion, Autorität und Spiritualität, sondern allenfalls darum, die Unversehrtheit und Eigenheit des Anderen, zu der auch Kopftuch, Kreuz oder Oberlippen-Piercing gehören, nicht von vorneherein als dumm, naiv oder rückständig zu brandmarken. Auch die Gegen- oder Anti-Moderne war und ist, wie wir wissen, höchst modern, und - Teil der Moderne. Die Zukunft wird zeigen, welches Modell sich letztlich durchsetzen wird.
Afganistan und der Irak sind keine Orte für Europäer
Stellt man diese Entwicklung in Rechnung, so wird an einer raschen Heimholung deutscher Truppen aus Afghanistan wohl kein Weg vorbeiführen. Außer die Verantwortlichen nehmen Attentate billigend in Kauf. Die geopolitischen Interessen, die Deutschland oder Europa dort haben könnten, sind minimal und den Truppeneinsatz nicht wert. Nicht einmal dem Opiumanbau wird Einhalt geboten, der unter den Augen und dem Schutz der Bundeswehr bestens floriert.
Afghanistan ist kein Ort für Europäer, auch wenn Herr Fischer das anders sieht und den Bushies inzwischen schon wieder nach dem Mund redet. Weder gibt es dort Öl noch sind wir dem Land kulturell oder traditionell besonders verbunden. Und auch im Irak oder in den umliegenden arabischen Staaten gibt es für Europäer wenig zu holen. Warum sollten wir das Unmögliche wollen, das Leben unserer Jungs riskieren und der Region unsere Art zu leben aufpressen? Das müssen die Menschen, wenn sie es denn wollen, schon selbst besorgen und ihre Regierungen abservieren. Das Öl, das sie haben und das wir bekanntlich haben möchten, werden sie auch so verkaufen. Schließlich können sie es nicht trinken und wollen es, im Gegentausch, gegen harte Devisen verkaufen.
Eine solche Rückholaktion hätte aber auch nichts mit "Weckducken" (Miriam Lau: Wegducken nützt nichts oder "wohlgefälligem Verhalten" Terroristen gegenüber zu tun (Stefan Kornelius: "Alle Opfer sind gleich", Süddeutschen Zeitung vom 15.3.04), sondern eher mit Einsicht, Vernunft und Überlegung, mit rationaler Entscheidung und der Amtspflicht eines Bundeskanzlers, der bei seinem Amtsantritt unter anderem geschworen hat, alles zu tun, was Schaden vom Land abwendet. Herfried Münkler ist ausnahmsweise einmal zuzustimmen, wenn er gestern in Der Welt schrieb:
Es spricht vieles dafür, dass Terroranschläge, wie die von Madrid, in den kommenden Jahren zu einem Begleiter unseres Lebens werden.
Dass das Terror-Netzwerk oder die mit ihm lose verbundenen autonomen Gruppen solch "honoriges" Verhalten auch belohnen, ist ein unvermeidlicher Nebeneffekt dieses Abzugs. Auch wenn das Netzwerk (wie im Übrigen Bush und Blair) streng nach alteuropäischen politischen Kategorien unterscheidet und die Welt nach Freund und Feind, nach Willigen und Unwilligen sortiert, heißt das noch lange nicht, dass Deutschland dann automatisch zum "Freund" des "Netzwerkes" avancieren wird. Er würde eher signalisieren, dass "Regierungen, die nicht in der Lage sind, ihre urbanen Ballungsräume zuverlässig zu schützen, nach Möglichkeit, nicht ins Visier terroristischer Gruppen geraten wollen", so Herfried Münkler weiter (Verwüstung statt Propaganda). Dies auszuschließen, ist eigentlich die Pflicht von Regierungen. Dafür sind sie von ihren Bevölkerungen auch gewählt worden.