Was ist eigentlich ein "Aggressor"?
Über einen ideologischen Begriff, der gerade Konjunktur hat
Die westliche Politik und deren Begleitmedien sind sich einig: An der Grenze zur Ukraine steht ein "Aggressor". Der heißt wahlweise "Russland" oder "Putin" und hat eine Streitmacht zusammengezogen, die da eigentlich nicht hingehört. Es sei denn, sie soll einmarschieren.
Diesem möglichen Angriff, dieser "Aggression" muss der Westen mitsamt der Nato, die bekanntlich nur ein Bündnis zur Verteidigung ist, entschieden entgegentreten. Es geht schließlich darum, die europäische "Sicherheitsordnung" aufrechtzuerhalten.
Der "Aggressor" hingegen dementiert: Man wolle keine Invasion, keinen Krieg in Europa. Die Truppenbewegungen seien normal, einige Einheiten würden aus dem Süden und Westen nun abgezogen. Allerdings verlangt Russland "Sicherheitsgarantien" des Westens. Die "aggressive" Erweiterung der Nato Richtung Osten an die russischen Grenzen müsse ein Ende haben.
Eine Aufnahme der Ukraine ins Bündnis sei nicht akzeptabel; die damit einhergehende Bedrohung durch Raketen, die in Minutenschnelle Moskau erreichten, nicht hinnehmbar. Deshalb schlägt Russland eine Vereinbarung vor. In der sollen sich West und Ost gegenseitig versichern, keine feindseligen Vorhaben zu planen, und die Ukraine wird nicht in die Nato aufgenommen.
Wer "Putin" verstehen will, ist auf der falschen Seite
Schon diese nüchterne Nacherzählung der jeweiligen Positionen im aktuellen Konflikt zwischen den USA, der Nato, der EU einerseits und Russland andererseits gilt derzeit hierzulande als verdächtig. Denn es sei doch wohl ganz klar, so die verbreitete Meinung in Politik und Medien, dass der "Aggressor" in Moskau sitze.1
Wer daher erst einmal schlicht die beiden Argumentationen referiert, muss damit rechnen, als "Putin-Versteher" geächtet zu werden. Offenbar ist die hiesige Öffentlichkeit mehrheitlich schon so sehr auf einen "gerechten" Krieg des Lagers, dem der eigene Staat angehört, eingestimmt, dass ein unverstellter Blick auf die "Gegenseite" sich verbietet. Die ideologische Kriegsvorbereitung funktioniert.
Dabei geht es tatsächlich ums "Verstehen". Nämlich in dem Sinne zu schauen, was "Westen'" und "Osten" umtreibt, einen Krieg zu riskieren. Das Attribut "Aggressor" unterstellt der jeweils anderen Seite einen unbedingten Willen zu einem unberechtigten Angriff (Aggressor ist abgeleitet vom lateinischen Verb aggredi.: angreifen, herangehen, darangehen).
Damit ist das unwiderlegbare Urteil über den Gegner gesprochen. Umgekehrt ist es um so gerechtfertigter, sich gegen die "Aggression" zu wehren, Man "verteidigt" sich halt mit allen gebotenen Mitteln. Dann gehen die vielen anfallenden Toten, zerstörten Städte und Landschaften in Ordnung.
Gegensätzliche Interessen? Nein, sondern eine "Bedrohungsspirale"
In der politologischen Sicht ergibt sich aus einer solchen Konfrontation ein "typisches Sicherheitsdilemma: Handlungen, mit denen sich eine Seite vor Bedrohung schützen will, werden vom Gegner als aggressiver Akt betrachtet. Die Reaktion löst wiederum Ängste aus und führt zur weiteren Eskalation".2
Die Lösung: "Der Westen muss nun endlich eine kohärente Strategie entwickeln, wie man mit Russland so umgeht, dass die Atommacht keine Bedrohung für seine Nachbarn darstellt, sich aber auch nicht bedroht fühlt." Seltsam – zunächst soll der Konflikt wegen Bedrohungs-Ängsten gleichermaßen auf beiden Seiten entstehen.
Die Konsequenz aber schlägt sich klar auf eine Seite, weil: "Putin spielt nur den Starken – und kaschiert innenpolitische Schwächen. Mit etwas Geschick kann der Westen sein Spiel stören und Russlands bedrohte Nachbarn zu mehr Sicherheit verhelfen, ohne dem Kreml neue Anlässe für riskante Manöver zu geben." (beide Zitate ebenda)
In dieser zunächst so neutral scheinenden, dann parteiischen Betrachtung kommen die gegensätzlichen Interessen der handelnden Staaten nicht vor.
Worin liegen denn die Gründe für die "Bedrohungen"? Hat einfach einer mal damit angefangen, und seither schraubt sich tragischerweise die Spirale der jeweiligen Gegen-Bedrohungen immer mehr nach oben? In welchem Jahr war das noch mal genau, wer "bedrohte" zuerst wen?
Man merkt, das hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun. In dieser "Logik" "entstehen" dann Kriege, die keiner gewollt hat. Die jeweilige Rüstung hat in dieser Gedankenwelt ein Staat aus verständlicher Angst gegen die anderen Staaten, die wiederum umgekehrt wegen Ängsten gegen ihn. In diesem nichts erklärenden Zirkelschluss steckt aber eine Wahrheit: Offenbar wollen sich alle zwangsläufig gegenseitig ans Leder. Nur warum bloß?
Was steht für einen Staat denn in dieser Welt zu befürchten? So einer wie Deutschland will doch einfach nur friedlich vor sich hin wirtschaften und mit vielen anderen Ländern Handel treiben? Wie können daraus solche "Ängste" erwachsen, dass für jeden Staat eine Armee unbedingt dazu gehört?