Was lehrt der russische Angriffskrieg über uns selbst?
Zum drohenden Rückfall in ein fatales Staatsverständnis – anlässlich des jüngsten Desasters der Macht (Teil 1)
Wie sehr bewundern doch die Menschen sich selbst – auch für das, was Andere geleistet haben! Sie reden voller Selbstbewusstsein davon, was "der Mensch" alles vermag – und profitieren auf diese Weise von ihrer besonders in technischer Hinsicht erstaunlichen Gattung auch dann, wenn sie an jeweils bewunderten Leistungen selbst gar keinen Anteil haben.
Sind sie ungeachtet ihrer unübersehbaren Pluralität nicht alle irgendwie der Mensch, um an seinem vermeintlich mächtigen Wesen teilzuhaben? Seit er aufrecht zu gehen lernte und sesshaft wurde, hat er mit immer neuen Erfindungen immer wieder sich selbst überboten.
Kündigte sich in der Geschichte des Menschen nicht seit jeher der "Übermensch" an, der sich selbst wie auch die Erde hinter sich lassen sollte, auf die die Astronauten mit jenem weltberühmten Bild "Earth rise" (des Erdaufgangs über dem Mond) bereits einen ersten letzten, melancholischen Blick zurückgeworfen zu haben scheinen? Ahnt man nicht seither, dass der Mensch seinen Heimatplaneten eines Tages verlassen wird?
Längst kann er zum Mond fliegen, plant dort neue Kolonien mit der Aussicht auf enorme Bodenschätze und erwägt längst auch schon Aufbrüche in kosmologisches Neuland, wohin man womöglich eines Tages emigrieren muss, wenn die Erde infolge selbstdestruktiver Misswirtschaft unbewohnbar geworden sein wird.
Dass inzwischen schon zahlreiche Erdumlaufbahnen mit Weltraumschrott vermüllt zu sein scheinen, spricht allerdings dafür, dass man erneut, sogar auf höchstem technologischen Niveau, uralte Fehler macht, die sich auch auf dem Mond, auf dem Mars und überall selbst in noch weiterer Ferne bemerkbar machen werden, wenn der Mensch auf seinen Fahrten ins Weltall sich selbst mitnimmt, ohne sich grundlegend geändert zu haben. Was immer er an Neuem erkunden, erschließen und hervorbringen wird, es garantiert keineswegs, dass er sich selbst zu einem neuen und womöglich besseren Menschen wandeln wird.
Viel spricht für das genaue Gegenteil: Je mehr Innovation, je mehr Beschleunigung in Richtung auf revolutionär Neues, die ihrerseits bereits normal zu werden beginnt, desto rigider machen sich Kräfte der Beharrung in einem verbissen verteidigten Selbstsein bemerkbar – so als wollte der Mensch alles daran setzen, trotz allem ganz der alte zu bleiben...
Der Mensch taucht tief in lebensfeindliche Räume, die für ihn nicht vorgesehen waren, und er dringt forschend in die Mikrostruktur der langlebigsten Wesen vor, die die Erdgeschichte bislang hervorgebracht hat: in die DNS von Viren, mit deren permanenten Mutationen er glaubt, Schritt halten zu können, um sich gegen sie zu verteidigen.
Weltweit arbeiten dankenswerterweise weit über 100 Teams von Biologen und Medizinern daran. Und tatsächlich haben sie es in ihren hochspezialisierten Labors geschafft, uns in kürzester Zeit zumindest bis auf weiteres vor einer Pandemie zu bewahren, die wieder derart letal ausfallen könnte wie einst die Ausbreitung der Pocken in Mittel- und Südamerika, die Pest von London und die Spanische Grippe mit zig Millionen Toten.
Biotechnologische Forschung auf diesem Niveau ist gewiss Grund zur Bewunderung. Aber sie ist die Angelegenheit von vergleichsweise wenigen Spezialisten, die es selbst in Verbindung mit einer aufgeklärten Bio-Politik und bestem Wissenschaftsjournalismus, der die Forschung für eine informierte Öffentlichkeit im Rahmen des Möglichen verständlich macht, nicht verhindern kann, dass in zahlreichen Gegenöffentlichkeiten eine Ignoranz ins Kraut schießt, in der man sich beharrlich gegen jegliche Innovation sperrt.
Gegen jede, bis auf die der digitalen Medien, sofern sie der Manifestation vor allem eigener "Meinungen", "Standpunkte" und "Überzeugungen" dienen, durch die die Betreffenden ihrem jeweiligen Selbst zur Geltung verhelfen können, dem es offenbar in erster Linie darum geht, ganz es selbst zu bleiben.
So dienen neue Technologien nicht der Selbstüberwindung auf dem Weg zu einem neuen Menschen, dessen nahe Zukunft schon so viele prophezeit haben, sondern der Verteidigung des Rechts, auf jeden Fall ganz "man selbst" zu bleiben.
Der Mensch mag in seiner Forschung unerhört weit vorgedrungen sein und noch viel weiter vordringen können, als man es sich jetzt vorstellen kann. Aber praktisch haben wir es mit einer höchst unübersichtlichen Pluralität von Menschen zu tun, von denen viele offenbar überhaupt kein Interesse am vermeintlich höchsten Entwicklungsstand haben, den man der Menschheit zuschreibt.
Starke Anhaltspunkte liegen im Gegenteil dafür vor, dass sie nur an der Behauptung ihrer wo auch immer hergeholten "Meinungen", "Standpunkte" und durch wenig bis nichts fundierten "Überzeugungen" – laut Nietzsche die "oft gefährlichsten Feinde der Wahrheit" – interessiert sind.
Bei maximal abgesenkter Schwelle der Veröffentlichung von allem und jedem, die in den sogenannten sozialen Medien überhaupt keinem Qualitätsstandard genügen muss, triumphiert die Selbstgerechtigkeit derer, die behaupten, auf ihre ganz eigene Weise über alles Mögliche Bescheid zu wissen. So kursieren die abenteuerlichsten Theorien, finden unerhörte Verbreitung und erfahren auf virtuellen und digitalen Wegen eine Selbstverstärkung, mit der kein Korrekturverfahren mithalten kann.
Man könnte meinen, so würde auch hier wiederum vor allem Müll produziert, diesmal allerdings kommunikativer, der ohnehin keine Zukunft habe. Folglich werde er sich wie von selbst erledigen. Infolge bekannt gewordener Manipulationen von Wahlen haben wir uns jedoch längst eines Besseren bzw. Schlechteren belehren lassen müssen.
Die Anteile um die Validität ihrer "Meinungen", "Standpunkte" und "Überzeugungen" offenbar weitgehend unbesorgten, insofern teils kommunikativ verwahrlosten, teils zugleich manipulierbaren Teilöffentlichkeiten sind allemal groß genug, um ein ganzes politisches System wie das der USA ins Wanken zu bringen.
Zugleich erscheint die Kontrollierbarkeit digital vermittelter Kommunikation durch Instanzen wie die NSA sowie durch russische und chinesische Pendants derart weit vorangeschritten zu sein, dass Millionen von Zeitgenossen der festen Überzeugung sein können, selbst große Kriege ihrer eigenen Gegenwart, die staatlicherseits rigoroser semantischer Kontrolle unterworfen sind, existierten schlicht nicht. Ihnen kann man im Ernst das Verbrechen eines Angriffskrieges, wie es seit dem Briand-Kellogg-Pakt von 1928 als international geächtet gilt, als pazifizierende "Sonderaktion" verkaufen.
So macht man aus "brüderlichen" Nachbarn, denen man eben erst das historische, ohnehin durch unzählige Opfer erkaufte Existenzrecht einer Nation abgesprochen hat, "Faschisten" und "Nazis", denen man durch Mord und Totschlag beibringt, was ein "Reich" ist, dessen historische "Größe" man beschwört – als ob nicht alle Nachbarschaftsverhältnisse durch derartiges neoimperiales Vorgehen für unabsehbare Zeit durch einen radikalen Vertrauensverlust ruiniert werden müssten.
All dies kann man offenbar sehr effektiv umdefinieren und kommunikativ derart kontrollieren, dass es Millionen verblendeter Zeitgenossen nicht mehr mit derselben Realität zu tun haben wie die Opfer derartiger Machenschaften, über deren verstümmelte Leichen die Zukunft Russlands gehen soll.
Selbst wenn der Herr Putin, von dem hier die Rede ist, eines nicht so fernen Tages als primär Verantwortlicher aus seinem Amt unsanft entfernt werden sollte, werden die Folgen dieser kommunikativen Verwerfungen noch Jahrzehnte zu spüren sein und die europäischen Verhältnisse vergiften. (Von derartigen Folgen könnten wir eingedenk der eigenen Geschichte selbst ein Lied singen.)
Wie Mr. Trump in den USA, so wird auch Herr Putin in Russland jeglicher validierten Realität zum Trotz weiterhin seine Anhänger haben, mit denen praktisch keine Verständigung mehr möglich zu sein scheint. Wer derartiges Lügen, wie im Falle Trumps, oder ein derartiges Verbrechen, wie im Falle Putins, noch im Geringsten beschönigt oder gar rechtfertigt, mit dem kann man "nichts mehr gemeinsam haben", wie es sprichwörtlich heißt.
So beschwört neoimperiale Macht, weit entfernt, sich nur wie zu Carl Schmitts Zeiten privilegierte "Einflusszonen" zu sichern und sie dem Zugriff "raumfremder Mächte" zu entziehen, um in ihnen ganz nach eigenem Belieben schalten und walten zu können1, tiefste Spaltungen herauf, die die Überlebenden nötigen werden, eines Tages wieder ganz von vorn anzufangen, um mit früheren Nachbarn wieder ins Gespräch zu kommen, das diese vernichtende Politik jetzt allerdings als gänzlich sinnlos erscheinen lässt.
Genau deshalb muss Russlands Ansehen als auf lange Sicht zerstörtes gelten – allen lobenswerten Versuchen zum Trotz, gerade jetzt im Westen an ein anderes, besseres Russland und an alles zu erinnern, was wir ihm zu verdanken haben, von Leo Tolstoj und Fjodor Dostojewski über Sergej Rachmaninoff und Dimitri Schostakowitsch bis hin zu Andrej D. Sacharov, Anna S. Politkowskaja und Marina Owsjannikowas mutigem Auftritt in den russischen Hauptnachrichten vom 15. 3. 2022 (von der Niederwerfung der deutschen Wehrmacht durch die Rote Armee einmal ganz abgesehen).
Wer allen Ernstes glaubt, diesen maroden, kleptokratisch, oligarchisch und geheimdienstlich beherrschten, um seine ganze zivilgesellschaftliche Substanz gebrachten Staat2 als "Reich" um diesen Preis wiederauferstehen lassen zu können, muss imperiale Macht allein auf der Basis von Einschüchterung für möglich halten, die vor brutalsten Konsequenzen nicht zurückschreckt.
Allen wissenschaftlichen und technologischen Fortschritten zum Trotz, die man sich auch in Russland seit der Wasserstoffbombe, dem Sputnik-Sateliten und Juri Gagarin gerne zugute hält: Das ist das ungeachtet ihrer technologischen Hochrüstung archaische Niveau einer Politik, die infolge der Entscheidungen eines einzelnen alles zerstören kann:
Aufgrund nuklearer Optionen und ihrer Unberechenbarkeit wirklich alles menschliche Leben auf der Erde. Das ist der Stand der Dinge in Sachen Macht, Gewalt und deren Kontrolle: Wir alle haben nichts erreicht, wenn dies möglich ist.
Alle Hochtechnologie, Befriedung und Verrechtlichung, jeglicher Wohlstand und alle Kultur, die man genossen haben mag, erscheinen jetzt als bloßes Zwischenspiel. Regressionen, die die Opfer kollektiver Gewalt wie jetzt im Osten der Ukraine auf allen Seiten mangels sauberen Wassers, ausreichender Nahrung und leidlich bewohnbaren Obdachs fast auf steinzeitliches Niveau zurückwerfen können, drohen im Prinzip jederzeit.
Wie weit auch immer der Westen auf dem Weg der Pazifizierung wenigstens seiner inneren Verhältnisse vorangekommen zu sein meinte, er sieht sich nun, so scheint es, mit der nackten Wahrheit einer nach wie vor nicht gezähmten und vielleicht niemals zu zähmenden Macht konfrontiert, die infolge der Entscheidungen eines einzelnen alles wieder zu ruinieren droht.
Bilden diejenigen, die sich nicht selten im Spiegel spektakulärer technologischer Fortschritte darin gefallen, sich wie "der Mensch" als Spitze aller bisherigen Geschichte zu begreifen, nur eine verächtliche Spezies, die die Quellen einer Selbstdestruktivität nicht erkennt, durch die alles in Schutt und Asche zu versinken droht? Erkennen sie sie jedenfalls nicht rechtzeitig genug, so dass man sich vor ihrer Ignoranz ebenso fürchten muss und sich in Abgeschiedenheit vor ihr in Acht nehmen sollte, falls möglich?
Dafür, dass wir es nach wie vor nicht mit einer Macht aufnehmen können, deren Dynamik in erster Linie als diese Quelle in Betracht kommt, sprechen viele Attribute, die man allgemein menschlicher Macht beigesellt hat, um deren Apologeten, allen voran Niccolò Machiavelli, Francis Bacon und Friedrich Nietzsche, zu widersprechen. Fjodor Dostojewski galt sie als geradezu "fürchterlich", Jacob Burckhardt als schlechterdings "böse", Max Weber, Friedrich Meinecke und Gerhard Ritter als abgrundtief "dämonisch", Lord Acton als durch und durch "korrupt"; und Barbara Tuchmann galt sie wie schon Lukrez schlicht als unbelehrbar "dumm" und "töricht".
Vielleicht hat sie in jedem einzelnen Fall ihrer Ausübung auch von all dem etwas. Aber gibt es "die" Macht überhaupt? Kommen wir praktisch ohne Macht überhaupt je aus, wo es auf menschliches Vermögen und Können ankommt? Wären wir, wenn wir in Anbetracht solcher Attribute auf Macht verzichten wollten, nicht einfach machtlos, unvermögend, unfähig – nichts also, womit sich irgendetwas Positives verbinden ließe?
Muss man andererseits nicht jeglicher Macht zu entsagen versuchen, wenn es stimmt, dass ihr eine höchst gefährliche Dynamik innewohnt, ohne die sie anscheinend von Anfang an gar nicht zu haben ist?
Der Mensch, lehrte Nietzsche, sei in seinem "Willen zur Macht" nicht nur darauf aus, jeweils an der Macht zu bleiben; Macht selbst ziele vielmehr auf immer mehr Macht ab; darin liege das eigentliche "Machten der Macht", suggerierte ergänzend Heidegger. So konnte der Eindruck entstehen, nicht wir hätten Macht; vielmehr hätte die Macht uns und wir seien ihr im Grunde machtlos ausgeliefert.
Um zu einem solchen Schluss zu kommen, braucht man keine schwarze Anthropologie zu bemühen, aus der hervorgehen würde, dass im Grunde alle Menschen aus tiefstem Herzen nach Macht und immer mehr Macht streben. Denn "den" Menschen gibt es gar nicht, wie schon Hannah Arendt feststellte; es gibt nur – höchst verschieden veranlagte – Menschen.
Bis heute steht uns keine Anthropologie zur Verfügung, der zu entnehmen wäre, was es mit dem Wesen des Menschen ungeachtet dieser Verschiedenheit auf sich hat. Was wir sehen, ist, dass zumindest einige offenbar auf alle erdenklichen Arten und Weisen ihr Unwesen treiben können, vielfach, ohne dass irgendjemand oder irgendetwas sie wirksam daran hindern könnte.
Und um Gewalt im großen Stil zu entfesseln, dazu bedarf es lediglich der Macht sehr weniger Subjekte, die zahllose Andere für sich mobilisieren, kämpfen lassen und schließlich in den Tod schicken können. Sicher müssen sie sich dabei auf etablierte Machtstrukturen wie eine staatstragende Partei, eine passende Legitimation, eine willfährige Bürokratie und Justiz, eine befehlsbereite, widerspruchslose Militärmaschinerie und Logistik stützen, ohne die sie buchstäblich machtlos wären.
Aber wenn diese einzelnen wie jetzt Wladimir Putin, Aljaksandr Lukaschenko, Xi Jinping und wie sie alle heißen einmal an die richtige Stelle vorgerückt sind, können sie mit minimalem Aufwand alle zur Verfügung stehenden Gewaltpotenziale entfesseln und Anderen das Gesetz geben, sich nach den schlimmsten Erwartungen richten zu müssen, die man in Bezug auf sie selbst hegen muss. In Carl von Clausewitz' Kriegstheorie lässt sich dieses Gesetz nachlesen.
So kommt das vor Jahrzehnten bereits von Paul Ricœur herausgestellte "Paradox des Politischen" wiederum brutal zum Vorschein, demgemäß alle politischen Strukturen, die man zur Einhegung und Bändigung von Macht und Gewalt eingerichtet hat, auch potenzierter Entfesselung von Gewalt dienen können.
Das gilt bis heute unverändert für den Staat, dessen derart ambivalente Macht zum Gefährlichsten gehört, was Menschen hervorgebracht haben. Fatalerweise genügt es, wenn ein Staat erwarten lässt, dass er zu allen Mitteln greifen wird, um sich durchzusetzen, dass alle anderen in Betracht ziehen müssen, es ihm in dieser Hinsicht gleich zu tun. Putins unverholene Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen, ob als Bluff gemeint oder nicht, hatte genau diese Folge.
Alle fragen und verlangen nun wieder nach dem "starken", "wehrhaften" und "resilienten" Staat mit einer "schlagkräftigen" Armee. Aber man versäumt es allzu oft, dabei mitzubedenken, worin eigentlich die Stärke eines Staates liegt – abgesehen von klassischen Antworten, die sich wie eine unanfechtbare Evidenz aufdrängen:
Stark ist der souveräne, der sich selbst genügende, im Innern und in seinen äußeren Verhältnissen mit ausreichenden Gewaltpotenzialen ausgestattete Staat.
Stark ist darüber hinaus der Staat, der sich gegebenenfalls mit der Unterstützung anderer Ressourcen und Absatzmärkte sichern kann; und dies wiederum so, dass bei Bedarf auch Gewalt zum Einsatz kommen kann, um die eigenen sogenannten Interessen zu wahren, die ein Staat qua Staat unvermeidlich hat, wie ein dogmatischer politischer Realismus lehrt, der sich in der aktuellen internationalen Krise im Grunde bestätigt sieht in seiner Einschätzung dessen, wie Staaten mit ihren Interessen und Einflusssphären funktionieren. Heute nicht wesentlich anders als früher.
Folgen wir dem Dogmatismus dieses Realismus, so muss es vorläufig und vielleicht endgültig dabei bleiben: Macht ist unser Schicksal, wie man so oft schon resigniert festgestellt hat – nicht die Macht, die jede(r) mehr oder weniger hat oder anstreben mag, sondern die Macht einiger weniger, die, wenn sie an die richtige Stelle gelangen, beliebige Gewaltpotenziale in der Hand haben und glaubwürdig damit drohen können, sie auch gegen jede(n) einzusetzen, ganz gleich, ob sie das jegliches Vertrauen und alles Ansehen kosten wird, das sie ihrem Staat, Reich oder Imperium zu verschaffen suchen. Warum nur?
Um allseits geehrt in die Geschichte ihres Landes einzugehen wie Peter I., Katharina d. Gr. oder Alexander II.? Wird Herr Xi Jinping nach der gleichen Logik Taiwan überfallen, weil er nunmehr deutlich sieht, wie wehrlos der Westen ist, solange man mit hybriden Kriegsmitteln dicht unterhalb der nuklearen Schwelle bleibt? Treibt Xi eine ökologisch ungeheuer destruktive staatskapitalistische Ökonomie voran, um China so groß und mächtig wie nur möglich werden zu lassen?
Sind Größe und Macht auch nur im Geringsten als autotelische Begriffe verständlich? Was soll Größe um der schieren Größe, Macht um der schieren Macht willen – die sich doch nie selbst genug sein kann, zumal wenn sie nach ihrer eigenen paranoiden Logik bei Tag und bei Nacht fürchten muss, von fremder Macht überholt zu werden?
Im zweiten, unmittelbar folgenden Teil meines Beitrags wird zu zeigen sein, dass es sich hier um Formeln einer Dynamik handelt, die an sich selbst irre werden muss. Deshalb sollten wir uns von niemandem einreden lassen, es sei nur realistisch, sich unter dem Druck von Russlands vermeintlicher Stärke auf genau diesen Begriff wieder zurückzubesinnen, ohne dass man ihn energisch zu revidieren hätte.