Was ist heute noch soziale Marktwirtschaft?
Interview mit dem Sozialphilosophen Thomas Bedorf
Der Begriff der sozialen Marktwirtschaft ist bald ein Jahrhundert alt. Aber was ist heute noch soziale Marktwirtschaft in Zeiten der Dauerkrisen und dem Rückzug des Staates? Welches Verhältnis besteht zwischen Staat, Markt und Individuum? Telepolis führte darüber ein Gespräch mit dem Sozialphilosophen Thomas Bedorf von der FernUniversität in Hagen.
Herr Bedorf, in Ihrem aktuellen Buchbeitrag "Sozial, politisch, biopolitisch" stellen Sie die Frage: Was ist soziale Marktwirtschaft? Wie lautet ihre Antwort?
Thomas Bedorf: Zunächst habe ich mich das selbst gefragt und dann schnell festgestellt, dass heute niemandem mehr so wirklich klar ist, was der Begriff eigentlich zu bedeuten hat. In historischer Perspektive ist der Begriff der sozialen Marktwirtschaft zunächst als ein ordnungspolitischer und sozioökonomischer Terminus in den 1920/30er Jahre entstanden, um den Aufbau eines funktionalen geregelten gegen einen dysfunktionalen ungeregelten Markt zu bezeichnen.
Heute kommt er in der öffentlichen Diskussion als politisches Schlagwort oder als Beschwörungsformel vor. Der Begriff wurde zusehends seiner Begriffsgeschichte entledigt. Die soziale Marktwirtschaft ist - ähnlich wie der Neoliberalismus in der öffentlichen Diskussion - zu einem leeren Signifikanten geworden.
Was ging denn verloren?
Verloren ging das Bewusstsein dafür, dass das, was wir heute erleben, im Grunde die Verlängerung eines liberalen Projekts ist, für das die soziale Marktwirtschaft einst angetreten war. Das lässt sich an einem Beispiel verdeutlichen: Der Umbau des Gesundheitssystems etwa hin zu einem System der gesundheitlichen Prävention beruht auf einer sukzessiven Radikalisierung der Verantwortung.
Das System funktioniert heute so, dass der Einzelne zur Verantwortung gezogen, aber auch bestraft wird, wenn er bestimmte Vorkehrungen nicht trifft. Nur ist das eben nicht vollkommen neu, da die Betonung der individuellen Verantwortung für das eigene Schicksal bereits zum zentralen Antrieb der Idee der sozialen Marktwirtschaft seit ihren Gründungstagen gehörte.
Nur graduelle Unterschiedee zwischen zwischen sozialer Marktwirtschaft und dem Neoliberalismus
Sie sprechen auch vom "verborgenen Liberalismus der sozialen Marktwirtschaft"...
Thomas Bedorf: Ja, die soziale Marktwirtschaft war, sowohl zu Zeiten ihrer Erfindung durch die Freiburger Schule der Ordoliberalen als auch durch die spätere Begriffsprägung durch Müller-Arnack, dem Staatsekretär des Wirtschaftsministers Ludwig Erhard Mitte der 1960er Jahre, noch nie eine in sich moralische Veranstaltung. Eine gelenkte Wirtschaft, die die Ordoliberalen sowohl in den Politiken der britischen Labour-Partei und der Weimarer Republik als auch in der darauf folgenden nationalsozialistischen und stalinistischen Politik am Werk sahen, sollte durch eine Wettbewerbspolitik abgelöst werden.
Man kann das Einsetzen neoliberaler Entwicklung und das Zurückfahren des Staates zwar mit Beginn der Ölkrise ab Anfang der 1970er Jahre ansetzen. Es gibt nur eben eine Verwurzelung des Neoliberalismus, der zugleich mit unserem emphatischen Begriff der sozialen Marktwirtschaft verknüpft ist: Die Wurzel einer "Vermarktlichung" steckt bereits im ordoliberalen Denken selbst. Das Charakteristikum des ordoliberalen Denkens ist das der Eigenverantwortung. Richtig für jeden spürbar wurde der neoliberale Umbau in der BRD dann natürlich erst in den 1990er Jahren durch die rot-grüne Bundesregierung.
Gibt es denn dann heute noch einen Unterschied zwischen sozialer Marktwirtschaft und dem Neoliberalismus?
Thomas Bedorf: Ja, natürlich gibt es den. Aber man darf nicht glauben, dass die Unterschiede prinzipieller Natur sind, sie sind bloß graduell. Die Systemfunktionalität wird im Grunde ja nicht angetastet. Daher hat sich auch die ersehnte Rückkehr der Politik der letzten Jahre als zahnloser Tiger erwiesen. Zunächst wurde an die Selbstheilungskräfte des Marktes appelliert.
Als das niemanden mehr überzeugt hat, wurde an eine Selbststeuerung ökonomischer Akteure und damit auch an die Moral der Handelnden appelliert. Die Hintergrundnormen der sozialen Marktwirtschaft werden so nur zur Karikatur einer moralischen Kategorie. Die Moral der Systemrationalität bleibt äußerlich. Und so bleibt es eben bei Appellen.
Sie beziehen sich in ihren Arbeiten auch auf Ulrich Bröcklings These vom "unternehmerischen Selbst", durch den dem Einzelnen heute immer mehr Aufgaben zukommen. Entledigt sich der Staat seinen Aufgaben, weil er das Individuum ins Zentrum rückte?
Thomas Bedorf: Das ist der entscheidende Punkt: Einerseits erleben wir heute eine auf das Individuum bezogene Verantwortlichmachung durch die Strategien der Privatisierung von Risiken, andererseits wurde der Begriff der sozialen Marktwirtschaft gerade in dieser Perspektive aber immer wieder als moralisches Bollwerk - gerade von wertkonservativen politischen Akteuren - gegen eine zu große Individualisierung genutzt, um den Individualismus auch zu begrenzen und zu kontrollieren.
Und die Sozialpolitik zeichnet sich heute vor allem dadurch aus, dass sie nicht mehr als dirigistische ausgleichende Verteilung des Reichtums konzipiert ist, sondern selbst privatisiert wurde, indem sie die Gesellschaft wie eine Ansammlung von Kleinunternehmern betrachtet.
Dem Begriff des "unternehmerischen Selbst" - der ja von Foucault stammt - liegt ja die Unterstellung zugrunde, dass ein Hartz IV-Empfänger beispielsweise nur hinreichend aktiv sein, sich ausreichend weiterbilden und selbstvermarkten müsse, um seine Arbeitskraft auch zu Geld machen zu können. Das ist in vielen Fällen aus ganz verschiedenen Gründen ein empirischer Trugschluss. Zugleich ist es eine Ideologie, die die Verantwortung des Staates auf das Individuum überträgt und damit den Staat von seinen Aufgaben entlastet.
"Markenkern" der Parteien; was für ein Irsinn!
Dieser Ökonomisierung des Individuums steht auch eine neue Macht des Einzelnen gegenüber. Über Portale wie beispielsweise LobbyPlag werden heute Strukturen der 15.000 in Brüssel sitzenden Lobbyisten enttarnt, indem die Bürger selbst aktiv werden. Inwiefern hat der radikalisierte Individualismus heute auch eine demokratieerzeugende Funktion?
Thomas Bedorf: Zunächst wäre ich einmal skeptisch, einen neuen befreiten Individualismus allein aufgrund der neuen technischen Möglichkeiten ausrufen zu wollen. Aber ich stimme ihnen zu, dass es durch die Macht des Einzelnen durchaus Potenziale gibt, die eine Restrukturierung der Macht, wie Foucault es nennt, ermöglichen.
Es verschieben sich die Handlungsparameter und eröffnen sich so auch neue Handlungsoptionen, beispielsweise im direkten Erzeugen von Öffentlichkeit, für die man keine großen Apparate, sondern kollektive Kommunikation braucht. Da man aber für die nicht mehr ganz so neuen Medien genauso gut eine negative Rechnung aufmachen kann, sollte man weniger die Demokratisierung der Macht als eine Verschiebung ihrer Möglichkeiten erwarten.
Diese Verschiebung der Möglichkeiten bedeutet auch ein Ende der großen Ideologien. Ist das Ende großer Ideologien ihrer Meinung nach ein Fortschritt oder Rückschritt?
Thomas Bedorf: Sowohl als auch. Zum einen haben wir heute, das aber schon seit der Weimarer Zeit, eine Vielzahl der Stimmen, wobei sich der Individualismus in der Politik erst Mitte 1970er Jahre im Zuge des postideologischen Zeitalters durchsetzte. Dabei muss man sicher die jeweils herrschenden politisch-kulturellen Traditionen der jeweils betrachteten Staaten berücksichtigen, die sich in der Tendenz zur Fragmentierung sehr weit unterscheiden können.
Andererseits sehen sich Parteien heute aber zunehmend selbst als Marktteilnehmer. Ihre Funktionäre sprechen vom "Markenkern" der Parteien; was für ein Irsinn! Parteien sind ihrer Genese und ihrer Aufgabe nach nicht Nike oder Coca Cola. Und doch ist diese Redeweise sprechend, weil es ausdrückt, was heute tatsächlich geschieht, nämlich dass Parteien sich einem Kundenverhalten immer nur anpassen. Parteien sollen Politik machen und widerstreitende Gestaltungsmöglichkeiten formulieren.
Der Staat kommt nur immer mehr an seine Grenzen, wenn es beispielsweise um europa- oder gar internationale Regelungen zur Steuerflucht geht. Kann man soziale Marktwirtschaft heute überhaupt noch nationalstaatlich denken?
Thomas Bedorf: Für ökonomische Transaktionen ist völlig klar, dass Nationalität oder Kontinentalität keine alleinige Rolle mehr spielen kann. Daher wird ja auch immer wieder nach trans- und internationalen Regelungen gesucht. Allerdings hat auch das seine Grenzen.
Daher müssen wir einsehen, dass die Idee einer umfassenden Weltgemeinschaft wie sie heute von liberalen Universalisten - sagen wir kantischer Orientierung, zu denen ich mich nicht zähle - vertreten wird, eine Fiktion bleibt. Diese Idee müsste auf verschiedenen Ebenen verwirklicht werden: von den Strafgerichtshöfen bis zu den Finanzmarktregelungen. Dafür sind die jeweiligen Interessen heute aber einfach zu verschieden.
Wie müsste Politik heute gestaltet werden, um neue Verteilungsgerechtigkeiten wieder herzustellen, damit der Begriff ‚soziale Marktwirtschaft’ nicht nur ein leeres Wort ist, sondern auch soziale Marktwirtschaft zur Folge hat?
Thomas Bedorf: Ein Philosoph gibt keine Rezepte, er denkt über Begriffe nach, mit denen wir unsere Wirklichkeit zu erfassen versuchen. Und so habe auch ich kein Rezept anzubieten. Nach dem, was wir diskutiert haben, schiene es mir schon von Vorteil zu sein, wenn wir von der "sozialen Marktwirtschaft" - eingedenk ihrer Geschichte - künftig nicht zu viel erwarten, wenn wir denn von ihr je etwas haben erwarten dürfen.
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