Was ist eigentlich ein "Aggressor"?
Über einen ideologischen Begriff, der gerade Konjunktur hat
Die westliche Politik und deren Begleitmedien sind sich einig: An der Grenze zur Ukraine steht ein "Aggressor". Der heißt wahlweise "Russland" oder "Putin" und hat eine Streitmacht zusammengezogen, die da eigentlich nicht hingehört. Es sei denn, sie soll einmarschieren.
Diesem möglichen Angriff, dieser "Aggression" muss der Westen mitsamt der Nato, die bekanntlich nur ein Bündnis zur Verteidigung ist, entschieden entgegentreten. Es geht schließlich darum, die europäische "Sicherheitsordnung" aufrechtzuerhalten.
Der "Aggressor" hingegen dementiert: Man wolle keine Invasion, keinen Krieg in Europa. Die Truppenbewegungen seien normal, einige Einheiten würden aus dem Süden und Westen nun abgezogen. Allerdings verlangt Russland "Sicherheitsgarantien" des Westens. Die "aggressive" Erweiterung der Nato Richtung Osten an die russischen Grenzen müsse ein Ende haben.
Eine Aufnahme der Ukraine ins Bündnis sei nicht akzeptabel; die damit einhergehende Bedrohung durch Raketen, die in Minutenschnelle Moskau erreichten, nicht hinnehmbar. Deshalb schlägt Russland eine Vereinbarung vor. In der sollen sich West und Ost gegenseitig versichern, keine feindseligen Vorhaben zu planen, und die Ukraine wird nicht in die Nato aufgenommen.
Wer "Putin" verstehen will, ist auf der falschen Seite
Schon diese nüchterne Nacherzählung der jeweiligen Positionen im aktuellen Konflikt zwischen den USA, der Nato, der EU einerseits und Russland andererseits gilt derzeit hierzulande als verdächtig. Denn es sei doch wohl ganz klar, so die verbreitete Meinung in Politik und Medien, dass der "Aggressor" in Moskau sitze.1
Wer daher erst einmal schlicht die beiden Argumentationen referiert, muss damit rechnen, als "Putin-Versteher" geächtet zu werden. Offenbar ist die hiesige Öffentlichkeit mehrheitlich schon so sehr auf einen "gerechten" Krieg des Lagers, dem der eigene Staat angehört, eingestimmt, dass ein unverstellter Blick auf die "Gegenseite" sich verbietet. Die ideologische Kriegsvorbereitung funktioniert.
Dabei geht es tatsächlich ums "Verstehen". Nämlich in dem Sinne zu schauen, was "Westen'" und "Osten" umtreibt, einen Krieg zu riskieren. Das Attribut "Aggressor" unterstellt der jeweils anderen Seite einen unbedingten Willen zu einem unberechtigten Angriff (Aggressor ist abgeleitet vom lateinischen Verb aggredi.: angreifen, herangehen, darangehen).
Damit ist das unwiderlegbare Urteil über den Gegner gesprochen. Umgekehrt ist es um so gerechtfertigter, sich gegen die "Aggression" zu wehren, Man "verteidigt" sich halt mit allen gebotenen Mitteln. Dann gehen die vielen anfallenden Toten, zerstörten Städte und Landschaften in Ordnung.
Gegensätzliche Interessen? Nein, sondern eine "Bedrohungsspirale"
In der politologischen Sicht ergibt sich aus einer solchen Konfrontation ein "typisches Sicherheitsdilemma: Handlungen, mit denen sich eine Seite vor Bedrohung schützen will, werden vom Gegner als aggressiver Akt betrachtet. Die Reaktion löst wiederum Ängste aus und führt zur weiteren Eskalation".2
Die Lösung: "Der Westen muss nun endlich eine kohärente Strategie entwickeln, wie man mit Russland so umgeht, dass die Atommacht keine Bedrohung für seine Nachbarn darstellt, sich aber auch nicht bedroht fühlt." Seltsam – zunächst soll der Konflikt wegen Bedrohungs-Ängsten gleichermaßen auf beiden Seiten entstehen.
Die Konsequenz aber schlägt sich klar auf eine Seite, weil: "Putin spielt nur den Starken – und kaschiert innenpolitische Schwächen. Mit etwas Geschick kann der Westen sein Spiel stören und Russlands bedrohte Nachbarn zu mehr Sicherheit verhelfen, ohne dem Kreml neue Anlässe für riskante Manöver zu geben." (beide Zitate ebenda)
In dieser zunächst so neutral scheinenden, dann parteiischen Betrachtung kommen die gegensätzlichen Interessen der handelnden Staaten nicht vor.
Worin liegen denn die Gründe für die "Bedrohungen"? Hat einfach einer mal damit angefangen, und seither schraubt sich tragischerweise die Spirale der jeweiligen Gegen-Bedrohungen immer mehr nach oben? In welchem Jahr war das noch mal genau, wer "bedrohte" zuerst wen?
Man merkt, das hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun. In dieser "Logik" "entstehen" dann Kriege, die keiner gewollt hat. Die jeweilige Rüstung hat in dieser Gedankenwelt ein Staat aus verständlicher Angst gegen die anderen Staaten, die wiederum umgekehrt wegen Ängsten gegen ihn. In diesem nichts erklärenden Zirkelschluss steckt aber eine Wahrheit: Offenbar wollen sich alle zwangsläufig gegenseitig ans Leder. Nur warum bloß?
Was steht für einen Staat denn in dieser Welt zu befürchten? So einer wie Deutschland will doch einfach nur friedlich vor sich hin wirtschaften und mit vielen anderen Ländern Handel treiben? Wie können daraus solche "Ängste" erwachsen, dass für jeden Staat eine Armee unbedingt dazu gehört?
Die Staaten der "ersten Welt" verteidigen ihren Erfolg mit aller Gewalt
Die "Ängste" müsste man korrekter als eine sehr konkrete und berechtigte Furcht bezeichnen: Furcht vor dem Verlust von angehäuftem Reichtum und ihn flankierender Macht. Je mehr Geschäfte das Kapital einer Nation auf der Erde laufen hat, desto wichtiger ist es augenscheinlich, dass der heimatliche Staat nicht nur ökonomisch ein Riese ist, sondern auch militärisch.
Nicht zufällig verfügen die wirtschaftlich erfolgreichsten Länder über die stärkste Rüstung. Es gibt nun mal eine Menge zu erobern und zu verteidigen gegen die vielen Konkurrenten und gegen die noch zahlreicheren Verlierernationen auf der Welt. Wer für seine Unternehmen in aller Welt sichere Geschäftsbedingungen schaffen will, braucht eine respektable Gewalt.
Mit der kann man sich gegen Staaten behaupten, die es auf vergleichbare Erfolge abgesehen haben. Die Staaten, die beim Welthandel ins Hintertreffen geraten, müssen sich ihre Niederlagen gefallen lassen. Und sie müssen sich den Regeln beugen, die die führenden Nationen ihnen diktieren – bei den Handelsbedingungen und der Frage, welchem Lager sie angehören.
Mit einschlägigen Handelsabkommen, Partnerschaften und Bündnissen versuchen die mächtigeren Nationen, gegen die anderen starken Staaten exklusive Vorteile zu erzielen.
Zu Kriegen, "Stellvertreter"-Kriegen und Scharmützeln, die in Drittstaaten im Auftrag tonangebender Nationen ausgefochten werden, kommt es daher immer dann, wenn die friedliche Androhung von schmerzhaften wirtschaftlichen Sanktionen oder von militärischer Intervention nicht zum gewünschten Ergebnis führt. Sprich, wenn die "Diplomatie versagt". An diesem Punkt fast angelangt ist aktuell der Konflikt zwischen USA und EU einerseits und Russland andererseits.
Schon redet US-Präsident Joe Biden von einem drohenden "Weltkrieg". Aber er soll auch mit seinem Kontrahenten öfter gesprochen haben. Und solange das noch geschieht, wird bekanntlich nicht geschossen! Was er ihm wohl gesagt hat?
Vielleicht in etwa das: "Du, Wladimir, fast alle Deiner ehemaligen Verbündeten sind jetzt bei uns und bis auf die Zähne bewaffnet. Georgien ist so gut wie dabei, Ukraine bald auch. Aber den seit Jahren betriebenen Aufmarsch machen wir nur, weil wir Amerikaner uns irgendwie von Euch bedroht fühlen. Wenn Du vielleicht einfach Deine Atommacht auflöst und Russland sich brav einreiht unter unsere Weltmacht-Regie, brauchen wir auch unsere Waffen nicht einzusetzen. Ohne Deine Erstschlag-Raketen fühlen wir uns dann kaum noch bedroht. Deal?"
Ist das jetzt "aggressiv" oder "defensiv"? Aus Sicht des Westens eindeutig letzteres. Schließlich verteidigt man sich doch gegen einen Staat, der die "Sicherheitsordnung" in Europa angreift. Der "Aggressor" sitzt also klar im Osten. Es hilft ein Blick auf die viel beschworene Sicherheitsordnung, um das zu überprüfen.
Die begann nach dem Ende der Sowjetunion 1990. Der Feind im Ostblock hatte sich aufgelöst, der Westen triumphierte. Der Kapitalismus zog in die seit dem Zweiten Weltkrieg ihm entzogenen Länder ein, auch Russland wechselte ins marktwirtschaftliche System.
Die USA und Europa hießen nach und nach die meisten ehemaligen Bündnispartner der Sowjetunion bei sich willkommen – in der EU, in der NATO. Damit verbunden waren der drastische Rückgang bis Abbruch der wirtschaftlichen Beziehungen zu Moskau und die Einbindung in die militärische Struktur des Westens.
Polen, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Tschechoslowakei – alles vormalige Mitglieder des "Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe" (Comecon), dem Pendant zur "Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft", und des Nato-Gegenbündnisses Warschauer Pakt.
"Sicherheitsarchitektur" West: Ostblock weg, Russland schwach
Das schwächte natürlich erheblich die Machtposition des russischen Nachfolgestaats. Für einen Präsidenten Boris Jelzin zunächst aber insofern kein Problem, als er sich von der Einführung kapitalistischer Verhältnisse in seinem Land den Reichtum versprach, den die Sowjetunion nicht hinbekommen hatte.
Der stellte sich allerdings im gewünschten Maß nicht ein. Vielmehr hielten viele Betriebe die Konkurrenz mit den Ausbeutungsprofis des Westens nicht aus und mussten schließen. Auch die Hoffnung, mit Hilfe westlicher Investitionen die russische Ökonomie wettbewerbsfähig zu machen, erfüllte sich nicht. Die Wirtschaft fußt bis heute im Wesentlichen auf dem Export von Rohstoffen wie Erdöl und Erdgas.
Schlimmer noch: In den Neunzigerjahren verlor Russland immer mehr an Boden in der Weltpolitik. Die führende Weltmacht überging russische Interessen, demonstrierte unter anderem beim Golfkrieg gegen den Irak und beim Eingreifen der Nato im jugoslawischen Bürgerkrieg, dass sie keine Rücksicht auf die einstige andere Weltmacht nehmen würde. Und die amerikanischen Raketen nebst weiterer Rüstung rückten nun noch viel näher an die russische Grenze, als sie es ohnehin schon zuvor in Deutschland gewesen waren.
Denn das war offenbar für den Westen klar: Eine gewaltige Bedrohung musste aufrechterhalten werden. Schließlich unterhielt Russland weiter sein atomares Raketen-Arsenal und sein zahlenmäßig großes Militär. Und wer als früher so mächtiger Staat dermaßen zurechtgestutzt würde, wie es nun den Russen geschah, könnte auf die Idee kommen, das mit Gewalt zu korrigieren.
Das leuchtete jedem gestandenen hiesigen Politiker ein – sie würden sich das in dieser Situation auch überlegen... Also "musste" der Westen sich gegen einen etwaigen Befreiungsschlag der Gegenseite entsprechend rüsten.
Neuer Präsident will Niedergang stoppen – ein klar "aggressiver" Akt!
Immerhin, von einem "Aggressor" Russland war da noch nicht die Rede. Der Argwohn indes blieb – und wurde stärker, als mit Wladimir Putin ein Präsident in Moskau an die Macht kam, der den Niedergang Russlands zu bremsen gedachte. Dabei streckte der Neue seine Hand Richtung Europa aus, wie er bei seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag 2001 zeigte: "Ohne eine moderne, dauerhafte und standfeste internationale Sicherheitsarchitektur schaffen wir auf diesem Kontinent nie ein Vertrauensklima und ohne dieses Vertrauensklima ist kein einheitliches Großeuropa möglich."
Auch Russland bemühte die "Sicherheitsarchitektur" - allerdings für ein "einheitliches Großeuropa". Damit meinte Putin die EU und Russland, in enger Zusammenarbeit. Wovon gerade Europa profitieren würde, denn:
Niemand bezweifelt den großen Wert der Beziehungen Europas zu den Vereinigten Staaten. Aber ich bin der Meinung, dass Europa seinen Ruf als mächtiger und selbstständiger Mittelpunkt der Weltpolitik langfristig nur festigen wird, wenn es seine eigenen Möglichkeiten mit den russischen menschlichen, territorialen und Naturressourcen sowie mit den Wirtschafts-, Kultur- und Verteidigungspotenzialen Russlands vereinigen wird.
Was für ein Angebot! Gemeinsam mit uns kann Europa auf Augenhöhe mit den USA gelangen! Verlockend bis heute, bedenkt man die selbstkritischen Töne der EU, zu sehr von den US-Amerikanern abhängig zu sein.
Dennoch verfing Putins Offerte nicht. An der Seite der überragenden Weltmacht USA entfaltet die Europäische Union doch eine ganz andere Wucht als mit dem zwar militärischen Riesen, aber ökonomischen Zwerg Russland. Außerdem scharte sich Europa just zu diesem Zeitpunkt hinter die USA bei deren "War On Terror" gegen Afghanistan und den Irak, wenn auch mit Zähneknirschen und teilweiser Absenz (Deutschland beteiligte sich nicht am Krieg gegen Bagdad. Man sei nicht convinced, wie sich Außenminister Fischer ausdrückte. Die Bundesregierung war schlicht nicht überzeugt, dass eine Teilnahme als Hilfstruppe der Amerikaner einen irgendwie gearteten Vorteil brächte).
Russland besteht auf seiner Weltmacht und gilt deshalb als "Aggressor"
Russlands Karriere zum geächteten "Aggressor" entwickelte sich umso stärker, je mehr der Staat – trotz des Verlusts seiner Bündnispartner - auf seiner Weltmachtposition bestand. Als atomare Macht musste im UN-Sicherheitsrat mit ihm verhandelt werden, sein Veto verhinderte zu häufig westlich genehme Resolutionen.
Seine außenpolitischen Beziehungen pflegte er autonom, auch zu Staaten, die auf dem "Index" des Westens standen, zum Beispiel Syrien. Vor allem aber ließ es sich diese Nation nicht länger ohne Widerstand gefallen, dass der Erzrivale USA mitsamt seinen militärisch hochgerüsteten Verbündeten noch näher an die eigenen Grenzen rückte.
Zum Beispiel in Georgien 2008:
Die Vereinigten Staaten sehen Georgien und Aserbaidschan, die beide zur Koalition der Willigen (gemeint sind die Staaten, die beim Irak-Krieg der USA mitmachten - B.H.) gehörten, als einen wichtigen Brückenkopf in der bis nach Zentralasien und Iran angrenzenden Region.
In den letzten Jahren ließen die Vereinigten Staaten Georgien moderne Militärausrüstung zukommen und investierten in die Ausbildung georgischer Soldaten. Im Zeitraum von 2003 bis 2008 hatte Georgien zudem seinen Verteidigungsetat von 18 auf 900 Millionen US-Dollar gesteigert.
Darüber hinaus hatten mehrere Nato-Staaten den Wunsch, Georgien vom Standard des IPAP (Individual Partnership Action Plan) zu MAP (Membership Action Plan) aufzuwerten, der direkten Vorstufe eines NATO-Beitritts. Dies wurde am 3. April 2008 auf dem NATO-Gipfel in Bukarest abgelehnt, Georgien aber grundsätzlich die Möglichkeit für einen Nato-Beitritt bestätigt.
Das "Nahe Ausland": für eine richtige Weltmacht die gesamte Erde
"Für Russland gilt die Kaukasusregion als "Nahes Ausland", in dem es für sich Sicherheitsinteressen reklamiert", schreibt im selben Artikel Wikipedia (ebenda). Diesen Begriff kennen die USA ebenfalls bestens: Nur gilt für sie eigentlich die ganze Welt als "Nahes Ausland". Eben überall dort, wo sie ihre Interessen berührt sieht. Und das ist nun einmal für eine Weltmacht grenzenlos. Denn ihre Unternehmen sind global unterwegs, nutzen Menschen, Material und Ressourcen der Länder aller Kontinente.
Die Erfolge auf den Weltmärkten hinterlassen viele Verlierer – was diese sich gefallen lassen müssen, weil auf der Gegenseite eine überragende Militärmacht steht. Also haben die USA Interesse an "stabilen", sprich ihnen nützlichen Verhältnissen in Mittel- und Südamerika, Afrika, Naher und Ferner Osten und natürlich in Europa, einschließlich des Ostens Richtung Russland.
Einen besonderen Fall "Nahes Ausland" gab es 1962: Da erdreistete sich die Sowjetunion, Raketen auf Kuba zu stationieren. So nah an den Vereinigten Staaten, wie sie ihrerseits Raketen in Europa gegen Moskau aufgestellt hatte. Damals stand die Welt am Rand eines Atomkriegs – weil die US-Amerikaner ihre "Sicherheitsinteressen" verletzt sahen.
Umgekehrt darf Russland kein legitimes Interesse daran haben, sich nicht unmittelbar an seinen europäischen Grenzen Nato-Raketen gegenüberzusehen. Der Einmarsch in Georgien 2008 war deshalb klar eine "Aggression", die "Verteidigung" der abtrünnigen Republiken Südossetien und Abchasien nur ein durchsichtiger Vorwand? Denn Georgien griff sie nicht an, sondern "verteidigte" nur sein Recht auf ein geeintes Staatsgebiet?
Im "Kaukasuskrieg" griff zwar Georgien die Hauptstadt Südossetiens an, begann also den Waffengang. Zuvor hatte es aber eine Reihe von Scharmützeln gegeben, bei denen sich Milizen aus Südossetien, unterstützt von Russland, Gefechte mit georgischen Einheiten lieferten.
Wer da den "ersten Schuss" abgab, mithin "Aggressor" war, und wer "nur" zurückschoss, demnach "verteidigte", ist weder exakt zu ermitteln – noch, und das ist wichtiger, entscheidet dies über "Gut" und "Böse". Es treffen schlicht gegensätzliche Interessen von Staaten aufeinander.
Beide Seiten reklamieren für sich, dass ihre Interessen die "berechtigteren" sind. Die Androhung von politischen und wirtschaftlichen Sanktionen bis hin zu Gewalt bildet dann die Grundlage für die "friedliche" Diplomatie. Wenn die nichts fruchtet, weil beide Seiten meinen, die besseren Karten zu haben, wird der Konflikt mit Gewalt ausgetragen.
Als "Brückenkopf" für die Nato glaubte offenbar Georgien, Rückendeckung für eine Attacke gegen Südossetien und damit gegen Russland zu haben. Die Kalkulation ging aber nicht auf. Der Westen sprang militärisch nicht bei, Georgien verlor die Auseinandersetzung.
Mit dem Bild des "Aggressors" auf den Feind eingestimmt
Mit den Begriffen "Aggression" und "Verteidigung" – das zeigt der Fall Georgien exemplarisch – kommt man nicht weiter, wenn man zu einem nüchternen Urteil über die Akteure kommen will. Es handelt sich um ideologische Kategorien.
Je nach Absender stellen sie eine Seite des Kriegs ins rechte Licht, die andere steht auf der Seite des Unrechts. Wer den Krieg "angefangen" hat, ist doch schuld, oder? Für die Agitation der eigenen Bevölkerung, mit dem richtigen Hass gegen den feindlichen Staat ins Feld zu ziehen, taugt diese Schuldzuweisung bestens.
Die Untertanen sollen sich schließlich hinter "ihrer" Herrschaft versammeln und sie gegen eine böse fremde Aggression verteidigen, unter Einsatz ihres Lebens. Für das Bild des Aggressors ist dann keine "Enthüllung" über den verdorbenen Nationalcharakter der Gegenseite zu blöd.
Das kulminiert in der Schilderung der jeweiligen Potentaten als "machthungrig", "autoritär", "brutal", "rücksichtslos" oder "gerissen". An Wladimir Putin klebt zusätzlich seine Vergangenheit im russischen Geheimdienst. Der KGB ist ja bekanntlich grausam und hinterhältig – im Gegensatz zum Bundesnachrichtendienst, der CIA oder dem MI6 vom guten James Bond! Und dann zeigt sich der Russe auch noch immer wieder mit nacktem Oberkörper oder im Judo-Anzug!
Warum hat dieser Bösewicht dann damals Georgien nicht eingenommen, sondern sich nur mit dem Zurückschlagen begnügt? Wie "aggressiv" ist das denn? Und wie passt das zum Plan, den Westen nicht dauerhaft an seine Grenzen zu lassen? Georgien blieb schließlich bestehen, als besagter "Brückenkopf" der USA.
In der Lesart des Westens hingegen zeigte sich Russland von seiner immer aggressiveren Seite – weil es die Vereinnahmung zweier nach Moskau ausgerichteter Republiken durch Georgien verhinderte. Es war für die Nato auch ein aufschlussreicher Test, wie weit sich Russland Angriffe gefallen lassen würde. Moskaus Antwort: Wenn Grenzen überschritten werden, handeln wir. Aber an eine Rückeroberung von Staaten, die einst zu unseren Bündnispartnern gehörten, denken wir nicht.
Russland will den Westen in der Ukraine stoppen
Diese "Grenzen" wurden dann einige Jahre später in der Ukraine überschritten. Die mit Russland kooperierende Regierung wurde 2014 mit einem Staatsstreich abgesetzt. Sie hatte das in Aussicht stehende Assoziierungsabkommen mit der EU vorerst nicht unterzeichnen wollen.
Der Weg fort von Moskau hin zur Europäischen Union war damit erst einmal verschoben worden. Was zu Protesten, dem berühmten "Euromaidan" und der Übernahme der Regierung durch europafreundliche Politiker führte. Und zu zwei "Aggressionen": Im Osten der Ukraine bildeten sich in den Regionen Donezk und Luhansk zwei abtrünnige Republiken, es begann ein Bürgerkrieg. Auf der Seite der Sezessionisten: Russland, das zeitgleich die Krim-Halbinsel annektierte, zweite Aggression.
Der westliche Aufschrei über diese Missachtung der "heiligen" Grenzen in Europa hallt bis heute nach. Dabei schmeißen EU und NATO in ihrem Glashaus nur so mit Steinen um sich: Sie waren es schließlich, die auf dem Balkan in den Neunzigerjahren neue Grenzen gezogen hatten, weil ihnen die alten nicht mehr passten.
Die Serben wurden niedergebombt, um gegen sie die Abspaltung Kroatiens, Bosniens und des Kosovo durchzusetzen. Belgrad nützte dabei übrigens die Partnerschaft mit Russland nichts. Die überging der Westen und stellte Moskau vor die knallharte Frage, entweder den Serben beizuspringen, also sich mit der Nato anzulegen, oder den Mund zu halten. Russland wählte den Mittelweg – ein Veto im UN-Sicherheitsrat; im Wissen, dass dies den Westen nicht stoppen würde.
Wohlgemerkt, auf der Krim marschierte Russland tatsächlich ein. Und wie "berechtigt" das gewesen sein mag vor dem Hintergrund historischer Zugehörigkeiten der Halbinsel zum Zarenreich, zur Sowjetunion und zu Russland (im Rahmen der "Gemeinschaft Unabhängiger Staaten" (GUS)) ist kein objektiver Tatbestand – sondern verleiht dem Anspruch eines Staates auf ein Territorium die höhere geschichtliche Weihe.
Mit einem solchen "Argument" "begründen" Nationen allzu gern ihr schlichtes Interesse, ihren Herrschaftsbereich zu vergrößern. Wenn das begehrte Gebiet irgendwann einmal zwischen Antike und Neuzeit dazugehörte, genügt das schon.
Im Falle der Krim holte sich überdies Russland ein Stück Land zurück, das mit dem Schwarzmeerhafen für die russische Flotte in Sewastopol eine bedeutende strategische Position besitzt. Nicht auszudenken für Moskau, wenn ein Nato-Mitglied Ukraine diesen Hafen besetzt und die russische Marine vor die Tür gesetzt hätte.
Damit hatte es sich dann mit der "Aggression". Die Ukraine wurde nicht angegriffen. Auch bestand Russland nicht darauf, Donezk und Luhansk von Kiew abzulösen oder gar zu annektieren. Vielmehr erklärte es sich im "Minsker Abkommen" damit einverstanden, sie als autonome Regionen in der Ukraine zu belassen.
Aus Sicht Kiews allerdings ein Unding, prorussischen Kräften einen Sonderstatus innerhalb einer Nation einzuräumen, die sich auf dem Weg zur EU und Nato befindet. Entsprechend wenig bis gar nicht wurde das Abkommen umgesetzt.
Neue Stufe im Konflikt um die Ukraine
Der Konflikt in der Ukraine hat nun eine neue Stufe erreicht: Russland verlangt "Sicherheitsgarantien". Präsident Putin bezeichnet die weitere Ausdehnung der Nato in Richtung Osten als "inakzeptabel". In einer Pressekonferenz erklärte er am 27. Januar unter anderem:
Platzieren wir Raketen an der Grenze der Vereinigten Staaten? Nein. Es sind doch die USA mit ihren Raketen, die zu unserem Haus gekommen sind. An der Türschwelle unseres Hauses stehen sie bereits (…) Wie würden die Amerikaner reagieren, wenn wir unsere Raketen an die Grenze zwischen Kanada und den USA oder an die Grenze zwischen Mexiko und den USA bringen und dort platzieren würden? Oder hatten Mexiko und die USA nie territoriale Probleme? Und wem gehörte Kalifornien zuvor? Und Texas? Habt Ihr das vergessen?
Vergessen haben die USA das vielleicht nicht, auch nicht den Beinahe-Krieg wegen sowjetischer Raketen auf Kuba – aber es interessiert sie nicht. Die Einkreisung Russlands soll weitergehen. Solche Vergleiche, wie Putin sie anstellt, ignoriert der Westen. Für ihn sieht die "Sicherheitsordnung" so aus: Russland muss sich den Aufmarsch auch in der Ukraine gefallen lassen.
Das zum Thema, dass da eine eherne Ordnung in Gefahr geriete, die bisher Europa den Frieden erhalten habe. Seit 1990 wurde diese Ordnung sehr dynamisch verstanden, vorsichtig formuliert: Der Westen definierte sie Zug um Zug stets neu, wenn mal wieder ein weiteres ehemaliges Mitglied des russischen Ostblocks in die Nato aufgenommen wurde.
Man kann es auch andersherum sehen: Der Westen hat die einstige "Sicherheitsordnung" nach der Auflösung der Sowjetunion ständig mit Füßen getreten. Vom einstigen windelweichen Versprechen, die Nato würde sich nach der Wiedervereinigung Deutschlands und der Auflösung der Sowjetunion natürlich nicht nach Osten ausdehnen, ist nichts übrig geblieben.
Eine "Sicherheitsgarantie", dass diese Ausdehnung aber nicht gegen Moskau gerichtet ist, wird kategorisch abgelehnt. Wie sollte das auch gehen? Russland stört die USA und in ihrem Schlepptau die EU. Das Land ist einfach militärisch zu mächtig und macht davon in seiner Weltpolitik Gebrauch, gegen die Interessen des Westens in zu vielen Fällen. In Moskau sitzt also ein Feind. Wofür da wohl die Waffen an seiner Grenze gedacht sind?
Wer da jetzt "verteidigt" und wer "angreift" ist insofern nicht die entscheidende Frage, übrigens auch nicht militärstrategisch. Denn wie soll der große Militärtheoretiker Clausewitz einmal gesagt haben: "Angriff ist die beste Verteidigung."
Welche unversöhnlichen staatlichen Interessen aufeinanderprallen, ist der Reihenfolge der kriegerischen Auseinandersetzungen nun einmal nicht zu entnehmen. "Berechtigt" sind sie auf jeden Fall aus der Perspektive aller beteiligten Herrschaften. Und ausgetragen werden die Gegensätze immer auf dem Rücken der teilnehmenden Völker. Die leider sich zuverlässig von der Rhetorik gegen "Aggressoren" aufstacheln lassen – anstatt sich zu überlegen, für welche ihnen fremde Interessen sie ihr Leben herzugeben haben.