Was ist los mit den Gelbwesten?

Foto: Christian Schmeiser

Ein Rückblick: Zu Besuch bei den Protesten in Paris zur Sturm- und Drangphase der Gilets jaunes

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Über die "Gilets jaunes" wird seit Monaten regelmäßig berichtet. Den französischen Gelbwesten, ihren Protestformen und ihren Anliegen sind die großen Medien (in Frankreich geleitet von den zehn reichsten Franzosen) in keiner Weise gewogen. Stattdessen werden sie seit Monaten mit einem Trommelfeuer an Negativmeldungen überzogen: Vom zentralen Gewaltvorwurf über Rechtsradikalismus bis zum Antisemitismus ist alles dabei. Beim ukrainischen Maidan-Aufstand vor fünf Jahren spricht man staatsoffiziell in fragwürdiger Weise von einer "Revolution der Würde", die Gelbwesten bekämen eine solche wohlklingende "Würdigung" niemals zugestanden.

Spontanbesuch bei Acte IV der "gilets jaunes"

Ich selbst habe mich zwei Mal spontan entschieden, an Protesten der "Gilets jaunes" in Paris teilzunehmen: Am 8.12.2018 (Acte 4, oft römisch IV geschrieben) und am 9.2.2019 (Acte 13, bzw. XIII). Meine dabei gewonnenen Live-Eindrücke weichen z.T. ganz erheblich von der hinlänglich bekannten "Negativ-Presse" zu den Gelbwesten ab.

Zu Besuch bei den Gelbwesten in Paris (5 Bilder)

Bild: Christian Schmeiser

Natürlich kann diese knappe Darstellung nur aus meinem eigenen individuellen Blickwinkel erfolgen - und ist damit notwendigerweise subjektiv und demzufolge angreifbar. Einen Artikel über eine Demonstration in der frühen "Sturm und Drang"-Phase der Gilets jaunes jetzt zum gegenwärtigen Zeitpunkt, an dem die Protestbewegung ihren Zenit überschritten hat, halte ich für sinnvoll, denn er ermöglicht in schlaglichtartigen Beobachtungen einen Blick auf die ursprüngliche und damit originäre Dynamik der Gelbwesten.

Die Gelbwesten erhoffen sich einen neuen Aufbruch und diese Hoffnungen konzentrieren sich auf den 16. März, an dem noch einmal groß mobilisiert werden soll, berichtete gestern Mediapart, das mit den Protesten sympathisiert. Die Teilnehmerzahlen am gestrigen "Acte 17" fielen gegenüber den Samstagen zuvor zurück.

Offiziell wurden vom Innenministerium 28 600 Teilnehmer für den 9. März in ganz Frankreich bekannt gegeben. Die Woche zuvor waren es laut Ministerium 39.000. Wie immer gibt es dazu weitaus höhere Schätzungen vom Syndicat France Police - Policiers en colère. Dort beläuft sich die Schätzung auf 160.000 gegenüber 200.000 in der Woche zuvor. Bildmaterial auf La Plume Libre unterstützt die Ansicht, dass in einigen Städten nach wie vor viele Gelbwesten auf die Straße gehen. Einf. d. Red.

Weil ich es damals - 2016 - versäumt hatte, die "nuit debout"-Szene in Frankreich aufzusuchen (siehe "Nuit debout"-Proteste, eine neue Opposition?), habe ich unter dem Eindruck der Pressemeldungen über schwerste Zusammenstöße zwischen der noch ganz neuen Gilets jaunes-Bewegung und der französischen Polizei am 1.12.2018 (Acte III) spontan beschlossen, mit einem frühen Zug am 8. Dezember (Acte IV) nach Paris zu fahren und die Gelbwesten vor Ort zu besuchen.

Der Zufall wollte es, dass ich nach nur wenigen Minuten Fußweg nach meiner Ankunft am Gare de l'Est in einen Gelbwesten-Protestzug geriet, der seinen Anfang vermutlich am Place de la République genommen hatte. Was ich als einfacher Zeitzeuge gesehen und erlebt habe, werde ich im Folgenden schildern.

Ersichtlich war es eine ganz große Beteiligung an dem sich stetig vergrößernden Demonstrationszug aus allen Altersgruppen und eine breite Unterstützung aus der Bevölkerung, alles im Sinne einer hochexplosiven Dynamik, die ich nur in dürre Worte fassen kann. Der Begriff "vorrevolutionäre Stimmung" umschreibt am Treffendsten, was mir bei Acte 4 zu erleben vergönnt war.

Diese "Stimmung" ließ sich zunächst an den permanenten Sympathiebekundungen der Pariser Bevölkerung ausmachen: Freundliche Zurufe von den Balkonen und aus den vorbeifahrenden Autos, aufmunterndes Zuwinken vorbeilaufender Passanten - umgehend beantwortet durch die Protestzug-Teilnehmer.

Ein Feuerwehrauto ragt zur Hälfte aus der Einfahrt in Richtung Straße, um deutlich zu machen, dass man sich an dem "Generalstreik" beteiligt. Das gelegentliche Auftauchen von kleineren Polizeieinheiten wird von den Gilets jaunes regelmäßig mit Buhrufen beantwortet, denn die schweren Zusammenstöße bei Acte 3 liegen erst eine Woche zurück.

Am Place Diaghilev kommt der Protestzug zunächst nicht weiter, Polizeieinheiten versperren drei verschiedene Straßenzüge. Umgehend schützen sich Protestteilnehmer gegen einen möglichen "gaz lacrymogène"(Tränengas)-Angriff mit Spezialbrille und Gasmaske. Der Protestzug schwillt erneut an und wendet sich jetzt in Richtung Boulevard Montmartre.

Auffällig ist nicht nur die Teilnahme vieler älterer Franzosen, von denen man getrost annehmen darf, dass sie üblicherweise nicht auf Demonstrationszügen zu finden sind, auffällig ist auch der hohe Anteil an Frauen, die mit einer mir so noch nicht untergekommenen "Energetik" gegen die von Macron am 13. Juli 2018 erlassenen Steuern demonstrieren. Laute "Vive la révolution!"-Rufe junger Französinnen sind für mich noch ungewohnt.

Vergleiche hinken natürlich: Aber die Diskrepanz zwischen einem bundesdeutschen Ostermarsch und diesem von Energie und echter Empörung berstenden Gilets jaunes-Protestzug lässt sich durchaus vergleichen mit der "Distanz" zwischen einem Mary Roos-Schlagerabend und einem frühen Buzzcocks-Punkkonzert - es liegen einfach Lichtjahre dazwischen.

Ergänzend ist zu bemerken, dass ich keine rechten Hooligans und keinen Vandalismus an diesem 8. Dezember zu sehen bekomme, sondern eine sehr große Anzahl empörter französischer Bürger, die mit einfallsreichen und witzigen Protestformen darauf aufmerksam machen, dass sie wegen der "neoliberalen Reformen" von Macron und seinen Vorgängern nicht mehr ihren Alltag bewältigen können, weil das Geld ganz einfach nicht mehr bis zum Monatsende reicht.

Einfallsreicher Protest

Neu und unerwartet ist für mich, dass sich Gelbwesten als Gallier verkleiden und damit den Mythos von dem kleinen gallischen Dorf, das bis heute der römischen Besatzungsmacht widersteht, in die politische Auseinandersetzung einbeziehen. Der Protestzug kommt nun auf dem Boulevard Montmartre zum Stehen, die französische Polizei hat schweres Gerät aufgefahren.

Direkt vor Wasserwerfer und Polizeikette knien nun junge Gelbwesten mit hinter dem Kopf verschränkten Händen. Mit dieser "Stressposition" demonstrieren sie gegen die fragwürdige Entscheidung der französischen Polizei, streikende Schüler über einen längeren Zeitraum auf dem Schulhof in dieser Weise knien zu lassen.

Unmittelbar danach beginnt ein militärisch präzis geplanter und durchorganisierter Großeinsatz der französischen Polizei. Vor dem Wasserwerfer und dem Tränengas flüchte ich mit vielen anderen in eine Seitenstraße. Eine lange Kette von Polizei-Einsatzfahrzeugen rast an mir vorbei Richtung Boulevard Montmartre, alles wirkt generalstabsmäßig geplant. In einer weiteren Seitenstraße verfolgen schwer bewaffnete französische Polizisten flüchtige Gelbwesten.

Kurz danach taucht - für mich überraschend - in einer schmalen Gasse erneut eine Gruppe französischer Polizisten auf, ihr Anführer bedeutet mir per Schlagstock, wieder zurück auf den Boulevard zu gehen - in die Richtung eines möglichen Kessels. Nach einem kurzen Wortwechsel, in dem ich mich als "tourist allemand" vorstelle, senkt sich der Schlagstock, der "Zenturio" lässt mich passieren.

Einsatz der Eurogendfor

Über die Rue du Faubourg Montmartre kehre ich später auf den Boulevard Montmartre zurück, um mir den Fortgang der Polizeiaktion anzuschauen - gemeinsam mit vielen Passanten. Auf ihrem Rückzug haben die Gilets jaunes offenbar Barrikaden gebildet, die jetzt von der Polizei beseitigt werden.

Auf dem Boulevard sind jetzt endlos Einsatzfahrzeuge, Polizeieinheiten - und einige mattblau lackierte gepanzerte Fahrzeuge, deren Hoheitszeichen ich nicht erkennen kann, zu sehen. Am 8. Dezember sollen auch Einheiten der Eurogendfor (European Gendarmerie Force) zum Einsatz gekommen sein, die seit 2006 als militärische Einheit - von den Konzernmedien nicht weiter erwähnt - u.a. zur Aufstandsbekämpfung verwendet wird.

Hier liegt offenbar eine juristische Grauzone vor: Proteste und Demonstrationszüge französischer Bürger, die nach zahlreichen "neoliberalen Reformen" ihren Alltag finanziell nicht mehr bewältigen können, werden als "Aufstände" interpretiert, was dann den Einsatz dieser in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannten Spezialeinheit "legitimiert". Bezeichnenderweise ist der mutmaßliche Einsatz der Eurogendfor am 8. Dezember wenig später auf Wikipedia "verschwunden".

"A nous la démocratie": Die Demokratie gehört uns

Auf dem Rückweg zum Place de la Republique entdecke ich auf dem Asphalt das Grafitti "à nous la démocratie" (übersetzt: "die Demokratie gehört uns"). Die Gelbwesten gehen vielerorts für ein "Référendum d'Initiative Citoyenne" (RIC) auf die Straße und fordern damit eine direkte Demokratie - die repräsentative Demokratie, die die Machtverhältnisse im Sinne einer neoliberalen Oligarchie gestaltet, lehnen sie ab.

Davon ist in den Konzernmedien ebenfalls nichts zu lesen. Der Place de la République ist zwar von einer Polizeikette abgesperrt, trotzdem werde ich durchgelassen und kann mir noch am frühen Abend dieses Gilets jaunes - Volksfest anschauen, das offenbar an die "nuit debout" - Tradition anknüpft. Gelbe Transparente mit der Aufschrift "vivre oui - survivre non" (leben ja - überleben nein) finden sich neben Plakaten gegen die drohende Klimakatastrophe.

Was mir hier auch wieder auffällt, ist eine Leichtigkeit im Umgang, sind Formen des menschlichen Miteinanders, die mir so auf Demonstrationen bisher nicht vertraut waren. Offenbar verzichten die Gilets jaunes weitgehend auf "Anführer", an deren Stelle tritt ein kollektives "Wir", das sich auf dem Place de la République unmittelbar erfahren lässt.

Zu Besuch bei den Gelbwesten in Paris (8 Bilder)

Bild: Christian Schmeiser

Ich schließe mich auf dem überfüllten Platz einer ziemlich witzigen Blaskapelle an, die südamerikanische Revolutionslieder spielt und für die immer wieder eine Gasse gebildet werden muss, damit sie auf dem riesigen Place de la République ihre Kreise ziehen kann. Irgendwie erinnert mich das ganze Szenario an einen frühen Jacques Tati-Film.

Meine abendlichen Eindrücke hinsichtlich Witz, Urbanität, Lebendigkeit und Subversion in Verbindung mit einer ungeahnten schwebenden Leichtigkeit sind in diesem Gilets jaunes-Clip ziemlich gut eingefangen. Durch meine sofortige Flucht vom Boulevard Montmartre habe ich keine Polizeigewalt gegen die Gilets jaunes mitbekommen. Albrecht Müller hat sich auf den Nachdenkseiten dazu geäußert.

Es werden ausführliche Informationen über die vielen durch Polizeigewalt (Schwer-)Verletzten ins Internet gestellt. Besonders umstritten sind die Plastik-Stahl-Geschosse aus der in der Schweiz hergestellten LBD 40, deren Einsatz in mehreren Fällen zum Verlust eines Auges geführt hat (siehe Polizeigewalt gegen Proteste der Gelbwesten: "Reihenweise Verstümmelungen").

Bekannt wurde die Fälle von Fiorina Lignier und Jérôme Rodriguez, die beide ein Auge durch Polizeigeschosse verloren haben. Gegen den Einsatz der LBD 40 demonstrieren die Gelbwesten regelmäßig. Selbstredend ist die Polizeigewalt gegen die Gilets jaunes in den Mainstreammedien ein untergeordnetes, deutlich vernachlässigtes Thema.

Ein von unbeugsamen Galliern bevölkertes Dorf

Mein zweiter Besuch bei den "gilets jaunes" am 9.2.2019 (Acte XIII) soll hier nur im Hinblick auf neue Eindrücke ganz knapp skizziert werden. Zunächst bin ich ebenfalls wieder Galliern begegnet, aber auch der Marianne als nationaler Ikone. Dazu eine Anmerkung: Der Narrativ des kleinen, von unbeugsamen Galliern bevölkerten Dorfs gegen den König von Versailles ist unmittelbar ansprechend, erweckt bei Außenstehenden durchaus Sympathien für die Gelbwesten - und ist nirgendwo in den "Konzernmedien" präsent.

Erinnert sei hier an dieser Stelle daran, dass Asterix und seine Freunde im Kontext der Auseinandersetzungen zwischen dem Frankreich de Gaulles und den Hegemonialansprüchen des damals noch jungen US-Imperiums in den späten 1950ern entstanden sind - das Auftauchen von "unbeugsamen Galliern" bei den Gelbwesten macht also durchaus Sinn (wie wär's mit Gelbwesten im nächsten Asterix-Heft?).

Agents provocateurs

Bei dem großen Demonstrationszug am 9. Februar (Acte 13) ab dem Place de l'Étoile kann ich zum ersten Mal auch eine Kleingruppe junger schwarz-vermummter Männer beobachten, die gezielt Zerstörungen anrichten. Mir erscheint diese Gruppe nicht als ein Club chaotischer Randalierer, sondern - ganz im Gegenteil - wie eine geordnet vorgehende paramilitärische Struktur, die gezielt Schaufenster einschlägt und Bankautomaten zertrümmert. Die große Anzahl der friedlichen Demonstranten buht diese "agents provocateurs" bei ihrer "geschäftigen Tätigkeit" aus, schreitet aber nicht ein.

Bezeichnenderweise "produzieren" die Schwarzvermummten genau die Bilder, die ständig im "Gelbwesten-Gewalt-Diskurs" der Konzernmedien auftauchen. Liegt hier eine verdeckte "Strategie der Spannung" vor, um die Gelbwesten zu diskreditieren ?

Spezialeinheiten

Das Auftauchen von Spezialeinheiten veranlasst mich schließlich, den Demonstrationszug am späten Nachmittag zu verlassen. Zu erkennen sind besagte Spezialeinheiten an ihren roten Armbinden, fehlenden Hoheitsabzeichen, dem Fehlen einer gepanzerten Uniformierung und einfachen Motorrad-Schutzhelmen. Berüchtigt sind sie bei ihrer Unterstützung der französischen Polizei für exzessive Gewaltanwendung.

Wie sie auf erneute Provokationen der schwarzvermummten agents provocateurs am 9. Februar (Acte XIII) reagiert haben, lässt sich auf diesem Video (ab 3:45:00 ) "bewundern".

Klärungsbedarf

Schlussendlich möchte ich im Anschluss an meine Augenzeugenberichte darauf verweisen, dass noch viel Klärungsbedarf hinsichtlich des zeitgeschichtlichen Kontexts besteht, in den die seit November andauernden Proteste der Gelbwesten gehören. So lehnt beispielsweise Michael Chossudovsky (Centre for Research on Globalization) die bekannte Position in den konventionellen Medien ab, derzufolge sich der Protest der Gelbwesten an einer ökologisch inspirierten Mineralölsteuer der Macron-Regierung entzündet habe.

Seinen Darlegungen zufolge habe Macron am 13. Juli 2018 ein ganzes Paket von Steuern erlassen (zu denen im Übrigen auch die Mineralölsteuer gehört), die alle direkt mit dem aktuellen europäischen Hochrüstungskurs zusammenhängen sollen. Ob Chossudovsky damit richtig liegt? Das mag der Leser entscheiden.

Ein zweites Beispiel: Im Rubikon-Magazin spekuliert der Autor Aaron Rosenbaum, dass der Aachener Vertrag vom 22. Januar 2019, der von Macron und Merkel unterzeichnet wurde, der massiven Militarisierung eines "deutsch-französischen Superstaats" diene und darüber hinaus ermöglichen soll, dass künftig "die Bundeswehr Proteste französischer Bürger niederschlägt". Was ist davon zu halten?

Auch wenn sich die Gelbwesten-Szene gegenwärtig rückläufig entwickelt, sind die dahinterstehenden schwerwiegenden Konflikte in keiner Weise beigelegt. Auf die "nuit debout"-Szene im Jahr 2016 folgten Ende 2018 die Gilets jaunes. Können wir in naher Zukunft mit den "Gilets jaunes reloaded" rechnen?

Als gedanklichen Ausblick möchte ich die Überlegungen eines Internet-Bloggers zu den Gelbwesten an den Schluss stellen, die die Wochenzeitung "der Freitag" publiziert hat: "Der Aufstand [der Gilets jaunes] ist die hilflose Reaktion der Unterworfenen auf den untergangsgeprägten Neoliberalismus. Alles zusammen ist eine sich steigernde Komplexität des Chaos', das weiter in den Untergang führt, und damit zu dem kommenden Wandel des Systems, den keiner vorhersehen kann. Politisch geht nichts mehr und wir sollten alle froh sein, wenn wir es schaffen würden, ohne einen irren Krieg, an dem man schon feste arbeitet, durch den Untergang zu kommen."