Warum "für Europa"?

Eine Polemik zur "europäischen Idee" und deren aktuelle Folgen (Teil 1)

Ein Gespenst geht um in Europa: Politik und Kapital, Kultur und Medien sorgen sich um den Bestand der Europäischen Union (EU). Mächte von außen bedrohen sie, Mächte von innen zweifeln an ihr. "Europa" gilt dabei als eine Art Wert, der unbedingt zu verteidigen ist wegen überragender Errungenschaften. Dann schauen wir uns die doch mal genauer an.

Die "Europäische Union" ist derzeit nicht zu beneiden. Sie steht vor einem Berg von Herausforderungen:

Die 27 (EU-Mitgliedsstaaten – B.H.) müssen sich vom Rockzipfel der USA lösen, müssen militärisch selbständiger werden, müssen bei der Digitalisierung vorankommen, müssen eine gemeinsame Sprache zur Migration finden, müssen zum Weltmarktführer in Sachen Klimaschutz werden und den Menschen die Angst nehmen vor dem Wandel, der damit verbunden ist. Und sie müssen dabei der Welt ihre Grundwerte vorleben – Freiheit, Demokratie, Menschenrechte. Andernfalls wird die EU sehr bald aufgerieben und ihre Einzelteile zerlegt von den Großmächten USA und China und dem Gernegroß Putin.

Josef Kelnberger: Merkels Erblast, in Süddeutsche Zeitung, 23. Oktober 2021

Verdammt viel "Müssen", das der SZ-Leitartikler da in die Welt setzt. Und tatsächlich dürfte seine Beschreibung der notwendigen Taten der EU hervorragend das zusammenfassen, was diejenigen bewegt, die in ebendieser Union von Staaten auf dem europäischen Kontinent das Sagen haben: die maßgeblichen Politiker und Staatsfunktionäre sowie die Geldbesitzer und Manager aus der Wirtschaft.

Das "Müssen" abnicken dürften darüber hinaus die Gewerkschaften als Vertreter der abhängig Beschäftigten. Weil sie es schon lange für ganz normal halten, dass ihre Leute auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen sind, von Arbeitgebern gebraucht zu werden. Wenn die nämlich weniger Geschäft machen, weil "Europa" Probleme hat, "müssen" sie halt leider eine Menge Arbeitnehmer entlassen, den Rest härter herannehmen und weniger bezahlen.

Kein "gallisches Dorf": Kampfansage einer aufstrebenden Weltmacht

Die passende Begleitmusik zum bevorstehenden EU-Programm liefern die "Leitmedien". Was nun ansteht, ist nicht einfach so das Vorhaben eines Staatenbunds, sich gegen die Konkurrenz ebenbürtiger anderer Mächte zu behaupten. Sondern den Europäern geht es dabei um "Grundwerte". Man versteigt sich sogar zu der Aussage, ohne diese Werte wäre alles Mühen vergebens.

Und inzwischen hält die EU die Fahne von Freiheit, Demokratie und Menschenrechte nicht nur gegen die Bösen aus Russland und China hoch – jetzt sind auch die USA dabei.

Einerseits ziemlich kindisch: Als wäre die EU ein kleines Dorf in Gallien, das sich gegen übermächtige Römer zu Wehr setzt und dabei nichts als ehrenvolle Absichten hegt gegen alle Bösewichte dieser Welt. Andererseits eine harte Ansage: Nichts Geringeres als ein Kampf gegen die anderen Weltmächte steht an. Und der wird mit allen Mitteln ausgetragen.

Kriege gelten dabei Staaten als "ultima ratio", wenn andere Wege nicht zum erwünschten Erfolg führen. Aber Moment mal, doch nicht die EU! Sie gilt seit ihrer Gründung nach dem Zweiten Weltkrieg als ein einziges "Friedensprojekt" (Ralph Brinkhaus, CDU, stellvertretend für viele). Eine echte Errungenschaft, auf die sich – nicht nur in Sonntagsreden – die einschlägigen Herrschaften viel einbilden und sich nur zu gern selbst dafür loben, seither keinen Krieg mehr angezettelt zu haben.

Und es stimmt ja: Untereinander haben es die EU-Mitgliedsstaaten unterlassen, ihren Willen anderen Souveränen mit militärischen Mitteln aufzuzwingen. Das liegt indes nicht an einer historisch einmaligen Friedensliebe zwischen diesen Nationen, noch weniger an mangelnder Rüstung, um Kriege führen zu können.

"Erzfeindschaften" wie die zwischen Frankreich und Deutschland oder Großbritannien und Frankreich sowie weitere über Jahrhunderte immer wieder aufgeflammte Konflikte zwischen den Staaten auf dem Kontinent wurden nach dem Zweiten Weltkrieg gewissermaßen eingefroren.

Die entsprechende "Überzeugungsarbeit" leistete der Kriegsgewinner USA: Die zwangen ihre westlichen Alliierten Frankreich und Großbritannien, den industriellen Wiederaufbau Deutschlands zu akzeptieren – statt das Land in eine einzige Ackerbaufläche zu verwandeln, auf dass es nie mehr ein ernsthafter Konkurrent für Paris und London werden könnte.

Die US-Amerikaner betrieben sogar die Wiederaufrüstung der Deutschen und integrierten sie in ihr Militärbündnis Nato gegen die Sowjetunion. Mit dem Vorbehalt, dass allen Nato-Mitgliedern jegliche kriegerische Auseinandersetzung gegeneinander verboten ist.

Denn den USA war klar: Gründe für Kriege in Europa würde es weiter geben. Deren Ausbruch wäre aber dem Zweck des Bündnisses zuwidergelaufen. Schließlich sollte Europa gegen die Sowjets zu einem starken Gegner aufgebaut werden und nicht sich selbst zerfleischen.

"Europäische Idee": Gemeinsam aufbauen, gemeinsam mitmischen

Zu einer für die Sowjetunion ernstzunehmenden Bedrohung gehörte neben einer gewichtigen Rüstung inklusiver US-amerikanischer Atomstreitmacht "vor Ort" auch eine wieder aufblühende Wirtschaft. Das leuchtete den Europäern nicht nur wegen entsprechender Hinweise aus Washington ein.

Ihre durch den Weltkrieg weitestgehend zerstörten Ökonomien waren zu schwach und allein zu klein, um sich vielleicht irgendwann einmal auf dem von den USA mit ihrem dollarbasierten Weltmarkt zu behaupten.

Die Geburtsstunde der "Europäischen Idee": Gemeinsam nach innen wieder aufbauen – mit US-amerikanischer Hilfe – und nach außen sich schützen, als Staatenblock für die Geschäfte des eigenen Kapitals beste Voraussetzungen schaffen und so ein gewichtiges Wort in der Welt mitreden.

Die "Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl" entstand, die Vereinigung für die zivile Nutzung der Atomkraft "Euratom" sowie schließlich 1957 die "Europäische Wirtschaftsgemeinschaft" (EWG) mit den sechs Mitgliedern Belgien, Niederlande, Luxemburg, Italien, Frankreich und Deutschland.

Gegen die Beteiligung von Großbritannien sprach sich zunächst Frankreich aus, in bester Erzfeindschafts-Tradition. Das United Kingdom hatte seinerseits mit der Efta (European Free Trade Association) eine Konkurrenzveranstaltung zur EWG zusammen mit unter anderem den skandinavischen Staaten gegründet.

Sie erwies sich aber als wirtschaftlich nicht erfolgreich genug, konnte sich gegen die EWG nicht durchsetzen. Sodass die Briten 1973 dann doch hinzustießen, gemeinsam mit Dänemark und Irland.

Es folgten Griechenland, Spanien, Portugal. Nach der Auflösung der Sowjetunion einschließlich des Ostblocks kamen in die zwischenzeitlich erweiterte "Europäische Union" Österreich, Schweden und Finnland hinzu sowie zahlreiche Staaten aus dem ehemaligen russischen Einflussbereich wie die baltischen Nationen, Polen, Tschechoslowakei, Rumänien, Bulgarien und Ungarn.

Mit der Selbstauflösung der Sowjetunion entfiel eigentlich der Grund für den "Nato-Vorbehalt". Und die Begeisterung über das Ende der DDR und ihre Angliederung an die Bundesrepublik hielt sich besonders bei den britischen und französischen Konkurrenten in sehr engen Grenzen.

In London und Paris ahnten die Herrschaften schon, dass dieser Zuwachs an Staatsgebiet und -volk die Deutschen noch tonangebender in der EU machen würde. Dennoch fügten sie sich in die maßgeblich von den USA und der scheidenden Sowjetunion erlaubten "Wiedervereinigung".

Im Laufe der kommenden Jahre ereigneten sich auch keine militärischen Konflikte innerhalb der EU. Die Europäer suchten in der neuen weltpolitischen Konstellation ohne den großen Gegner im Osten ihre Position. Sie beäugten argwöhnisch die Entwicklung des russischen Nachfolgestaats.

Denn die Atomwaffen und sonstige gewaltige Rüstung waren ja nicht mit abgeschafft worden. Also gab es für Deutschland, Frankreich, Großbritannien & Co gute Gründe, mit der Nato und damit den USA eine weiter überragende Streitmacht dem entgegenzusetzen.

Am "Rockzipfel" der US-Amerikaner fühlten sich die Europäer da noch unter den neuen Umständen wohl, betonten ständig die Bedeutung der westlichen Allianz – für sich, um ihre Interessen weiter machtvoll in der Welt durchsetzen zu können.

In dieser Welt – wir sind in den 1990er-Jahren – ging es ungebrochen ziemlich kriegerisch zu. Das "Friedensprojekt" Europa machte da keine Ausnahme. Nur ereigneten sich die Scharmützel nicht im Unionsgebiet, sondern sozusagen vor der Haustür, in Jugoslawien.

Dem "blockfreien" Staat war durch den Wegfall des einen Blocks seine Geschäftsgrundlage abhandengekommen. Seine sozialistische Ausrichtung wurde nicht mehr von sowjetischer Seite gestützt, die war nicht mehr da. Und als zur Sowjetunion kritischem Staat brauchte der Westen Jugoslawien nun auch nicht mehr.

Vor allem in den Teilrepubliken Kroatien und Slowenien schwangen sich daher Politiker auf, um sich von Jugoslawien abzuspalten. Ihr Argument: "Unser" Volk kommt besser ohne die anderen Völker im Staat zurecht. "Wir" zahlen zu viel für "die anderen" beziehungsweise bekommen zu wenig zurück.

Angesichts der umfassenden Wirtschaftskrise Jugoslawiens verfingen diese "Argumente" bestens. Und die von den jugoslawischen Sozialisten nie kritisierten und damit weiter bestehenden nationalistischen Hetzereien zwischen Kroaten, Slowenen, Serben, Bosniern, Kosovo-Albanern usw. fielen auf fruchtbaren und furchtbaren Boden.

Sezession in Jugoslawien? Ja, bitte! Sezession in Spanien: Nein, auf keinen Fall!

Die Unabhängigkeitserklärungen von Kroatien und Slowenien fasste die jugoslawische Regierung als eine widerrechtliche Sezession auf. Was sie tatsächlich war – und den europäischen Nachbarn geläufig. Jüngstes Beispiel: die Abspaltungspläne in Katalonien, die die spanische Zentralregierung zunichtemachte. Nur mit dem feinen Unterschied, dass die EU weder die katalanische Sezession anerkannte noch mit Gewalt Spanien zu deren Anerkennung zwingen wollte.

Doch genau dies taten die Europäer im Fall Jugoslawien. Ganz vorn Deutschland – anfangs allerdings gebremst von Großbritannien und Frankreich, die als Gegengewicht zum durch die Wiedervereinigung erstarkten Berlin zunächst auf den Erhalt Jugoslawiens setzten. Es folgte ein rund zehn Jahre währender Bürgerkrieg – unter intensiver diplomatischer und am Ende militärischer Beteiligung der europäischen Nato-Mitglieder.

Die führenden Staaten des "Friedensprojekts" Europa mischten im Krieg auf dem Balkan kräftig mit – gegen die Serben und ihr Vorhaben, den Staat zu erhalten, wenigstens als "Groß-Serbien". Allerdings waren die Europäer nicht entscheidend – sondern die USA.

Selbst auf dem eigenen Kontinent konnten sie ihre Ordnungsansprüche nicht durchsetzen, waren auf die überlegene Rüstung der Weltmacht jenseits des Atlantiks angewiesen.

Die Liste der Kriege in der Welt, bei denen EU-Mitglieder maßgeblich beteiligt waren und noch sind, hört beim Fall Jugoslawien nicht auf. Irak, Afghanistan und Syrien sind nur die größten Schlachtfelder, auf denen die friedliebenden Europäer seither mitgemischt haben.

Tatkräftig unterstützt hat die Union auch die Ukraine in den Anstrengungen eines Teils der dortigen politischen Elite, lieber auf die Karte "Westen" zu setzen als auf die bisherige Partnerschaft mit Russland.

In der Frage der Abspaltung östlicher Provinzen steht die EU stramm hinter Kiew – also im Gegensatz zu Jugoslawien ist sie dieses Mal für den Erhalt des Staatsgebiets. Es kommt halt darauf an, welche Sezession in den aktuellen politischen Kram passt. Bei der Situation in der Ukraine ist klar: Es geht gegen die Russen, und das gehört gefördert!

Mitmischen bei Kriegen in aller Welt? Es muss sich aber lohnen!

Generell bemühen sich die EU-Mitgliedsstaaten, im Schlepptau der USA eigene "Akzente" zu setzen. Das kann dann schon mal zur internen Uneinigkeit führen. Beispielsweise nahmen einige europäische Nationen am Irak-Krieg 2003 teil, Deutschland aber nicht.

Berlin wollte durch demonstrative Absenz zeigen, dass man schon einen irgendwie gearteten Nutzen erwartet, wenn man sich den US-Amerikanern bei deren Kriegen unterordnet. Und wenn der sich nicht einstellt, macht man ausnahmsweise mal nicht mit.

Beim Thema "Ukraine" durchkreuzen aktuell die USA den Anspruch der EU, auf ihrem Kontinent die Ordnungsmacht zu sein. US-Präsident Biden spricht über die Europäer hinweg mit seinem russischen Kollegen! Wieder einmal für die so friedliebende EU die schmerzliche Klarstellung, dass man keine ernstzunehmende Gewalt darstellt, wenn es um die Weltmacht geht.

In Zukunft, so der zu Beginn zitierte Leitartikel der Süddeutschen Zeitung, soll das nun anders werden. Dann ist die EU selbstständig, entscheidet eigenmächtig ohne Blick auf die Weltmacht Nr. 1, wo sie ihre Soldaten hinschickt.

Das setzt logischerweise weit mächtigere Streitkräfte voraus, als die EU-Staaten bisher besitzen. Aufrüstung ist also angesagt. Auftakt für neue Rüstungsprojekte wie auch für einen lebendigen Streit über die Verteilung der damit verbundenen finanziellen Lasten.

Gerade Frankreich prescht hier voran, will gern die militärische Führung in Europa übernehmen – wenn es schon die ökonomische und politische den Deutschen überlassen muss.

Wie all das einen mehr "für Europa" einnehmen soll? Das leuchtet nur Leuten wie dem SZ-Journalisten ein, die die EU als Hort des Guten in der Welt sehen. Und die das Gute in der Welt, leider, öfter mal mit Gewalt durchsetzen muss – gegen die Schlechten, das sind dann die mit der großen Rüstung wie Russland und die mit der großen Ökonomie, das sind die Chinesen. Neuerdings können auch die mit beidem Überragenden, Rüstung und Ökonomie, dazu gehören: die USA. Wie ein Friedensprojekt sieht das nicht aus, eher im Gegenteil.