Was ist eigentlich ein "Aggressor"?

Seite 3: Russland besteht auf seiner Weltmacht und gilt deshalb als "Aggressor"

Russlands Karriere zum geächteten "Aggressor" entwickelte sich umso stärker, je mehr der Staat – trotz des Verlusts seiner Bündnispartner - auf seiner Weltmachtposition bestand. Als atomare Macht musste im UN-Sicherheitsrat mit ihm verhandelt werden, sein Veto verhinderte zu häufig westlich genehme Resolutionen.

Seine außenpolitischen Beziehungen pflegte er autonom, auch zu Staaten, die auf dem "Index" des Westens standen, zum Beispiel Syrien. Vor allem aber ließ es sich diese Nation nicht länger ohne Widerstand gefallen, dass der Erzrivale USA mitsamt seinen militärisch hochgerüsteten Verbündeten noch näher an die eigenen Grenzen rückte.

Zum Beispiel in Georgien 2008:

Die Vereinigten Staaten sehen Georgien und Aserbaidschan, die beide zur Koalition der Willigen (gemeint sind die Staaten, die beim Irak-Krieg der USA mitmachten - B.H.) gehörten, als einen wichtigen Brückenkopf in der bis nach Zentralasien und Iran angrenzenden Region.

In den letzten Jahren ließen die Vereinigten Staaten Georgien moderne Militärausrüstung zukommen und investierten in die Ausbildung georgischer Soldaten. Im Zeitraum von 2003 bis 2008 hatte Georgien zudem seinen Verteidigungsetat von 18 auf 900 Millionen US-Dollar gesteigert.

Darüber hinaus hatten mehrere Nato-Staaten den Wunsch, Georgien vom Standard des IPAP (Individual Partnership Action Plan) zu MAP (Membership Action Plan) aufzuwerten, der direkten Vorstufe eines NATO-Beitritts. Dies wurde am 3. April 2008 auf dem NATO-Gipfel in Bukarest abgelehnt, Georgien aber grundsätzlich die Möglichkeit für einen Nato-Beitritt bestätigt.

Das "Nahe Ausland": für eine richtige Weltmacht die gesamte Erde

"Für Russland gilt die Kaukasusregion als "Nahes Ausland", in dem es für sich Sicherheitsinteressen reklamiert", schreibt im selben Artikel Wikipedia (ebenda). Diesen Begriff kennen die USA ebenfalls bestens: Nur gilt für sie eigentlich die ganze Welt als "Nahes Ausland". Eben überall dort, wo sie ihre Interessen berührt sieht. Und das ist nun einmal für eine Weltmacht grenzenlos. Denn ihre Unternehmen sind global unterwegs, nutzen Menschen, Material und Ressourcen der Länder aller Kontinente.

Die Erfolge auf den Weltmärkten hinterlassen viele Verlierer – was diese sich gefallen lassen müssen, weil auf der Gegenseite eine überragende Militärmacht steht. Also haben die USA Interesse an "stabilen", sprich ihnen nützlichen Verhältnissen in Mittel- und Südamerika, Afrika, Naher und Ferner Osten und natürlich in Europa, einschließlich des Ostens Richtung Russland.

Einen besonderen Fall "Nahes Ausland" gab es 1962: Da erdreistete sich die Sowjetunion, Raketen auf Kuba zu stationieren. So nah an den Vereinigten Staaten, wie sie ihrerseits Raketen in Europa gegen Moskau aufgestellt hatte. Damals stand die Welt am Rand eines Atomkriegs – weil die US-Amerikaner ihre "Sicherheitsinteressen" verletzt sahen.

Umgekehrt darf Russland kein legitimes Interesse daran haben, sich nicht unmittelbar an seinen europäischen Grenzen Nato-Raketen gegenüberzusehen. Der Einmarsch in Georgien 2008 war deshalb klar eine "Aggression", die "Verteidigung" der abtrünnigen Republiken Südossetien und Abchasien nur ein durchsichtiger Vorwand? Denn Georgien griff sie nicht an, sondern "verteidigte" nur sein Recht auf ein geeintes Staatsgebiet?

Im "Kaukasuskrieg" griff zwar Georgien die Hauptstadt Südossetiens an, begann also den Waffengang. Zuvor hatte es aber eine Reihe von Scharmützeln gegeben, bei denen sich Milizen aus Südossetien, unterstützt von Russland, Gefechte mit georgischen Einheiten lieferten.

Wer da den "ersten Schuss" abgab, mithin "Aggressor" war, und wer "nur" zurückschoss, demnach "verteidigte", ist weder exakt zu ermitteln – noch, und das ist wichtiger, entscheidet dies über "Gut" und "Böse". Es treffen schlicht gegensätzliche Interessen von Staaten aufeinander.

Beide Seiten reklamieren für sich, dass ihre Interessen die "berechtigteren" sind. Die Androhung von politischen und wirtschaftlichen Sanktionen bis hin zu Gewalt bildet dann die Grundlage für die "friedliche" Diplomatie. Wenn die nichts fruchtet, weil beide Seiten meinen, die besseren Karten zu haben, wird der Konflikt mit Gewalt ausgetragen.

Als "Brückenkopf" für die Nato glaubte offenbar Georgien, Rückendeckung für eine Attacke gegen Südossetien und damit gegen Russland zu haben. Die Kalkulation ging aber nicht auf. Der Westen sprang militärisch nicht bei, Georgien verlor die Auseinandersetzung.

Mit dem Bild des "Aggressors" auf den Feind eingestimmt

Mit den Begriffen "Aggression" und "Verteidigung" – das zeigt der Fall Georgien exemplarisch – kommt man nicht weiter, wenn man zu einem nüchternen Urteil über die Akteure kommen will. Es handelt sich um ideologische Kategorien.

Je nach Absender stellen sie eine Seite des Kriegs ins rechte Licht, die andere steht auf der Seite des Unrechts. Wer den Krieg "angefangen" hat, ist doch schuld, oder? Für die Agitation der eigenen Bevölkerung, mit dem richtigen Hass gegen den feindlichen Staat ins Feld zu ziehen, taugt diese Schuldzuweisung bestens.

Die Untertanen sollen sich schließlich hinter "ihrer" Herrschaft versammeln und sie gegen eine böse fremde Aggression verteidigen, unter Einsatz ihres Lebens. Für das Bild des Aggressors ist dann keine "Enthüllung" über den verdorbenen Nationalcharakter der Gegenseite zu blöd.

Das kulminiert in der Schilderung der jeweiligen Potentaten als "machthungrig", "autoritär", "brutal", "rücksichtslos" oder "gerissen". An Wladimir Putin klebt zusätzlich seine Vergangenheit im russischen Geheimdienst. Der KGB ist ja bekanntlich grausam und hinterhältig – im Gegensatz zum Bundesnachrichtendienst, der CIA oder dem MI6 vom guten James Bond! Und dann zeigt sich der Russe auch noch immer wieder mit nacktem Oberkörper oder im Judo-Anzug!

Warum hat dieser Bösewicht dann damals Georgien nicht eingenommen, sondern sich nur mit dem Zurückschlagen begnügt? Wie "aggressiv" ist das denn? Und wie passt das zum Plan, den Westen nicht dauerhaft an seine Grenzen zu lassen? Georgien blieb schließlich bestehen, als besagter "Brückenkopf" der USA.

In der Lesart des Westens hingegen zeigte sich Russland von seiner immer aggressiveren Seite – weil es die Vereinnahmung zweier nach Moskau ausgerichteter Republiken durch Georgien verhinderte. Es war für die Nato auch ein aufschlussreicher Test, wie weit sich Russland Angriffe gefallen lassen würde. Moskaus Antwort: Wenn Grenzen überschritten werden, handeln wir. Aber an eine Rückeroberung von Staaten, die einst zu unseren Bündnispartnern gehörten, denken wir nicht.