Was ist eigentlich ein "Aggressor"?

Seite 4: Russland will den Westen in der Ukraine stoppen

Diese "Grenzen" wurden dann einige Jahre später in der Ukraine überschritten. Die mit Russland kooperierende Regierung wurde 2014 mit einem Staatsstreich abgesetzt. Sie hatte das in Aussicht stehende Assoziierungsabkommen mit der EU vorerst nicht unterzeichnen wollen.

Der Weg fort von Moskau hin zur Europäischen Union war damit erst einmal verschoben worden. Was zu Protesten, dem berühmten "Euromaidan" und der Übernahme der Regierung durch europafreundliche Politiker führte. Und zu zwei "Aggressionen": Im Osten der Ukraine bildeten sich in den Regionen Donezk und Luhansk zwei abtrünnige Republiken, es begann ein Bürgerkrieg. Auf der Seite der Sezessionisten: Russland, das zeitgleich die Krim-Halbinsel annektierte, zweite Aggression.

Der westliche Aufschrei über diese Missachtung der "heiligen" Grenzen in Europa hallt bis heute nach. Dabei schmeißen EU und NATO in ihrem Glashaus nur so mit Steinen um sich: Sie waren es schließlich, die auf dem Balkan in den Neunzigerjahren neue Grenzen gezogen hatten, weil ihnen die alten nicht mehr passten.

Die Serben wurden niedergebombt, um gegen sie die Abspaltung Kroatiens, Bosniens und des Kosovo durchzusetzen. Belgrad nützte dabei übrigens die Partnerschaft mit Russland nichts. Die überging der Westen und stellte Moskau vor die knallharte Frage, entweder den Serben beizuspringen, also sich mit der Nato anzulegen, oder den Mund zu halten. Russland wählte den Mittelweg – ein Veto im UN-Sicherheitsrat; im Wissen, dass dies den Westen nicht stoppen würde.

Wohlgemerkt, auf der Krim marschierte Russland tatsächlich ein. Und wie "berechtigt" das gewesen sein mag vor dem Hintergrund historischer Zugehörigkeiten der Halbinsel zum Zarenreich, zur Sowjetunion und zu Russland (im Rahmen der "Gemeinschaft Unabhängiger Staaten" (GUS)) ist kein objektiver Tatbestand – sondern verleiht dem Anspruch eines Staates auf ein Territorium die höhere geschichtliche Weihe.

Mit einem solchen "Argument" "begründen" Nationen allzu gern ihr schlichtes Interesse, ihren Herrschaftsbereich zu vergrößern. Wenn das begehrte Gebiet irgendwann einmal zwischen Antike und Neuzeit dazugehörte, genügt das schon.

Im Falle der Krim holte sich überdies Russland ein Stück Land zurück, das mit dem Schwarzmeerhafen für die russische Flotte in Sewastopol eine bedeutende strategische Position besitzt. Nicht auszudenken für Moskau, wenn ein Nato-Mitglied Ukraine diesen Hafen besetzt und die russische Marine vor die Tür gesetzt hätte.

Damit hatte es sich dann mit der "Aggression". Die Ukraine wurde nicht angegriffen. Auch bestand Russland nicht darauf, Donezk und Luhansk von Kiew abzulösen oder gar zu annektieren. Vielmehr erklärte es sich im "Minsker Abkommen" damit einverstanden, sie als autonome Regionen in der Ukraine zu belassen.

Aus Sicht Kiews allerdings ein Unding, prorussischen Kräften einen Sonderstatus innerhalb einer Nation einzuräumen, die sich auf dem Weg zur EU und Nato befindet. Entsprechend wenig bis gar nicht wurde das Abkommen umgesetzt.

Neue Stufe im Konflikt um die Ukraine

Der Konflikt in der Ukraine hat nun eine neue Stufe erreicht: Russland verlangt "Sicherheitsgarantien". Präsident Putin bezeichnet die weitere Ausdehnung der Nato in Richtung Osten als "inakzeptabel". In einer Pressekonferenz erklärte er am 27. Januar unter anderem:

Platzieren wir Raketen an der Grenze der Vereinigten Staaten? Nein. Es sind doch die USA mit ihren Raketen, die zu unserem Haus gekommen sind. An der Türschwelle unseres Hauses stehen sie bereits (…) Wie würden die Amerikaner reagieren, wenn wir unsere Raketen an die Grenze zwischen Kanada und den USA oder an die Grenze zwischen Mexiko und den USA bringen und dort platzieren würden? Oder hatten Mexiko und die USA nie territoriale Probleme? Und wem gehörte Kalifornien zuvor? Und Texas? Habt Ihr das vergessen?

Vergessen haben die USA das vielleicht nicht, auch nicht den Beinahe-Krieg wegen sowjetischer Raketen auf Kuba – aber es interessiert sie nicht. Die Einkreisung Russlands soll weitergehen. Solche Vergleiche, wie Putin sie anstellt, ignoriert der Westen. Für ihn sieht die "Sicherheitsordnung" so aus: Russland muss sich den Aufmarsch auch in der Ukraine gefallen lassen.

Das zum Thema, dass da eine eherne Ordnung in Gefahr geriete, die bisher Europa den Frieden erhalten habe. Seit 1990 wurde diese Ordnung sehr dynamisch verstanden, vorsichtig formuliert: Der Westen definierte sie Zug um Zug stets neu, wenn mal wieder ein weiteres ehemaliges Mitglied des russischen Ostblocks in die Nato aufgenommen wurde.

Man kann es auch andersherum sehen: Der Westen hat die einstige "Sicherheitsordnung" nach der Auflösung der Sowjetunion ständig mit Füßen getreten. Vom einstigen windelweichen Versprechen, die Nato würde sich nach der Wiedervereinigung Deutschlands und der Auflösung der Sowjetunion natürlich nicht nach Osten ausdehnen, ist nichts übrig geblieben.

Eine "Sicherheitsgarantie", dass diese Ausdehnung aber nicht gegen Moskau gerichtet ist, wird kategorisch abgelehnt. Wie sollte das auch gehen? Russland stört die USA und in ihrem Schlepptau die EU. Das Land ist einfach militärisch zu mächtig und macht davon in seiner Weltpolitik Gebrauch, gegen die Interessen des Westens in zu vielen Fällen. In Moskau sitzt also ein Feind. Wofür da wohl die Waffen an seiner Grenze gedacht sind?

Wer da jetzt "verteidigt" und wer "angreift" ist insofern nicht die entscheidende Frage, übrigens auch nicht militärstrategisch. Denn wie soll der große Militärtheoretiker Clausewitz einmal gesagt haben: "Angriff ist die beste Verteidigung."

Welche unversöhnlichen staatlichen Interessen aufeinanderprallen, ist der Reihenfolge der kriegerischen Auseinandersetzungen nun einmal nicht zu entnehmen. "Berechtigt" sind sie auf jeden Fall aus der Perspektive aller beteiligten Herrschaften. Und ausgetragen werden die Gegensätze immer auf dem Rücken der teilnehmenden Völker. Die leider sich zuverlässig von der Rhetorik gegen "Aggressoren" aufstacheln lassen – anstatt sich zu überlegen, für welche ihnen fremde Interessen sie ihr Leben herzugeben haben.