Was ist eigentlich ein "Aggressor"?

Seite 2: Die Staaten der "ersten Welt" verteidigen ihren Erfolg mit aller Gewalt

Die "Ängste" müsste man korrekter als eine sehr konkrete und berechtigte Furcht bezeichnen: Furcht vor dem Verlust von angehäuftem Reichtum und ihn flankierender Macht. Je mehr Geschäfte das Kapital einer Nation auf der Erde laufen hat, desto wichtiger ist es augenscheinlich, dass der heimatliche Staat nicht nur ökonomisch ein Riese ist, sondern auch militärisch.

Nicht zufällig verfügen die wirtschaftlich erfolgreichsten Länder über die stärkste Rüstung. Es gibt nun mal eine Menge zu erobern und zu verteidigen gegen die vielen Konkurrenten und gegen die noch zahlreicheren Verlierernationen auf der Welt. Wer für seine Unternehmen in aller Welt sichere Geschäftsbedingungen schaffen will, braucht eine respektable Gewalt.

Mit der kann man sich gegen Staaten behaupten, die es auf vergleichbare Erfolge abgesehen haben. Die Staaten, die beim Welthandel ins Hintertreffen geraten, müssen sich ihre Niederlagen gefallen lassen. Und sie müssen sich den Regeln beugen, die die führenden Nationen ihnen diktieren – bei den Handelsbedingungen und der Frage, welchem Lager sie angehören.

Mit einschlägigen Handelsabkommen, Partnerschaften und Bündnissen versuchen die mächtigeren Nationen, gegen die anderen starken Staaten exklusive Vorteile zu erzielen.

Zu Kriegen, "Stellvertreter"-Kriegen und Scharmützeln, die in Drittstaaten im Auftrag tonangebender Nationen ausgefochten werden, kommt es daher immer dann, wenn die friedliche Androhung von schmerzhaften wirtschaftlichen Sanktionen oder von militärischer Intervention nicht zum gewünschten Ergebnis führt. Sprich, wenn die "Diplomatie versagt". An diesem Punkt fast angelangt ist aktuell der Konflikt zwischen USA und EU einerseits und Russland andererseits.

Schon redet US-Präsident Joe Biden von einem drohenden "Weltkrieg". Aber er soll auch mit seinem Kontrahenten öfter gesprochen haben. Und solange das noch geschieht, wird bekanntlich nicht geschossen! Was er ihm wohl gesagt hat?

Vielleicht in etwa das: "Du, Wladimir, fast alle Deiner ehemaligen Verbündeten sind jetzt bei uns und bis auf die Zähne bewaffnet. Georgien ist so gut wie dabei, Ukraine bald auch. Aber den seit Jahren betriebenen Aufmarsch machen wir nur, weil wir Amerikaner uns irgendwie von Euch bedroht fühlen. Wenn Du vielleicht einfach Deine Atommacht auflöst und Russland sich brav einreiht unter unsere Weltmacht-Regie, brauchen wir auch unsere Waffen nicht einzusetzen. Ohne Deine Erstschlag-Raketen fühlen wir uns dann kaum noch bedroht. Deal?"

Ist das jetzt "aggressiv" oder "defensiv"? Aus Sicht des Westens eindeutig letzteres. Schließlich verteidigt man sich doch gegen einen Staat, der die "Sicherheitsordnung" in Europa angreift. Der "Aggressor" sitzt also klar im Osten. Es hilft ein Blick auf die viel beschworene Sicherheitsordnung, um das zu überprüfen.

Die begann nach dem Ende der Sowjetunion 1990. Der Feind im Ostblock hatte sich aufgelöst, der Westen triumphierte. Der Kapitalismus zog in die seit dem Zweiten Weltkrieg ihm entzogenen Länder ein, auch Russland wechselte ins marktwirtschaftliche System.

Die USA und Europa hießen nach und nach die meisten ehemaligen Bündnispartner der Sowjetunion bei sich willkommen – in der EU, in der NATO. Damit verbunden waren der drastische Rückgang bis Abbruch der wirtschaftlichen Beziehungen zu Moskau und die Einbindung in die militärische Struktur des Westens.

Polen, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Tschechoslowakei – alles vormalige Mitglieder des "Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe" (Comecon), dem Pendant zur "Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft", und des Nato-Gegenbündnisses Warschauer Pakt.

"Sicherheitsarchitektur" West: Ostblock weg, Russland schwach

Das schwächte natürlich erheblich die Machtposition des russischen Nachfolgestaats. Für einen Präsidenten Boris Jelzin zunächst aber insofern kein Problem, als er sich von der Einführung kapitalistischer Verhältnisse in seinem Land den Reichtum versprach, den die Sowjetunion nicht hinbekommen hatte.

Der stellte sich allerdings im gewünschten Maß nicht ein. Vielmehr hielten viele Betriebe die Konkurrenz mit den Ausbeutungsprofis des Westens nicht aus und mussten schließen. Auch die Hoffnung, mit Hilfe westlicher Investitionen die russische Ökonomie wettbewerbsfähig zu machen, erfüllte sich nicht. Die Wirtschaft fußt bis heute im Wesentlichen auf dem Export von Rohstoffen wie Erdöl und Erdgas.

Schlimmer noch: In den Neunzigerjahren verlor Russland immer mehr an Boden in der Weltpolitik. Die führende Weltmacht überging russische Interessen, demonstrierte unter anderem beim Golfkrieg gegen den Irak und beim Eingreifen der Nato im jugoslawischen Bürgerkrieg, dass sie keine Rücksicht auf die einstige andere Weltmacht nehmen würde. Und die amerikanischen Raketen nebst weiterer Rüstung rückten nun noch viel näher an die russische Grenze, als sie es ohnehin schon zuvor in Deutschland gewesen waren.

Denn das war offenbar für den Westen klar: Eine gewaltige Bedrohung musste aufrechterhalten werden. Schließlich unterhielt Russland weiter sein atomares Raketen-Arsenal und sein zahlenmäßig großes Militär. Und wer als früher so mächtiger Staat dermaßen zurechtgestutzt würde, wie es nun den Russen geschah, könnte auf die Idee kommen, das mit Gewalt zu korrigieren.

Das leuchtete jedem gestandenen hiesigen Politiker ein – sie würden sich das in dieser Situation auch überlegen... Also "musste" der Westen sich gegen einen etwaigen Befreiungsschlag der Gegenseite entsprechend rüsten.

Neuer Präsident will Niedergang stoppen – ein klar "aggressiver" Akt!

Immerhin, von einem "Aggressor" Russland war da noch nicht die Rede. Der Argwohn indes blieb – und wurde stärker, als mit Wladimir Putin ein Präsident in Moskau an die Macht kam, der den Niedergang Russlands zu bremsen gedachte. Dabei streckte der Neue seine Hand Richtung Europa aus, wie er bei seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag 2001 zeigte: "Ohne eine moderne, dauerhafte und standfeste internationale Sicherheitsarchitektur schaffen wir auf diesem Kontinent nie ein Vertrauensklima und ohne dieses Vertrauensklima ist kein einheitliches Großeuropa möglich."

Auch Russland bemühte die "Sicherheitsarchitektur" - allerdings für ein "einheitliches Großeuropa". Damit meinte Putin die EU und Russland, in enger Zusammenarbeit. Wovon gerade Europa profitieren würde, denn:

Niemand bezweifelt den großen Wert der Beziehungen Europas zu den Vereinigten Staaten. Aber ich bin der Meinung, dass Europa seinen Ruf als mächtiger und selbstständiger Mittelpunkt der Weltpolitik langfristig nur festigen wird, wenn es seine eigenen Möglichkeiten mit den russischen menschlichen, territorialen und Naturressourcen sowie mit den Wirtschafts-, Kultur- und Verteidigungspotenzialen Russlands vereinigen wird.

Was für ein Angebot! Gemeinsam mit uns kann Europa auf Augenhöhe mit den USA gelangen! Verlockend bis heute, bedenkt man die selbstkritischen Töne der EU, zu sehr von den US-Amerikanern abhängig zu sein.

Dennoch verfing Putins Offerte nicht. An der Seite der überragenden Weltmacht USA entfaltet die Europäische Union doch eine ganz andere Wucht als mit dem zwar militärischen Riesen, aber ökonomischen Zwerg Russland. Außerdem scharte sich Europa just zu diesem Zeitpunkt hinter die USA bei deren "War On Terror" gegen Afghanistan und den Irak, wenn auch mit Zähneknirschen und teilweiser Absenz (Deutschland beteiligte sich nicht am Krieg gegen Bagdad. Man sei nicht convinced, wie sich Außenminister Fischer ausdrückte. Die Bundesregierung war schlicht nicht überzeugt, dass eine Teilnahme als Hilfstruppe der Amerikaner einen irgendwie gearteten Vorteil brächte).