Was ist los in Kuba?
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Die jüngsten Proteste in Kuba sind ein Lehrbuchbeispiel für Anomie
Der französische Soziologe Emile Durkheim beschreibt die Anomie als den Zerfall zuvor akzeptierter Normen und Werte, der eine Periode drastischer und schneller Veränderungen in den sozialen, wirtschaftlichen oder politischen Strukturen der Gesellschaft charakterisiert.
Soziale Gruppen, die die Hauptlast solcher Dynamiken tragen, können sich von der Gesellschaft abgekoppelt fühlen, als ob sie nicht dazugehörten. Anomie kann zu Ziel- und Hoffnungslosigkeit führen und Devianz und Kriminalität fördern.
Die jüngsten anomischen Entwicklungen in Kuba sind Symptome eines schwierigen Übergangs zu einer neuen, immer noch sozialistischen Ordnung, die in die 1990er-Jahre zurückführt. In den letzten zweieinhalb Jahren, seit wir eine neue Regierung haben, wurde die Krise des Wandels bestimmt durch
- Nahrungsmittelknappheit;
- widersprüchliche wirtschaftliche Maßnahmen;
- steigende Lebenshaltungskosten;
- die jüngste und akute Zuspitzung der Pandemie sowie erneuten Restriktionen mit dem Ziel ihrer Bekämpfung;
- enorme Staatsausgaben für das Gesundheitswesen und deren Konsequenzen für andere soziale Dienstleistungen;
- Stromausfälle mitten im Sommer;
- den Rückgang des Tourismus, der die Beschäftigungs- und Einkommenslage verschärft.
Zu alledem kommt die kumulative Wirkung von Donald Trumps Verschärfung des US-Embargos gegen Kuba, nach einer relativen Lockerung unter der Präsidentschaft von Barack Obama.
Die meisten der friedlichen Demonstranten in den Straßen von San Antonio de los Baños, wo die Proteste 30 Kilometer südlich von Havanna begannen, brachten ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck. Aber sie versuchten nicht, Kubas politisches System zu stürzen oder die Agenda von Dissidentengruppen zu unterstützen.
Tatsächlich kamen diese Proteste angesichts der Umstände nur langsam in Gang. Bisher war die kubanische Regierung stets in der Lage gewesen, die Krise zu managen und bis zu einem gewissen Grad den gesamtgesellschaftlichen Konsens aufrechtzuerhalten.
Es wurden aber auch Fehler gemacht. Sie hat etwa Stromausfälle geplant, ohne vorher die Reparaturen an den Kraftwerken zu erklären oder eine Frist für die Lösung des Problems zu nennen. Die jüngsten Stromausfälle mitten im brennend heißen kubanischen Sommer waren dann der Funken, der das Feuer entfacht hat.
Zweifellos waren oppositionelle Gruppen, die bislang nicht in der Lage gewesen sind, große Proteste zu organisieren, bereit, aus diesen Ausbrüchen spontanen Protests Kapital zu schlagen.
Sie schafften es, die Demonstrationen in gewalttätige Bahnen zu lenken und bei den Protesten einen regierungsfeindlichen Diskurs zu befördern. Dieses chaotische Ambiente begünstigte Akte des Vandalismus gegen Ladenlokale und sogar gegen die Polizei.
Präsident heißt nicht mehr Castro
Kubas neue Regierung, an deren Spitze ein Präsident steht, der nicht Castro heißt, hat Reformen vorgeschlagen, wie es sie seit 1960 nicht mehr gegeben hat. Es wurde eine neue Verfassung verabschiedet und es wurden Schritte in Richtung einer gemischten Wirtschaft mit Märkten und einem privaten Bereich unternommen.
Sie fördert die Dezentralisierung, die den lokalen Regierungen die Macht überträgt und den Provinzen mehr Autonomie gibt, um so die bislang vorherrschende massive Zentralisierung abzubauen.
Präsident Miguel Díaz-Canel wirbt auch für einen anderen Regierungsstil. Minister, die jünger als 60 Jahre sind, erklären im Fernsehen Probleme und beantworten Fragen. Die Kubaner können sie benennen, ihnen zuhören, sie beurteilen, sie loben oder offen verspotten.
Seit den Anfängen der Regierung von Raúl Castro (2008-2018) ist der Internetzugang für alle Bürger zu relativ erschwinglichen Preisen ausgeweitet wurden. Anders als etwa in China kann sich jedes der sechs Millionen internetfähigen Mobiltelefone mit Google oder Facebook verbinden.
Eine solche Zeit hat es noch nicht gegeben, was die Freiheit betrifft, die Regierung über soziale Medien und sogar in den öffentlichen Medien zu kritisieren oder auf Informationen aus einer Vielzahl von Quellen zuzugreifen, einschließlich jener der Opposition. Und auch keine größere Reisefreiheit.
Die Gründung neuer politischer Parteien bleibt zwar verfassungswidrig, aber es gibt kein absolutes Verbot für nicht-staatliche Medien. Artikel 56 der Verfassung garantiert die Vereinigungsfreiheit und das Recht auf öffentliche Demonstrationen.
Warum macht die kubanische Regierung das US-Embargo für Proteste verantwortlich, die scheinbar lokal begründet sind?
Als Barack Obama im März 2016 Kuba besuchte, hatte er erklärt, die US-Politik gegenüber Kuba sei ineffektiv; und dass es ihm nicht darum gehe, sich in die inneren Angelegenheiten des Landes einzumischen. Er traf sich jedoch mit einigen Dissidenten, und zwar in der US-Botschaft selbst.
Einer von ihnen, so erfuhr ich, warf Obama vor, keine Ahnung von Kuba zu haben. Der Präsident fragte ihn: "Wie viele Unterstützer haben Sie? In wessen Namen sprechen Sie?" Diese Anekdote spiegelt, auf den Punkt gebracht, den paradoxen Zustand der kubanischen Opposition über die Jahre wider.
Kubanische Oppositionsgruppen haben immer die Rolle eines Waisenkindes auf der Suche nach Adoptiveltern eingenommen. Ihr bevorzugtes Selbstbild ist das von armen, hilflosen Kreaturen, die einem mächtigen Leviathan (dem kubanischen Regime) gegenüberstehen, der sie unterdrücken wird, bis, gleich der griechischen Tragödie, ein Gott ex machina sie vor Vergessen, Elend und Dunkelheit rettet.
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